Archiv für 10. Februar 2002

Religiös motivierter Terror (10.02.2002)

von Kurt-Helmuth Eimuth, Erschienen im FORUM

Nichts ist so wie es einmal war. Nach dem 11. September 2001 hat die Welt sich verändert. Ohne Zweifel. Der so überraschende und in seiner Perfektion und Wirkung so kaltblütig vorbereitete und durchgeführte Terroranschalg in den USA ist unvergleichbar. Doch leider gab es schon häufiger Anlaß zu der Frage: was geht in einem Menschen vor, der sich und andere einem vermeintlich höherem Ziel wegen umbringt? 

Massen(selbst)mord im Urwald

Das Recht, anderen Menschen die Existenzberechtigung zu- und abzuerkennen, nehmen sich Sektenführer auch in bezug auf ihre eigene Gefolgschaft. Die großen Sektenkatastrophen in den letzten drei Jahrzehnten belegen diesen grausamen Umstand.

Im November 1978 war die Welt geschockt.[1] Auf Befehl ihres Führers Jim Jones hatten 914 Mitglieder der Sekte „Peoples‘ Temple“ (Volkstempel) in Guayana Selbstmord begannen. Diejenigen, die sich gesträubt hatten, waren ermordet worden. Unter den Opfern waren zahlreiche Kinder, die vom Staat Kalifornien der Sekte als Pflegekinder überlassen worden waren. Vergeblich hatten die Behörden versucht, diese Kinder zurückzuholen. Als eine Delegation von Kongreßabgeordneten die Machenschaften der Sekte untersuchen wollte, wurde sie auf dem Flughafen von Guayana niedergeschossen. Zwei Menschen starben bei diesem Mordanschlag, den die Anhänger der „Peoples‘ Temple“ ausführten. Nach diesem Mordanschlag wußte Jim Jones keinen anderen Ausweg als den „würdigen Tod“ für seine Anhänger in der „white night“ (weißen Nacht).

„Ranch Apocalypse“: Die Davidianer

Im Frühjahr 1993 folgte das Drama von Waco. Als die Polizei das festungsartig ausgebaute Anwesen der Davidianer-Sekte namens „Ranch Apocalypse“ in Texas durchsuchen wollte, kam es zu einem heftigen Schusswechsel. Die Polizei schien auf solchen Widerstand nicht vorbereitet. Vier Polizisten starben, sechzehn wurden zum Teil schwer verletzt. Sechs Sektenmitglieder starben vermutlich ebenfalls bei dieser Schießerei. Die Polizei zog sich zurück und belagerte das Anwesen. Sektenführer Vernon Wayne Howell, der sich selbst David Koresh nannte, hielt sich für den wiedergekommenen Christus. Er erwartete das Ende der Welt. Sollte er im Kampf getötet werden, so werde er den sofortigen Einzug als Herrscher im Himmel halten, war er überzeugt. Die 51 Tage dauernde Belagerung durch die Polizei hatte leider die grauenhafte Wiederholung der Ereignisse von Jonestown zur Folge. Die Davidianer zündeten die Gebäude an und suchten den Flammentod. Man fand 86 verkohlte Leichen in den Gebäuden, darunter zwanzig Kinder. Nur wenige überlebten das Inferno.

Transit zum Sirius: Die Sonnentempler

War der Urwald von Guayana noch weit weg, so brach mit dem Sekteninferno von Waco das Problem extrem radikalisierter, religiös motiverter totalitärer Gruppen unmittelbar in die westliche Hemisphäre ein. Doch während man hierzulande noch über die Ursachen des Dramas spekulierte und in den Vereinigten Staaten darüber gestritten wurde, ob mit einer anderen Polizeitaktik Menschenleben hätten gerettet werden können, radikalisierte sich eine zunächst harmlos erscheinende Gruppe in Europa, der „Orden des Sonnentempels“. Am 4. und 5. Oktober 1994 fand man 53 Leichen in Kanada und der Schweiz, sämtlich Anhänger der Sonnentempler. Die meisten von ihnen waren erschossen worden. Am 23. Dezember 1995 entdeckte die Polizei im französischen Saint-Pierre-de-Cherenes im Wald 16 Tote, die ausnahmslos Schußwunden aufwiesen. Ein solches Sektendrama im Herzen von Europa hatte niemand erwartet. Dabei schien alles auf den ersten Blick so harmlos.

