Wie rechte Christen Kirche und Gesellschaft unterwandern

Deutsches Pfarrblatt, Januar 2020

Zwei von drei Jugendlichen finden Glauben unwichtig

von Kurt-Helmuth Eimuth 18. November 2019

Dass Jugendliche sich vom Glauben entfernen, liegt vor allem daran, dass in den Familien keine religiösen Traditionen mehr gepflegt werden. Die Kirche kann das nicht kompensieren.

Laut aktueller Shell-Studie sinkt die religiöse Bindung von  Jugendlichen in Deutschland rapide. | Foto: Alexis Brown / unsplash.com
Laut aktueller Shell-Studie sinkt die religiöse Bindung von Jugendlichen in Deutschland rapide. | Foto: Alexis Brown / unsplash.com

Laut der jüngsten Shell-Studie hat der Glaube sowohl für katholische wie auch für evangelische Jugendliche erheblich an Bedeutung verloren. Nur noch 39 Prozent der katholischen und 24 Prozent der evangelischen Jugendlichen sagen, dass ihnen der Glaube wichtig sei. Das lässt befürchten, dass sich der Trend zu immer mehr Kirchenaustritten von Menschen in der Familiengründungsphase weiter verstärken wird. Bereits jetzt tritt etwa ein Viertel aller Getauften im Alter zwischen 25 und 35 Jahren aus der Kirche aus.

Muslimische Jugendliche hingegen sagen zu 73 Prozent, dass ihnen der Gottesglaube wichtig sei. Allerdings ist in ihrem Fall die Religion häufig eingebunden in die Kultur des Herkunftlandes ihrer Eltern und Großeltern und wird nicht mit einer ihnen fremd gewordenen Institution wie der Kirche in Verbindung gebracht. Eine Studie der Tübinger Universität kommt tatsächlich zu einem differenzierteren Bild. Danach beten auch drei von vier christlichen Jugendlichen, sie verstehen das aber als eine lediglich individuelle Praxis.

Frankfurts Stadtjugendpfarrer Christian Schulte sieht als zentrale Ursache für die Distanziertheit der Jugendlichen zum Glauben den Traditionsabbruch, vor allem bei jungen Familien. „Wenn es nicht mehr selbstverständlich ist, zu Hause zu beten, wird dieser Wunsch auch in den Kindern und Jugendlichen nicht Raum greifen können.“ Es fehle häufig an Sprachfähigkeit in Glaubensdingen. Deshalb will Schulte den Glauben für Jugendliche wieder erlebbar machen, zum Beispiel mit Projekten wie dem Konficamp, wo alle Konfirmandinnen und Konfirmanden aus Frankfurt für einige Tage gemeinsam wegfahren.

Das Evangelische Jugendwerk Hessen (EJW) bemängelt, dass die Angebote der Kirche für Jugendliche oft nicht relevant seien. „Jugendliche gehen nicht freiwillig in normale Gottesdienste.“ Es brauche mehr anschauliche, humorvolle und alltagstaugliche Formate sowie Personen, die Glaubensinhalte mit Inhalten vermitteln, die eine direkte Relevanz für das Leben junger Menschen haben – „sozusagen Glaubens-Influenzer“.

Das Ansehen der Kirche wird laut Shell-Studie von der Mehrheit der Jugendlichen immer noch positiv bewertet. Aber Glaube verbreitet sich nicht durch „die Kirche“, sondern vor allem durch persönliche Begegnungen. Es ist fast unmöglich, abgebrochene Familientraditionen zu ersetzen. Vor allem Großeltern spielen eine wichtige Rolle, wenn sie mit Kindern beten oder ihnen Geschichten aus der Bibel erzählen. Genau diese Tradition ist aber bereits seit zwei Generationen abgerissen. Die Kirche kann diesen Ausfall der Familie als religiöse Sozialisationsinstanz nicht kompensieren. Sie erreicht ja ohnehin nur die, die über Kindergärten oder Jugendgruppen überhaupt mit ihr in Kontakt kommen.

Angehörige erzählen: Marion und Kurt-Helmuth Eimuth

Von Constanze Angermann

Kurt-Helmuth Eimuth und Frau Marion : Theme Pflege mit Constanze Angermann

Wir werden freundlich, aber bestimmt empfangen. Keinen Schritt dürfen wir in die gemütliche, lichtdurchflutete Wohnung machen, ohne uns vorher die Hände desinfiziert zu haben. Direkt neben der Eingangstür steht eine kleine grüne Flasche, die allen Besuchern in die Hand gedrückt wird. Marion Eimuth beobachtet das Ritual vom Wohnzimmer aus und gibt einem erst dann die Hand. Und dann nimmt sie auch die Blumen. Er holt noch Wasser – für uns und für die Blumen –, und dann setzen wir uns an den Tisch.

Die Bilder lassen ihn nicht los. Wie seine Frau, schon benommen, noch versucht, aufrecht zu gehen, bis zum Krankenhaus. Wie sie die lange Fahrt inklusive Irrweg des Taxifahrers noch durchhält, bis sie dann, als sie das Krankenhaus endlich erreicht haben und längst ahnen, dass etwas Schlimmes passiert ist, im Flur an der Anmeldung zusammenbricht. Sie kann sich nicht daran erinnern, auch nicht an die Angst. Aber ihm steckt das in den Knochen. „Sie war bewusstlos, sie war weg.“

Das, was er erlebt hat, war auch Antrieb: Ein Dreivierteljahr hatte er, um alleine ihr zukünftiges Leben zu organisieren. „Hätten die mich in der Reha gefragt, ob sie noch zwei Wochen bleiben soll, hätte ich auch nicht nein gesagt.“ Er wollte vorbereitet sein. Auf die Aufgabe, die er seitdem hat. „Das wird immer unterschätzt. Das ist ein Fulltime-Job. Den ganzen Tag sind Sie in Sorge und damit beschäftigt, das alles irgendwie hinzukriegen. Da kommt der Beruf – und alles andere – erst an zweiter Stelle. Und das funktioniert nicht. Das setzt einen unter Druck.“ Morgens tut es inzwischen beiden gut, immer zur gleichen Zeit aufzustehen, damit sie vor seiner Arbeit alles schaffen. Zwei Stunden brauchen sie für Waschen, Anziehen, Frühstück. Denn sie kann nichts mehr alleine machen.

