Archiv für 20. März 2003

Vor 20 Jahren: Das schreckliche Ende eines Pfingstausflugs

Vor 20 Jahren Das schreckliche Ende eines Pfingstausflugs

FAZ

20.05.2003 ·  Sie waren befreundet, kannten sich aus der Jugendarbeit. „Er hat uns gefragt, ob wir mitkommen wollen“, erinnert sich Pfarrer Kurt-Helmuth Eimuth. In den Spessart mitkommen, am Pfingstsonntag bei herrlichem Wetter einen Ausflug ins Grüne machen.

Sie waren befreundet, kannten sich aus der Jugendarbeit. „Er hat uns gefragt, ob wir mitkommen wollen“, erinnert sich Pfarrer Kurt-Helmuth Eimuth. In den Spessart mitkommen, am Pfingstsonntag bei herrlichem Wetter einen Ausflug ins Grüne machen. Aber es ging nicht, die Schwiegereltern waren da. Eimuth wollte nicht glauben, was er abends erfuhr. „Es war unfaßbar, schrecklich, traurig.“ Weil er es nicht glauben konnte, rief er beim Flughafen an, fragte nach. Aber es stimmte. Der Ausflug hatte ein furchtbares Ende genommen. Aus buchstäblich heiterem Himmel war ein Kampfflugzeug abgestürzt, hatte Martin Jürges, dem Pfarrer der Gutleutgemeinde, seiner Frau, seinen zwei Kindern, seiner Mutter und seiner Nichte den Tod gebracht.

Eine Familie wurde ausgelöscht, von einem Moment auf den anderen. Es geschah am 22.Mai vor zwanzig Jahren. Vor zwanzig Jahren, das war die Zeit der Aufrüstung und der Friedensbewegung. „Frieden schaffen ohne Waffen“, lautete die Forderung auf ungezählten lila Tüchern. Auch Martin Jürges wollte mit solchen Tüchern am Kirchentag teilnehmen. Sie lagen schon bereit. Ausgerechnet die Familie eines Friedenskämpfers wurde in Friedenszeiten von den Trümmern eines explodierten Kampfflugzeugs getötet. Jedes Unglück ist schrecklich. Aber dieses hatte eine große Symbolkraft.

Flugzeug fiel wie eine Bombe vom Himmel

Der 22.Mai 1983: Im Stadtwald am Oberforsthaus feierten die Frankfurter, wie immer, schon am Pfingstsonntag Wäldchestag. Auf der Rhein-Main Air Base war Tag der offenen Tür. Flugvorführungen standen auf dem Programm, zum Beispiel jene des 439.Geschwaders der kanadischen Luftwaffe mit dem Namen „Tiger“. Am frühen Nachmittag stiegen die vier Starfighter auf. Ihre Piloten sollten keine akrobatischen Mätzchen vollführen, sondern militärische Routine-Formationen fliegen. Eine fünfte Maschine sollte im Abstand von 45 Sekunden der Vierer-Gruppe folgen. Doch die fiel wie eine Bombe auf den Autobahnzubringer, auf dem die Familie Jürges in ihrem hellblauen Kombi unterwegs war.

Bis heute ist die Ursache des Unglücks – der Pilot konnte sich mit dem Schleudersitz retten – nach den Worten von Polizeisprecher Franz Winkler nicht bekanntgeworden. Er hatte damals Dienst. „Das war schon heftig.“ Winkler hat es nicht vergessen, wie nach und nach die Nachricht von den Toten zu ihm drang. Martin Jürges wäre jetzt 60 Jahre alt, seine Mutter Erna 97 Jahre, seine Frau Irmtraud 58 Jahre, sein Sohn Jan 31 Jahre, seine Tochter Katharina 21 Jahre, seine Nichte Gesine Wagner, sie starb knapp drei Monate später an ihren Brandverletzungen, 39 Jahre.

Einig schon vor der Zwangsvereinigung

Karsten Petersen, weiland Pfarrer der Weißfrauengemeinde im Bahnhofsviertel, saß zu Hause, als am späten Nachmittag das Telefon klingelte. Auch er konnte es nicht glauben. Kollegen kamen, alle waren fassungslos, der Gedenkgottesdienst tags darauf in der Gutleutgemeinde wurde verabredet. Pfarrer Petersen hielt die Predigt. Beruflich hatten er und Jürges ohnehin ein Team gebildet, alles besprachen sie miteinander, den Konfirmandenunterricht ebenso wie den Auftritt im Ortsbeirat („Wir waren immer da.“) Man habe sich stets etwas Besonderes einfallen lassen müssen. Das habe Martin Jürges auch so gefallen. Heute sind die Gutleut- und die Weißfrauengemeinde „zwangsvereinigt“. Das verlangt Kirchenpolitik in Zeiten, in denen es auch der evangelischen Kirche nicht mehr so gut geht. „Wir waren damals schon vereinigt, zumindest auf der Pfarrer-Ebene“, sagt Petersen. Martin Jürges hatte das Schicksal aber nur gut zwei Jahre in der Gutleutgemeinde gegeben.

Die Matthäusgemeinde ist nun als Dritte im Bunde. Zu dritt haben sie sich den schönen Namen „Hoffnungsgemeinde“ gegeben. Er hätte Martin Jürges gefallen, ihm, dem Hoffnungsträger für die Bewohner eines problematischen Viertels, der immer einer der ersten war, der sich öffentlich – das konnte er gut – zur Wehr setzte, wenn er meinte, auch nur einen Hauch von Ausländerfeindlichkeit zu spüren, oder wenn die Stadtväter nicht einsehen wollten, daß mehr getan werden müßte für die Leute eines sozial schwierigen Stadtteils. Da konnte er hartnäckig sein, kam er schon einmal unangemeldet in die Zeitungsredaktion. „Gutleut: Symbol der Hoffnung“. So lautete das Motto des Schweigemarsches am Tag, als die Familie Jürges zu Grabe getragen wurde.

