Von Kurt-Helmuth Eimuth – 28. Juli 2015
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung ist einer der Vorkämpfer für die kirchliche Anerkennung homosexueller Partnerschaften. Das ist nicht einfach nur dem Zeitgeist geschuldet, sondern dahinter stehen theologische Überlegungen über die Grundlagen des christlichen Familienbildes und die Auslegung der Bibel. Kurt-Helmuth Eimuth befragte ihn zu den Details.
Kirchenpräsident Volker Jung. Foto: EKHN
Herr Kirchenpräsident, Sie gehören zu den Verfassern der Orientierungshilfe Familie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Dieses Papier hat Furore gemacht, da hier nicht nur Vater, Mutter, Kind als Familie gesehen werden?
Die Orientierungshilfe nimmt zunächst die Wirklichkeit von Familien in Deutschland in den Blick. Und die zeigt: Es gibt inzwischen eine Vielzahl unterschiedlicher Formen des familiären Zusammenlebens. Dazu gehören die sogenannte „klassische“ Familie ebenso wie das kinderlose Ehepaar, das Verwandte pflegt, und das gleichgeschlechtliche Paar, das in einer eingetragenen Partnerschaft mit Kindern lebt, und manches mehr. Es ist ein Grundanliegen der Orientierungshilfe zu sagen, dass Familien gesellschaftlichen Rückhalt brauchen – unabhängig davon, in welcher Form Familie gelebt wird.
Die Ehe als “göttliche Stiftung” und traditionelle Geschlechterrollen lassen sich nicht biblisch begründen?
Es gibt eine lange theologische Tradition, in der aus der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau und der Rollenzuschreibung aus neutestamentlichen Texten die Ehe mit traditionellen Geschlechterrollen gleichsam als „göttliche Ordnung“ begründet wurde. Das lässt außer Acht, dass die biblischen Vorstellungen selbst zeitbedingt sind, und andere Texte über diese Rollenmuster hinausweisen. Außerdem hat sich unsere Wahrnehmung – insbesondere der homosexuellen Prägung von Menschen – verändert. Biblisch begründen lässt sich aber sehr wohl, dass es in Ehe und Familie darum geht, dass Menschen dauerhaft, verbindlich, verlässlich, partnerschaftlich und gerecht Verantwortung füreinander übernehmen.
Welche Formen von verlässlicher Beziehung kennt die Bibel?
In der Bibel finden wir ganz unterschiedliche Familienkonstellationen. Da wird von den Urvätern erzählt, dass sie mehrere Frauen hatten. Und es reicht hin bis zum Hausstand, in dessen Zentrum Mann und Frau stehen, zu dem aber auch Sklaven gehören. Auch die Ehelosigkeit wird gewürdigt und gewissermaßen eingefügt in den Zusammenhalt von Gemeinden. Das alles zeigt: Es kann nicht darum gehen, zeitbedingte Formen in den Rang einer überzeitlichen Norm zu erheben.
Und Homosexualität? Ist die in der Bibel nicht verpönt?
Homosexualität wird sowohl im Alten als auch im Neuen Testament in den wenigen Stellen, in denen davon die Rede ist, klar abgelehnt. Das ist sicher ein Grund dafür, warum Homosexualität lange als Krankheit oder Sünde betrachtet wurde. Es war ein langer Weg zu erkennen, dass Homosexualität eine Prägung von Menschen ist, die nicht veränderbar ist, und dass es sehr wohl möglich ist, diese sexuelle Veranlagung – wie auch die heterosexuelle – zwischen gleichberechtigten Partnern verantwortlich zu leben. Auch hier geht es darum zu erkennen, dass die Bibel in zeitbedingten Sichtweisen nicht normativ sein kann. Sie ist aber normativ darin, dass Menschen in allem, was sie tun, Verantwortung haben und einander nicht schaden dürfen.
Welche Funktion hat Familie in einer erweiterten Form heute noch für die Gesellschaft?
Es bleibt der wichtige Grundgedanke, dass verlässliche Partnerschaften und mit ihnen Familien nach wie vor für eine Gesellschaft außerordentlich wichtig sind. Eine Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Menschen verbindlich und dauerhaft füreinander da sind und füreinander sorgen. Heute geht es darum, dass der zu Recht gewährte besondere Schutz für Ehe und Familie über die traditionelle Form der Familie, die natürlich nach wie vor von vielen gern und gut gelebt wird, hinaus ausgeweitet wird.
Was brauchen Familien in ihrer vielfältigen Erscheinungsform heute?
Sie brauchen zunächst gesellschaftliche Akzeptanz und politische Anerkennung in all ihren Formen. Für mich ist gegenwärtig besonders der der Blick auf die Situation von Alleinerziehenden wichtig. Sie muss dringend verbessert werden – finanziell aber auch mit konsequent weiter ausgebauten Unterstützungs- und Betreuungsangeboten.
Die evangelische Kirche will Familien gerade im Bereich der Erziehung und Bildung stützen. Wie kann sie das?
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau bietet selbst eine ganze Menge an: Von 600 Kindertagesstätten mit fast 40.000 Plätzen über vier Schulen in kirchlicher Trägerschaft und Familienbildungsstätten bis hin zur Unterstützung für Familienzentren.
Die Orientierungshilfe fordert familienfreundliche Arbeitszeiten. Die Kirche ist selbst ein großer Arbeitgeber. Gibt es in der Kirche besondere Anstrengungen um diesen Anspruch umzusetzen?
Im Sommer 2015 ist die Kirchenverwaltung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau beispielsweise für ihr Engagement zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Berlin ausgezeichnet worden. Mit dem Stabsbereich Chancengleichheit versuchen wir dafür zu sorgen, dass wir uns hier weiterentwickeln. Aber wir müssen auch zugeben: da gibt es noch viel zu tun – in unseren Gemeinden und Einrichtungen in Kirche und Diakonie. Manches lässt sich aber auch nur verwirklichen, wenn die gesamte Gesellschaft sich hier verändert.