Ein Schlaganfall. „Erst als ich Stroke Unit gelesen habe, wusste ich, was passiert ist.“ Ein schwerer Schlaganfall, der ihr fast alles nahm. Sie konnte nicht mehr sprechen, sie konnte sich nicht mehr bewegen, sie konnte nicht mehr schlucken. Allein das wieder zu lernen hat drei Monate gedauert. Und war so wichtig, da die künstliche Ernährung eine Belastung für den Körper ist, sorgfältig gemacht werden muss, da sie sonst Entzündungen hervorruft. Nicht jeder kann da so nachfragen – wie er. Und so viel lernen – wie sie. Nach einem halben Jahr brachte sie wieder einen Ton heraus.

Heute räuspert sie sich, lacht, stöhnt, singt und sagt Ja in 150 verschiedenen Variationen. Nein aber auch. „Sie glauben nicht, wie ein Nein moduliert werden kann! Sie kann auch schimpfen!“ Erzählt er mit einer Mischung aus Freude und Bedauern. Alle Jas und Neins werden begleitet von einer ihnen eigen gewordenen Gebärdensprache. Und in der ist kein Platz für einen falschen Ton. Sie sind einander ehrlich zugetan, das ist der wertvollste Teil der Pflege. Trotz ihrer Einschränkung schaut er nicht auf sie herab, sondern ihr in die Augen. Auch oder gerade, wenn sie Nein sagt. Es geht vom gehauchten und gelächelten Nein bis zum deutlichen und nachdrücklichen. Aber niemals ist es scharf. Ihr Nachdruck ist leise geworden. „Sie glauben doch nicht, dass wenn Besuch kommt und sie einen Fussel entdeckt, dass der da liegen bleiben kann. Der muss weg. Und das muss dann sofort passieren.“ Und beide lachen.

Sie könnten auch weinen. „Das Leben ist einfach so. Es gibt keinen strafenden Gott, der uns das angetan hat. Das ist nicht unsere Vorstellung.“ Deshalb fragen sie sich auch nicht, warum ihnen das passiert ist. „Klar könnte man fragen, warum wir. Aber man könnte auch fragen, warum nicht wir. Probleme muss man lösen. Ich habe immer so gearbeitet, da mache ich das hier genauso.“ Also löst er ein Problem nach dem anderen. Und es sind genug.

„Die erste Frage in der Reha war: ‚Ist eine Heimunterbringung geplant?‘ Da haben meine Tochter und ich wie aus einem Munde Nein gesagt. Nein, wir wollten nicht, dass sie ins Heim kommt. Aber wir wussten auch nicht, wie es wird. Und wissen es auch jetzt noch nicht.“ Sie mussten ausziehen aus ihrer großen Wohnung, in der sie zu viert und zu dritt gelebt hatten. In eine Wohnung mit Aufzug. Der ist klein. Da passt Marion Eimuth gerade mit ihrem Rollstuhl rein. Sonst nichts. „Zwei Wochen, bevor wir hier eingezogen sind, haben wir erst mal probiert, ob das überhaupt geht. Denn sonst hätten wir in diese Wohnung nicht einziehen können.“ Da die Wohnung aber nicht behindertengerecht gebaut war, mussten sie das Bad umbauen. Die Pflege beantragen, mit Verwandten sprechen, ob sie nach ihr schauen, wenn er arbeitet, Windelgeld beantragen, einen Rollstuhl. „Das sind alles verschiedene Adressen. Das macht nicht der Arzt, der sie kennt. Sondern andere Stellen, die dann aber wieder an den Arzt verweisen, da es ein Rezept, eine Verordnung sein muss. Der weiß doch gar nicht, was er im Laufe der Jahre alles verordnet hat.“ Ein Stehpult beantragen, an dem sie mit Mühe eine halbe Stunde am Tag steht, damit die Organe sich mal ausbreiten können. Denn sie werden durch das Sitzen dauernd gequetscht.

Die Krankengymnastik beantragen. Die Krankenkasse hat nun geschrieben, dass es medizinisch gesehen keinen Grund gebe, die Gymnastik weiterhin drei Mal die Woche zu finanzieren. Dabei lernt seine Frau, in kleinen Schritten, immer mehr zu bewegen. Sie bekommt wieder Kraft. Es gibt ein Gutachten dazu. Die Krankenkasse interessiert sich nicht dafür. „Wir bewegen uns hier in Absurdistan. – Also Anwalt“, sagt er. Und zuckt mit den Schultern. Sozialgericht. „Aber das dauert anderthalb Jahre, bis Sie da ein Urteil haben.“ Bis dahin bezahlt er die Krankengymnastik von seinem eigenen Geld, da er sieht, wie gut das seiner Frau tut. „Aber wer kann das schon?! Wir haben beide gute Jobs, meine Frau ist Kirchenbeamtin. Ich klemme mich dahinter, wir bekommen fast alles. Aber wer kann das denn sonst so machen? Sich auseinandersetzen mit Leuten, die eine ganz andere Sprache sprechen. Da immer wieder nachhaken.“ Nerven.