„Da fehlt einer“

Schon als Stadtjugendpfarrer – er war es zehn Jahre lang – hat sich Jürges mit der Stadt oder mit Kirchenoberen angelegt. Manchen waren seine Positionen zu links. Die Jugendlichen aber schätzten ihn. Roland Frischkorn war in jenen Tagen DGB-Jugendsekretär und Jürges‘ Nachfolger als Vorsitzender des Stadtjugendrings. Heute ist er bei einer Wohnungsbaugesellschaft. Er trifft sich immer noch gelegentlich mit seinen Nachfolgern im Amt. Und irgendwann kommt dann der Punkt, an dem die ins Alter gekommenen Jugendvertreter von einst sagen: „Da fehlt einer.“

„Es geht nicht aus den Köpfen derer, die es damals miterlebt haben“, sagt Pfarrer Petersen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Starfighter nur ein paar hundert Meter weiter abgestürzt wäre. Hunderttausende – die Amerikaner sprachen von 400000 – schauten den Flugvorführungen zu, Tausende feierten im Stadtwald. Seitdem gibt es in Frankfurt keine Flugschau mehr. Die Stadt entging knapp einer Katastrophe. Auch deswegen geht das Unglück nicht aus den Köpfen derer, die es miterlebt haben.

CORNELIA VON WRANGEL

Gottesdienst beim Frühstückskaffee

Für einige sind sie sonntags morgens einfach ein Gräuel: die Glocken, die die Gläubigen zur Kirche rufen. Für andere gehört ein Gottesdienst mit Predigt so unverzichtbar zum Sonntag wie der sprichwörtliche Braten. Zur Not auch in den eigenen vier Wänden.
Auch wenn die versammelten Gemeinden in den Kirchen meist klein sind, stellen Gottesdienste doch in einer sich ständig verändernden Welt ein hohes Maß an Konstanz, an Verlässlichkeit dar. „Mir reicht schon, dass ich weiß, dass ich hingehen könnte“, denkt mancher Christ und wendet sich womöglich den Verkündigungssendungen im Radio oder Fernsehen zu. Tatsächlich stieg in den letzten Jahren die Zahl der Zuschauerinnen und Zuschauer bei den ZDF-Gottesdienstübertragungen auf bis zu eine Million. Und sie trinken keineswegs nur Kaffee bei der Predigt. Wiederholte Nachfragen haben den Sender veranlasst, die Gesangbuchnummern der Lieder einzublenden. Manche wollen die Texte offenbar mitlesen oder auch mitsingen. Die mediale Form gottesdienstlicher Feier ist attraktiv, womöglich attraktiver als der „Live“-Gottesdienst in der Kirche zwei Straßen weiter. Vielleicht liegt es an der schnelleren Abfolge der unterschiedlichen Gottesdienstteile, oder daran, dass man im Fernsehen besser sieht, die Kamera macht’s möglich. Außerdem ist die Predigt kürzer. Zehn oder zwanzig Minuten Text – das ist für ein an Worthäppchen gewöhntes Publikum oft einfach zu lang. Ein Wortbeitrag in Radio FFH zum Beispiel ist schließlich meist auch nicht länger als eineinhalb Minuten. Sonntags morgens mal unverbindlich und unrasiert beim ZDF vorbeizappen ist nicht nur für ältere oder kranke Menschen eine Alternative, gerade auch für jüngere Leute oder für Familien. Überhaupt die Uhrzeit. Die 10-Uhr-Anfangszeit war einmal sehr nah an den Lebensumständen der Menschen: Gottesdienst war nach der Fütterung der Tiere. Heute können viele sonntags ausschlafen. Einige Gemeinden haben reagiert und bieten Wochenschlussgottesdienste oder auch Samstagsgottesdienste an. Auch Zielgruppengottesdienste wie etwa Frauen- oder Jugendgottesdienste erhöhen die Akzeptanz, gleichwohl widersprechen sie der Vorstellung, dass der Gottes dienst der Mittelpunkt eben der ganzen Gemeinde ist. Mag man über solche Vorstellungen streiten, unstrittig ist: Religion braucht Rituale. Religion ohne Ritual ist nicht vorstellbar. Mit dem Osterfest wurde öffentlich die Auferstehung Jesu Christi als Sieg des Lebens gefeiert. Mit dem Sonntag als dem „kleinen Osterfest“ in jeder Woche wurde die segensreiche Einrichtung des jüdischen Sabbats neu akzentuiert. In den letzten 2000 Jahren haben sich Gottesdienst und Predigt immer wieder gewandelt. Als Urtyp aller Prediger gilt Johannes der Täufer. Seit dem 4. Jahrhundert war die Predigt, möglicherweise aus Furcht vor Irrlehren, allein den Bischöfen und Priestern vorbehalten. Der Prediger saß während der Predigt, die Gemeinde stand. Die „cathedra“ ist der Lehrstuhl. Mit der Reformation bekam das „Priestertum aller Gläubigen“ auch bei der Predigt seine Bedeutung zurück. Auch Nicht-Theologen dürfen auf der Kanzel das Wort ergreifen. Der Gottesdienst mit Predigt, Musik und Liturgie will mit seinen Riten und Symbolen den Menschen dienen, ihnen Trost spenden und Hoffnung geben. Die Form, in der dies geschieht, und das Medium, das den Gottesdienst überträgt, sind hierbei eher unbedeutend.
Kurt-Helmuth Eimuth

Evangelisches Frankfurt: März 2003 · 27. Jahrgang · Nr. 2