Nirgends wird die Solidarität der Generationen so sichtbar wie in der Familie. Wie können Kirchengemeinden dieses wahrnehmen und unterstützen.
Kirchengemeinden spielen mit ihren vielen Angeboten von der Krabbelgruppe bis zum Seniorenkreis schon jetzt eine ganz wichtige Rolle. Derzeit läuft mit der Diakonie zusammen eine spannende Initiative zur stärkeren Vernetzung von Hilfsmöglichkeiten vor Ort. Ziel des Projektes „Drin“, das wir mit drei Millionen Euro fördern, ist es, die Gemeinwesenarbeit zu stärken. Dazu gehört eben auch, Lebensbedingungen für Familien zu verbessern. Etliche Kirchengemeinden sind auch beim Aufbau von Familienzentren engagiert. Auch das unterstützen wir. Insgesamt geht es auch darum, noch mehr als bisher die unterschiedlichen Familienkonstellationen wahrzunehmen und ihnen vorurteilsfrei zu begegnen.
Die häusliche Pflege ist nicht nur gesellschaftlich notwendig, sondern intensiver Ausdruck der Verlässlichkeit von Beziehung. Doch gelegentlich überfordern sich die Pflegenden. Kann die Kirchengemeinde hier helfend tätig werden?
Eine menschenwürdige Pflege von älteren Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Hier braucht es gute unterstützende Angebote. Es kommt auf ein gutes Zusammenspiel von Pflegediensten, ärztlicher Unterstützung und seelsorgerlicher Begleitung von Pflegebedürftigen und Pflegenden an. Kirchengemeinden können hier mithelfen, sie können aber bei weitem nicht alles leisten, was nötig wäre. Ganz wichtig ist auch hier, Möglichkeiten zu eröffnen, durch die Pflege und Beruf miteinander vereinbart werden können.
In der Orientierungshilfe wird auch die Schattenseite von Familie angesprochen: familiäre Gewalt.
Ja, das war eine wichtige Sichtweise, die vor allem Praktikerinnen immer wieder eingebracht haben. Dazu kam, dass die Arbeit an der Orientierungshilfe mit den großen Skandalen um sexuellen Missbrauch zusammenfielen. Die Vorsitzende der Ad-Hoc-Kommission Ehe und Familie, die ehemalige Bundesministerin Christine Bergmann, war in dieser Zeit Beauftragte der Bundesregierung für Opfer sexuellen Missbrauchs. Das hat uns noch einmal besonders sensibel auf die Gewaltproblematik schauen lassen. Dazu gehört, sich einzugestehen, dass Familie nicht immer ein idyllischer Hort des Friedens ist, sondern eben auch ein sehr konfliktreicher Ort und manchmal auch ein Ort entsetzlichen Leidens sein kann. Das nicht zu verheimlichen und mit den Schattenseiten offen umzugehen, war uns wichtig.
Familie stärkt die Gesellschaft, doch gleichzeitig sind Alleinerziehende von Armut bedroht. Wie kann hier umgesteuert werden?
Das ist ein besonders trauriges Kapitel. Die Armutsgefährdung in diesem Bereich ist seit Jahren erschreckend hoch, zumal alleinerziehende Frauen auch weit über dem Durchschnitt in Niedriglohnbereichen arbeiten. Hier hilft nur der konsequente weitere Ausbau von guten Betreuungsmöglichkeiten. In der Orientierungshilfe haben wir zudem die Hoffnung geäußert, dass der Mindestlohn vielleicht dazu beiträgt, die sogenannten Ein-Eltern-Haushalte künftiger weniger oft in die Armut abrutschen zu lassen.
Im Zusammenleben mit anderen Religionen und Kulturen begegnen uns auch andere Familientraditionen. Gerade der Umgang mit Homosexualität dürfte eher trennend wirken. Eine Herausforderung für die einheimische Gesellschaft?
Homosexualität ist ja schon innerhalb der christlichen Glaubensrichtungen und Traditionen ein heikles Thema. Natürlich spielt das auch beim Dialog mit anderen Religionen eine Rolle. Das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen friedvoll zu gestalten ist eine große Zukunftsaufgabe. Dazu gehört auch, gute Wege zu finden, schwierige religiöse und kulturelle Fragen zu bearbeiten.
Familienpolitik ist längst nicht mehr “Gedöns”. Sie sei, so die Orientierungshilfe, ein wesentlicher Faktor für die allgemeine Wohlfahrt und den gesellschaftlichen Reichtum.
Es hat sich einiges getan. Aber meistens ist es in der politischen Praxis doch immer noch so, dass das Finanzministerium oder auch das Verteidigungsministerium anders beachtet wird als das Familienministerium. Eine gute Politik für die Menschen muss aber noch viel stärker von der Sozial- und Familienpolitik aus bestimmt sein als bisher. Die skandinavischen Länder haben hier eine führende Rolle. Und das hat ganz praktische Folgen – etwa in der größeren Bereitschaft, Kinder zu bekommen.
Diakonie und Kirche sollen Familie stark machen. Wie können sie das?
Wir können Familien stark machen, indem wir sie mit vielfältigen Angeboten unterstützen. Und auch dadurch, dass wir uns für eine andere politische Gewichtung der Familienpolitik einsetzen. Die Orientierungshilfe Familie versucht dies und hat gerade auch im politischen Raum eine bemerkenswerte Beachtung gefunden.
Beitrag von Kurt-Helmuth Eimuth, veröffentlicht am 28. Juli 2015 in der Rubrik Ethik, erschienen in der Ausgabe Web.