Er tut das. Und kämpft so auch gegen die Ohnmacht der erschöpften Pflegenden. „Krankheit macht arm. Sie haben ja Kosten. Für den Rollstuhl das Zusatzrad. Damit Sie in Frankfurt über das Kopfsteinpflaster fahren können. Ich möchte wirklich mal, dass der gesamte Frankfurter Magistrat mit dem Rollstuhl über den gepflasterten Römer fährt. Das halten Sie keine fünf Minuten aus. Warum macht man da keinen glatt asphaltierten Weg? Woanders gibt’s das. Da benutzen den die Radfahrer“, sagt er trocken. „Wenn es neu gemacht wird, hat man manchmal die Chance. Aber da muss man schon laut schreien, sich deutlich bemerkbar machen. Was denken die sich eigentlich dabei?“ Auch da kämpft er, und man fragt sich, woher er die Kraft dafür nimmt.

Natürlich gibt es schwere Tage. Aber die haben sie eigentlich nicht miteinander. Sondern nur wenn Kurt-Helmuth Eimuth einen Termin hat, weg muss und irgendwas von den vielen kleinen Dingen nicht so klappt – dann gerät er unter Druck. Der baut sich nicht so leicht wieder ab. Denn er ist ja eingebunden. In seine Arbeit. Er plant die evangelischen Kitas in Frankfurt. Noch ein Jahr, dann geht er in Rente. Bis dahin will er noch ein Buch fertig schreiben. Aber auch wenn er im Ruhestand ist, wird er arbeiten, etwas gestalten. „Nur pflegen, das könnte ich mir nicht vorstellen.“ Das will auch seine Frau nicht. Sie ist einerseits froh um die vielen Leute, die sich um sie kümmern. Andererseits furchtbar erschöpft. Denn jeder Mensch ist ein Reiz, jede Frage, die ihr gestellt wird, jedes Wort, das an sie gerichtet wird. Und jedes Wort, nach dem sie sucht.

Kurt-Helmuth Eimuth und Frau Marion : Theme Pflege mit Constanze Angermann

Die Logopädin kommt vier Mal die Woche; er schleppt eine Liste mit Wörtern an, die sie gerade lernt. Sie weiß, wie leicht es ist, sie auszusprechen; deshalb ist es so schwer für sie zu ertragen, dass sie es nicht kann. Denn sie muss jedes einzelne wieder lernen. Sie hat es auf der Zunge, aber sie findet den ersten Buchstaben nicht. Er gibt ihn ihr. Und dann klappt es: „Käse, Wein, Banane.“ Und – sehr deutlich: „… zum Zeitpunkt der …“ – „Das ist ein Platzhalter“, erklärt er. „Wenn sie etwas will und ich noch nicht das Richtige gesagt habe …“ Er rät sich durch die möglichen Antworten durch. Bis sie mit einem Leuchten in den Augen bejaht, weil er das Richtige getroffen hat. Sie hat alles im Kopf und arbeitet daran, es auch über die Zunge und die Lippen zu bekommen. „Und sie schafft das. Die Frau ist ehrgeizig!“ Man hört den Stolz in seiner Stimme. „Meine Tochter ist übrigens viel besser im Raten!“ Sie nickt, ein Lächeln schleicht sich in ihre Augen. Wenn die Tochter da ist, die wegen der Gesundheit in Kiel lebt, dann geht das den ganzen Tag so. Aber sie ist auch völlig fertig danach. „Das ist anstrengend, wirklich anstrengend für sie, aber eben auch schön.“ Ihre Tochter vermisst sie, um sie macht sie sich Sorgen. „Wenn wir nicht mehr sind …“ Das sieht man Marion Eimuth an; das muss sie gar nicht sagen. „Aber“, sagt er, „meine Tochter ist 36. Sie hat sich ihr Leben organisiert, selbst wenn auch sie ein nicht ganz einfaches hat. Die kann das. Und ich kann das nicht auch noch. Ich habe hier meine Baustelle.“

Die fordert ihn. Jeden Morgen, jeden Abend. Das gleiche wichtige Ritual, das ihr Leben zusammenhält. Sie haben gemerkt, dass es nur so geht. Den Ausflug mit dem Rollstuhl, die gemeinsame Runde, die gibt es nur am Wochenende. Denn die ist mühsam und kostet Stunden. Manchmal drehen Verwandte oder Freunde die Runde mit ihr. Denn er muss auch noch ihr Elternhaus ausräumen. Seit Generationen hat es der Familie gehört. Das herzugeben tut ihr weh. Aber sie sieht, dass sie nie mehr hinkommt. Und deshalb räumt er es jetzt aus, so wie er damals die große Wohnung leer geräumt hat. Sie musste sich von ihrem Geschirr trennen, er sich von seiner Modelleisenbahn. Denn die neue Wohnung ist nur halb so groß. „Genug Geschirr haben wir aber noch immer.“ Und ein paar Modellhäuschen und Bahnen auch noch. Und viele Bücher. „Meine Frau kauft sie immer, und die anderen lesen sie dann vor.“ Nur ein paar Zeilen schafft sie. Dann legt sie das Buch doch weg. Lesen ist für sie zu anstrengend.

Denn ihr Hirn steht unter Stress. Denn nach dem Schlaganfall bekam sie eine Lungenentzündung. Spät noch, es ging ihr schon deutlich besser, sie machte Fortschritte. Die Ärzte hatten nicht mehr damit gerechnet – und plötzlich die Lungenentzündung, schwere Krämpfe und epileptische Anfälle. Sechs Wochen lag sie im künstlichen Koma. Sechs Wochen lang fragte er sich, ob sie je wieder eigenständig atmen würde. „Atmen ist leben.“

Seither kann sie nicht mehr alleine aus dem Rollstuhl aufstehen. Sie nimmt schwere Antiepileptika, die sie zum Glück gut verträgt. Es war ein Rückschlag für sie – und für ihn. Auch da hadert er nicht. „Es ist keine Prüfung. Es ist einfach so. Man muss es umdrehen. Wir sind beide am Leben. Natürlich ist es nicht ganz einfach, aber wir haben uns drauf eingestellt. Es ist gut so. Alles gut.“ Es ist, als spreche er sich selbst Mut zu. Als sei er seine eigene Kraftzelle. Leise sagt er dann: „Natürlich fehlt mir oft der Schlaf, wenn sie nachts raus muss oder ihr schlecht wird oder schwindlig. Ich komme dann nicht zur Ruhe. Meine Tochter hat Bilder in der Reha gemacht, wie ich neben dem Bett meiner Frau auf dem Stuhl eingeschlafen bin.“ – Was er für sich tut: Fahrrad fahren. Er wollte ihr eine Art Lastenfahrrad für den Rollstuhl kaufen, damit sie mitfahren kann. Das wollte sie nicht. Also macht er das allein. Und lässt sie auch allein. „Eine Stunde oder so.“ Denn wenn das länger geht, wird er unruhig. Wenn sie allein ist – und die Wasserflasche ist leer. Dann kann sie sich kein neues Wasser vom Hahn holen.

Diese Hilflosigkeit mitzudenken, das muss man lernen. Und sich einstellen auf die Bedürfnisse des anderen. Aber die eigenen dabei nicht aus den Augen verlieren. Das ist der Balanceakt. Denn wenn er sich verausgabt, bis zur Erschöpfung, hat auch sie nichts davon. Am Anfang, da hat er den Fehler gemacht. In der Reha war er jeden Vormittag und jeden Nachmittag. „Das hat die Pflege entschieden verbessert. Einmal habe ich mitbekommen, wie der Therapeut, mit dem sie laufen lernen sollte, zur Tür reingeguckt hat und gesehen hat, dass sie noch nicht fertig – noch nicht gewaschen, nicht angezogen – war. Da ist er eben wieder gegangen.“ Also hat er immer drauf geachtet, dass sie versorgt war, damit in der Reha genau das passieren konnte, weshalb sie dort war. „Ich mache denen aber keinen Vorwurf, das ist einkalkuliert. Die sind zu wenig. Ich habe auch gelernt, eine Pflegekraft nicht anzusprechen, wenn die für 40 Patienten die Tabletten sortiert. Das ist hochkomplex. Da müssen Sie sich konzentrieren.“

Das macht er auch. Sich konzentrieren. Auf die Politik. Denn die ist verantwortlich dafür. „So was Aberwitziges wie dieses Pflegesystem habe ich noch nicht gesehen. Es ist vollgestopft mit Spezialwissen und mit Vorschriften, die keiner versteht, verstehen kann. Das System ist darauf angelegt, dass es die wenigsten schaffen, diesen Wust zu durchdringen. Das habe ich aus dem Bundesgesundheitsministerium schriftlich. Wenn wir allen Leuten zahlen würden, worauf sie Anspruch hätten, dann würde das Budget nicht reichen. Das heißt doch, dass die Ausbeutung der Leute eingepreist ist. Nur 20 Prozent bekommen das, was ihnen zusteht. Die, die sich nicht wehren können, die sprachlich nicht so gewandt sind, nicht so versiert im Durchdringen dieser Vorschriften, die fallen hinten runter. Und dabei habenʼs die am nötigsten. Da kann man schon verzweifeln.“ Genau das will er aber nicht. Deshalb nagelt er sie alle fest, die zuständigen Bundestagsabgeordneten im Wahlkampf, die zuständige Abgeordnete für Pflege der SPD-Landtagsfraktion. Sie alle stimmen ihm zu. „Aber keiner macht was. Keiner traut sich ran. Im Koalitionsvertrag steht, dass da was zusammengeführt werden soll. Die häusliche Pflege – die ja dieses System rettet, denn Heimplätze gibt es nicht genug – zu stärken, die Leute zu qualifizieren. Ich würde das machen.. Aber in Frankfurt gibt es das gar nicht.“

Sechs Jahre lang ist noch alles drin – nach einem Schlaganfall. Haben ihm die Ärzte gesagt. Und dass auch ein älteres Hirn lernt. Daran hält er sich fest. Gerade haben sie ihren 65. Geburtstag gefeiert. Mit vielen Freunden. Sie wollte erst nicht, sie musste dazu überredet werden. Dann hat sie den ganzen Tag gestrahlt. Und jetzt hat sie die schöne Erinnerung daran. Es geht weiter. Jeden Tag. Mit ihr, mit ihm und mit ganz vielen anderen, die helfen. Um ein Kind großzuziehen, braucht man ein Dorf. Um jemanden zu pflegen, auch.

Was passieren muss, damit ich weiter gut pflegen kann: „Es muss entbürokratisiert werden. Die Leute brauchen eine Adresse, an die sie sich wenden können, nicht hundert verschiedene Formulare und Ansprechpartner. Und es muss so klar formuliert sein, dass die, die es brauchen, es auch verstehen.“

Das Interview führte Constanze Angermann

Weihnachtsbeleuchtung? Fehlanzeige!

von Kurt-Helmuth Eimuth 26. November 2019

Advent, das heißt eigentlich Lichtervorhänge, Sterne, beleuchtete Kugeln aller Art. Überall soll der festliche Glanz sichtbar sein – bloß nicht in Frankfurt. Das bleibt streckenweise dunkel.

Foto: Karine Germain / Unsplash
Foto: Karine Germain / Unsplash

Ausgerechnet auf der Zeil sucht man Weihnachtsbeleuchtung in diesem Advent vergebens. Und das, obwohl erst vor wenigen Jahren eine neue Beleuchtung angeschafft wurde, für 250.000 Euro. Doch die ist schon wieder kaputt – Lampen defekt, Material brüchig.

Pläne für eine Neubeschaffung konnte der Anlieger-Verein „Neue Zeil“ nicht realisieren. Nein, es lag nicht am Geld. Es war nur irgendwie nicht klar, wer die Verantwortung für ein solches Projekt übernimmt. Ehrlich: So kann der Einzelhandel gegenüber dem Online-Handel nicht punkten.

Aber auch in der Neuen Altstadt sucht man Weihnachtsbeleuchtung vergebens. Der Grund hier: Es gibt keine Straßenlaternen, an denen man sie befestigen könnte. Da müssen beim Planen ja echte Weihnachtsmuffel am Start gewesen sein.

Immerhin lässt Frankfurt drei Mainbrücken illuminieren. Und die Einkaufsstraßen in den Stadtteilen sind ebenfalls festlich beleuchtet. Vielleicht ist es ohnehin die bessere Idee, im Advent dort einzukaufen.

Die Irrationalität der Welt: Schopenhauer im Historischen Museum

von Kurt-Helmuth Eimuth 6. November 2019

Ohne Zweifel ist er ein berühmter Sohn der Stadt Frankfurt: Arthur Schopenhauer wurde jetzt in das biografische Kabinett im Historischen Museum aufgenommen.

Arthur Schopenhauer zu seiner Frankfurter Zeit. Die Fotografie stammt vermutlich aus dem Jahr 1852. | Foto: Wikimedia, gemeinfrei.
Arthur Schopenhauer zu seiner Frankfurter Zeit. Die Fotografie stammt vermutlich aus dem Jahr 1852. | Foto: Wikimedia, gemeinfrei.

Auf sechs Wänden werden im neuen Schopenhauer-Kabinett des Historischen Museums Schlaglichter von Schopenhauers Wirken am Main geworfen. Der Philosoph hatte eine sehr enge Beziehung zu Frankfurt. 1833 wählte er die Stadt aus Angst vor der in Berlin grassierenden Cholera bewusst als Wohnort aus und lobte sie in den höchsten Tönen:

„Gesundes Klima. Schöne Gegend. Abwechslung großer Städte. Besseres Lesezimmer. Das Naturhistorische Museum. Besseres Schauspiel, Oper, Conzerte. Mehr Engländer. Bessere Kaffeehäuser … Die Senckenbergische Bibliothek. Du … hast die Freiheit, dir missliebigen Umhang abzuschneiden und zu meiden. Ein geschickter Zahnarzt. … das Physikalische Kabinett, notierte der damals 45-Jährige.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1860 lebte Schopenhauer in Frankfurt und widmete sich hier der Ergänzung und Verbreitung seines Werks. Sein Grab findet sich auf dem Hauptfriedhof; in der Obermainanlage, nahe dem Rechneigraben, hat man ihm ein Denkmal gesetzt.

Max Horkheimer hat über Schopenhauers Denken gesagt, es sei „unendlich aktuell“. Worin diese Aktualität besteht, erschließt sich dem unbedarften Besucher im Historischen Museum allerdings nicht so ohne weiteres. Man kann aber immerhin den Blick aus seinem Arbeitszimmer nachempfinden, der rekonstruiert wurde.

Der 1788 in Danzig geborene Philosoph stand mit seinem Denken im Widerspruch zu vielen damals vorherrschenden geistigen Strömungen. Waren diese überwiegend vom Glauben an Vernunft und Fortschritt geprägt, entwarf Schopenhauer eine Lehre, die Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik gleichermaßen umfasst. Als einer der ersten Philosophen im deutschsprachigen Raum vertrat er die Überzeugung, dass der Welt ein irrationales Prinzip zugrunde liege. Damit sah er sich jedoch keineswegs im Widerspruch zur Rationalität Immanuel Kants, sondern als dessen Schüler und Vollender.

Mit der Aufnahme in die biografische Bibliothek gibt das Museum nun einen Anstoß sich mit dem Werk Schopenhauers erneut auseinanderzusetzen.

Biografische Bibliothek im Historischen Museum Foto. Kurt-Helmuth Eimuth

Dreißig Jahre Martin-Buber-Stiftungsprofessur: Aktuell wie eh und je

von Kurt-Helmuth Eimuth 1. November 2019

Der jüdische Theologe und Philosoph Martin Buber lehrte von 1924 bis 1933 an der Frankfurter Goethe-Universität. 1989 wurde dort eine nach ihm benannte Professur für Jüdische Religionsphilosophie ins Leben gerufen, gestiftet von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie wird von wechselnden Gelehrten ausgefüllt und soll Studierenden und der interessierten Öffentlichkeit Zugänge zu Geschichte und Gegenwart des Judentums eröffnen.

Martin Buber im Jahr 1963. | Foto: Joop van Bilsen / Anefo - wikimedia.org (cc)
Martin Buber im Jahr 1963. | Foto: Joop van Bilsen / Anefo – wikimedia.org (cc)

„Wenn sie nicht schon da wäre, müsste man sie erfinden“ sagte die gastgebende Dekanin des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität, Catherina Wenzel, bei der akademischen Feier zum 30jährigen Bestehen der Martin-Buber-Stiftungsprofessur. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland sei ihre Errichtung 1989 geradezu „prophetisch“ gewesen.

Der Frankfurter Bürgermeister Uwe Becker erinnerte an den antisemitischen Anschlag auf eine Synagoge und ein Dönerrestaurant in Halle und an die Wahlerfolge der AfD zuletzt in Thüringen. „Wir stehen vor gesellschaftlichen Weichenstellungen“, sagte Becker, der auch Beauftragter der Hessischen Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus ist.

Martin Buber (1878–1965) war ein „dialogischer Denker, Theologe und Erzieher“, so die Urkunde zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1953. Von 1916 bis 1938 lebte er in Heppenheim an der Bergstraße, ab 1924 war er Professor in Frankfurt, trat aber direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland aus Protest zurück. 1938 flüchtete er aus Deutschland und übersiedelte nach Israel, wo er den Rest seines Lebens verbrachte.

In die Frankfurter Periode seines Denkens und Schreibens fallen wesentliche Teile seines Werks, darunter die dialogische Philosophie des „Ich und Du“, seine politischen Überlegungen zum Zionismus und zu Palästina, Forschungen zur Hebräischen Bibel im Kontext der gemeinsam mit Franz Rosenzweig begonnenen „Verdeutschung“ der Schrift, sowie Überlegungen zur Gestaltung jüdischer Bildung. Buber lehrte außerdem ab 1919 am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt.

1989 stiftete die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau die Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität, 2005 übernahm das Land Hessen die Finanzierung. Professor Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden in Deutschland betonte bei der Jubiläumsfeier die Bedeutung der Begegnung mit dem Judentum. In Gesprächen mit Pfarrerinnen und Pfarrern habe er zuweilen den Eindruck gewonnen, dass man offensichtlich christliche Theologie studieren könne „ohne etwas mit dem Judentum anfangen zu können“. Das Thema sei wohl kein integraler Bestandteil des Theologiestudiums.

In seinem Festvortrag hob der derzeitige Inhaber der Professur Christian Wiese das dialogische Prinzip Bubers hervor. Dies habe er auch auf den interreligiösen Dialog angewandt und etwa 1953 geschrieben: „Ein echtes Gespräch ist eins, in dem jeder der Partner den anderen, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz zwar gewiss nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden.“

Inhaberinnen und Inhaber der Martin-Buber-Professur waren bisher Moshe Goshen-Gottstein (Jerusalem), Ithamar Gruenwald (Tel Aviv), Jacob Neusner (Tampa), Stefan Schreiner (Berlin), Susannah Heschel (Cleveland), Abraham Malamat (Jerusalem), Michael Graetz (Jerusalem), Gedaliahu G. Stroumsa (Jerusalem), Fritz A. Rothschild (New York), Eric M. Meyers (Durham), Chana Safrai (Utrecht), Albert H. Friedlander (London), Rita Thalmann (Paris), Konrad Kwiet (Sydney), Tal Ilan (Jerusalem), Michael Zank (Boston), Almut Sh. Bruckstein (Jerusalem), Yossef Schwartz (Jerusalem/Tel Aviv) und Myriam Bienenstock (Tours/Paris).

Wie viel Realität steckt im Kriminalroman?

von Kurt-Helmuth Eimuth 17. Oktober 2019

Kain erschlug Abel – das Verbrechen gehört seit biblischen Zeiten zur menschlichen Gesellschaft dazu. Nicht zufällig ist der Kriminalroman eines der beliebtesten Genres. Doch wie viel Realität steckt da drin?

Von links: Polizeipräsident Gerhard Bereswill, Nele Neuhaus, Matthias Altenburg, Moderator Manfred Köhler (FAZ) | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth
Von links: Polizeipräsident Gerhard Bereswill, Nele Neuhaus, Matthias Altenburg, Moderator Manfred Köhler (FAZ) | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Kain erschlug Abel. Ein Brudermord. Im Zorn. Ein Mord, der am Anfang eines guten Krimis stehen könnte?

Krimi-Autor Matthias Altenburg orientiert sich bei seinen Büchern gerne an realen Geschehnissen. „Ich finde lieber was, als dass ich was erfinde,“ war seine zentrale Aussage beim Bürgergespräch der FAZ in der Oper. Doch er betont, dass er keine Sachbücher schreibe. „Ich brauche die Realität als Sprungbrett für meine Phantasie“, so der Erfinder des Ermittlers Marthaler. Bücher von ehemaligen Kriminalbeamten seien hingegen immer langweilig.

Nele Neuhaus arbeitet anders. Sie beschreibt keine realen Kriminalfälle. „Ich liebe es, meine Phantasie spielen zu lassen,“ sagt die Autorin der Taunus-Krimis. Sie könne die Zeit, in der das Geschehen spiele, neu aufleben lassen. Neuhaus: „Das macht mir großen Spaß. Nur der Krimi würde für mich langweilig werden.“ Zum Genre kam sie schon sehr früh. Die Kinderbuchreihe „5 Freunde“ hat sie geliebt. Und am Anfang eines jeden Krimis stehe ja nun mal ein Rätsel, das es zu lösen gelte: Wer war es?

Der Frankfurter Polizeipräsident Gerhard Bereswill hat es in der Realität hat mit Mord und Totschlag zu tun. Zum Glück weit weniger als man meint. 300 bis 400 Morde werden in Deutschland im Jahr verübt, fast alle werden aufgeklärt. Auch im Fernsehen kommt kaum ein Mörder davon. Nur werden dort jährlich rund 12.000 Menschen ermordet – Wiederholungen nicht mitgezählt. Allerdings schaue er keine Krimis mehr, und auch in gedruckter Form mag er sie nicht. Kleine handwerkliche Fehler, die er entdecke, hielten ihn dann vom Erzählstrang ab.

Ehrlichkeit tut Not: Fürs Klima müssen wir den Gürtel enger schnallen

von Kurt-Helmuth Eimuth 17. September 2019

Inzwischen rufen, so scheint es, alle relevanten Gruppen zum Klimastreik auf, und das ist auch gut so. Aber in der Diskussion um notwendige Maßnahmen braucht es auch Mut zur Ehrlichkeit: Ohne auch persönliche Einschränkungen wird es nicht gehen.

Demonstrieren für den Klimaschutz  |
Demonstrieren für den Klimaschutz | Bild: http://www.unsplash.com

Eigentlich, so dachte ich, ist mein Leben achtsam, was Natur und Klima angeht. Der Zweitwagen ist abgeschafft, in den Urlaub fliegen wir seit Jahren nicht mehr, und wir sind in eine deutlich kleinere Wohnung umgezogen. Doch beim Klimatest auf der Seite Fussabdruck.de musste ich feststellen, dass mein Lebensstil mehr als drei Erden verbraucht.

Vielen von uns ist noch gar nicht klar, wie groß die Dimension dessen ist, was passieren muss, um eine Klimakatastrophe abzuwenden. Trotz der Mahnungen von Experten ist seit vier Jahrzehnten politisch fast nichts geschehen. Dass die Jugend radikale Forderungen stellt, ist also richtig. Entweder wir nehmen die Klimakatastrophe hin, oder wir stemmen uns mit Macht dagegen.

Für Letzteres bedarf es klarer, radikaler Änderungen, die uns allen Verhaltensänderungen abverlangen. Es ist falsch zu glauben, wir könnten den Klimawandel technisch beherrschen, etwa mit der Einführung von E-Autos. Ohne spürbare Einschränkungen des privaten Konsums wird es nicht gehen. Allerdings würde wohl keine Partei die Einführung einer Klimasteuer von 25 Prozent auf Kleidung, Autos, Fleisch und Käse überleben. Trotzdem wäre genau das eigentlich nötig. Zur sozialen Abfederung müssten die Sozialleistungen entsprechend angehoben werden. Und warum nicht Inlandsflüge unter 500 Kilometer verbieten? Gerade angesichts der Prognose, dass sich der Flugverkehr in Europa in den kommenden zwanzig Jahren noch einmal verdoppeln soll?

Natürlich hilft es dem Klima wenig, wenn allein Deutschland sich radikal ändert. Angesichts der Tatsache, dass in China gerade 176 Flughäfen im Bau sind, erscheint die Lage trostlos. Aber wir haben eben zunächst einmal die Verantwortung für unser eigenes Tun. Eine Verantwortung gegenüber den nachkommenden Generationen und gegenüber Gottes Schöpfung.

Wir können die Welt nicht im Alleingang ändern, aber wir können für Veränderung eintreten. Und dafür ist es wichtig, bei sich selbst anzufangen. Dass gleichzeitig auch global gehandelt werden muss, widerspricht dem nicht. Ich jedenfalls hoffe, dass Greta und Co. in ihrem Engagement nicht nachlassen.

Ein Buch über die Skulptur der Steinbücher im Martin-Luther-Park

von Kurt-Helmuth Eimuth 16. September 2019

Vor zwei Jahren wurde im Offenbacher Martin-Luther-Park die Steinskulptur „Bücher der Weisheit“ der Künstlerin Anna-Maria Kubach-Wilmsen eingeweiht, jetzt gibt es dazu ein Buch. Unter Beteiligung jüdischer, christlicher und muslimischer Gemeinschaften wurde es am Sonntag der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die Steinbücher im Martin-Luther-Park würdigen die Weisheit der Religionen. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth
Die Steinbücher im Martin-Luther-Park würdigen die Weisheit der Religionen. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Die Buchpräsentation war direkt vor Ort: Unweit der im Buch beschriebenen Steinskulptur versammelten sich jüdische, christliche und muslimische Menschen bei der Vorstellung des Buches „Heilige Schriften – Quellen der Weisheit“. Schließlich symbolisieren die Steinbücher genau diese drei Weltreligionen.

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Färber gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich in Offenbach noch in diesem Jahr ein Rat der Religionen gründen möge. „Er sollte sich genau hier konstituieren“, empfahl Färber. Die Stadtgesellschaft solle dankbar sein, dass mit diesem Kunstwerk die Frage aufgeworfen werde, „wie wir die Botschaften dieser Bücher umsetzen können.“ Für Achim Knecht, den evangelischen Stadtdekan, ist die Vielfalt der Religionen in Offenbach eine Bereicherung: „Es ist gut, dass wir so unterschiedlich sind. Wir ergänzen uns gegenseitig.“

Im Vorwort des fünfzigseitigen, reich bebilderten Buches stellen der Musiker Jürgen Blume und Pfarrerin Ulrike Schweiger fest, dass sich in Offenbach ein weitgehend friedliches Miteinander von 160 Nationen entwickele. Dies verlange aber Verständnis für die anderen. „Einen eigenen Standpunkt haben, sich bemühen, die Gedanken der anderen zu verstehen, die Vielfalt der Kulturen und Religionen zu respektieren, darüber ins Gespräch zu kommen, ohne diese übernehmen zu müssen – das bedeutet Toleranz und ist eine Bereicherung für uns alle.“

Im Buch wird sowohl die Ideenfindung als auch die Arbeit der Künstlerin beschrieben. Zum Beispiel erfährt man, dass das Material eines jeden Stein-Buches von einem anderen Kontinent kommt. Reinhold Bernhardt, Theologieprofessor in Basel, vergleicht in seinem Essay den Umgang mit den heiligen Schriften im Islam, Judentum und Christentum.

Zur Entstehungsgeschichte der Skulptur gehört auch, dass an gleicher Stelle vorher eine aufgeschlagene Bronze-Bibel stand, als Erinnerung an den Reformator Martin Luther, nach dem der Park benannt ist und der Bibel ins Deutsche übersetzt hat. Doch zuerst stahlen Diebe das Werk, und auch eine zweite Anfertigung wurde von Materialdieben entwendet.

Deshalb entstand im evangelischen Dekanat und im Förderkreis „PraeLudium“ die Idee, an dieser Stelle die drei in Offenbach vertretenen Buchreligionen zu würdigen. Die Ausfertigung in Stein, wird hoffentlich einen weiteren Diebstahl verhindern.

Das Buch ist während der Öffnungszeiten in der Stadtkirche in Offenbach (Herrnstraße 44) für 5 Euro erhältlich.

Von Empathie durchdrungenes, kritisches Islambuch

von Kurt-Helmuth Eimuth 10. September 2019

Monika und Udo Tworuschka ist mit ihrem Buch „Der Islam – Feind oder Freund?“ ein Werk zur Versachlichung und Relativierung der Debatte gelungen. Ein gut lesbares Buch, das die Argumente an vielen Stellen versachlicht.

Monika und Udo Tworuschka: Der Islam – Feind oder Freund? - 38 Thesen gegen eine Hysterie, Kreuz-Verlag, 142 Seiten, 15 Euro.
Monika und Udo Tworuschka: Der Islam – Feind oder Freund? – 38 Thesen gegen eine Hysterie, Kreuz-Verlag, 142 Seiten, 15 Euro.

„Noch ein Buch über den Islam“ war mein erster Impuls. Doch Autorin und Autor, seit Jahrzehnten bekannt für ihre religionswissenschaftlichen Arbeiten, machen neugierig. Keine Frage, die beiden haben einen Standpunkt. Gleich im ersten Satz verdeutlichen sie, dass sie kein islamkritisches Buch vorlegen, sondern ein kritisches Islambuch. Was keineswegs dasselbe ist. Sie wollen nicht „die Fratze“ des Islam betrachten, sondern mit Empathie einer Religion begegnen.

Zunächst gehen sie auf die gegenwärtige Wahrnehmung des Islam ein. An vielen Beispielen zeigen die Tworuschkas auf, dass die Diskussion Züge einer Verschwörungstheorie hat. So gehören in Deutschland nur knapp sechs Prozent der Bevölkerung dem Islam an. Von einer Übernahme der Gesellschaft ist man also schon zahlenmäßig bei immer noch 48 Millionen Christinnen und Christen weit entfernt. Auch die Geburtenzahl bei Muslimen befindet sich im Sinkflug. Hatten aus der Türkei nach Deutschland migrierte Familien 1970 noch 4,4 Kinder im Durchschnitt, sind es bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation noch 1,56 Kinder. „Migranten passen sich erfahrungsgemäß in vielen Lebensbereichen an ihr Umfeld an.“

Auch lässt sich nicht belegen, dass der Islam per se gewaltbereit sei. Selbst der Teil des Islam, der unter dem Begriff Islamismus zusammengefasst wird, muss unterteilt werden in die Strömungen der Salafisten, Islamisten und Djihadisten. Doch gleich welche Begründungen sich gewaltbereite Muslime zusammenbasteln, welche Verse sie aus dem Koran herauspicken, es kann nicht gesagt werden, „dass der Koran zur Gewalt aufrufe und die Lizenz zum Töten“ liefere. Das Autorenehepaar erinnert im Gegenteil an zahlreiche Gewaltvorstellungen in der Bibel.

Auch in Bezug auf die Stellung der Frauen im Islam war dessen Religionsstifter fortschrittlicher als viele meinen. So habe Mohammed verglichen mit dem vorislamischen Arabertum richtungsweisende Besserstellungen für Frauen eingeführt. Zum Beispiel wurde das übliche Aussetzen weiblicher Neugeborener untersagt. Der Koran fordert an keiner Stelle, dass sich Frauen verschleiern müssten. Allerdings hätten sich die vom Koran bekämpften Gesellschaftsstrukturen im Laufe der Jahrhunderte wieder verfestigt. So gehe es bei der Genitalverstümmelung eher um kulturelle Faktoren und um eine patriarchale Familienstruktur als um eine religiöse Lehre. „Der Koran erwähnt keine weibliche Genitalverstümmelung, geschweige denn, dass er sie gutheißt.“ Auch sexuelle Gewalt gegenüber Frauen rechtfertigen die islamischen Quellen nicht.

Bei aller Empathie verschließt das Buch aber nicht die Augen vor problematischen Tendenzen: „Blauäugig wäre es dagegen, Scharia-Auslegungen nicht zu beachten, die einen gewaltsamen Djihad gegen ‚Ungläubige‘ legitimieren, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung in Frage stellen, antijüdische Einstellungen und Handlungen rechtfertigen.“ Ferner sei die Sozialisation muslimischer Kinder offenbar stärker an Macht und Gehorsam ausgerichtet und tue sich schwer mit Freiheit, Pluralismus und Ambiguitätstoleranz. Dies ergebe sich aus erfahrener Ablehnung. Der Einzelnen fliehe dann nach Erich Fromm ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische.

Die Tworuschkas plädieren also für ein offenes, von Empathie geprägtes Miteinander. Wie dies aussehen kann, fassen sie am Beispiel in drei Sätzen zusammen: „Wir wünschen uns, dass muslimische Frauen die islamische Kleiderordnung nur aus freien Stücken befolgen. Die Realität sieht sicher oft anders aus. Aber Freiheit bedeutet, eine islamische Frau darin zu bestärken, ihrer Tradition folgen zu dürfen – sie aber auch darin zu unterstützen, wenn sie sich dagegen wehren will.“

Ein gut lesbares Buch über den Islam und über die deutsche Diskussion. Es versachlicht an vielen Stellen die Argumente, reiht sie religionswissenschaftlich und politisch ein und ist somit im besten Sinne tatsächlich ein von Empathie durchdrungenes kritisches Islambuch.