Die Lehre der Sonnentempler ist eine eigenwillige Mischung aus New-Age-Gedankengut, Esoterik und östlichen Lehren. Kernpunkt der Mischung: Vor 15 Milliarden Jahren habe es einen sogenannten „big bang“, einen Urknall, gegeben, der unser Universum geschaffen habe. Die Energien des Ursprungs seien dem „Meister der Energie“ verfügbar, der sie an andere verteilen könne. Bei den Sonnentemplern war dies Jo Di Mambro, oberster Chef der Gruppe.[2]

Di Mambro war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der geschickt ein Doppelleben führte. Für seine Jünger war er, von der Öffentlichkeit unbemerkt, „der Große“, ein Wiedergeborener der legendären Bruderschaft „Rose und Kreuz“. „Deren Mitgliedern obliege es, so Di Mambro, sich in kritischen Phasen der Geschichte den Irdischen zu offenbaren, um in der Gestalt eines Sterblichen vor dem Weltende zu warnen und dann aus der Welt zu scheiden.“[3]

Diese Lehre war es, die den kollektiven (Selbst-)Mord von 48 Menschen im Okrober 1994 bedingte, unter ihnen Sektenchef Di Mambro.

Das sinnlose Sterben sollte noch kein Ende haben. Am 23. Dezember 1995 fand die Polizei im französischen Saint-Pierre-de-Cherennes (Grenoble) sechzehn Tote, die alle Schußwunden aufwiesen. Die Sekte hat weiter funktioniert. Die toten Führer hatten für die Sektenmitglieder nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Sie saßen sozusagen weiterhin mitten in der Seele der Sektenjünger.

Die Behörden müssen sich harte Vorwürfe gefallen lassen. Sie hatten zahlreiche Hinweise und Spuren mißachtet. So hatten mehrere der in Grenoble ums Leben gekommenen Sektenmitglieder weiterhin in Sektenzentren gelebt.

Hugo Stamm listet in einem Zeitungsartikel weitere Versäumnisse der Behörden auf. Sein Fazit: „Die Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Sonnentempler zeigt deutlich, dass die Untersuchungsbehörden längst wußten oder hätten wissen müssen, dass die verbliebenen Kultanhänger ebenfalls die „große Reise“ antreten und ein zweites Drama anrichten wollten“.[4]

Der wenige Monate später veröffentlichte Untersuchungsbericht über das Sonnentempler-Drama konnte auch nicht mehr Licht in die Dunkelheit dieser todbringenden Sekte bringen. Doch die französischen Behörden wollten die Fehler ihrer schweizerischen Kollegen nicht wiederholen. Um ein drittes Blutbad zu verindern, nahmen sie über dreißig mutmaßliche Sektenmitglieder im März 199 vorübergehend fest. Auch nach ihrer Freilassung werden Sektenmitglieder polizeilich beobachtet. Im Jahre 1997 wurden in Kanada weitere fünf Sektenmitglieder tot aufgefunden.

„Der spirituelle Diktator“

Tokio, 20. März 1995. Mitglieder der Aum-Sekte (Höchste Wahrheit) deponieren in einer U-Bahn-Station Plastikbeutel, aus denen das Giftgas darin entweicht. Durch diesen Anschlag soll der japanische Staat gelähmt werden, damit die eigene historische Mission der Weltbeherrschung beginnen kann. Der Terror war akribisch vorbereitet. Die Bilanz: Zwölf Menschen sterben, und mehr als fünftausend werden verletzt. Der Spiegel berichtet:

„Die Menschen knicken, buchstäblich mit Schaum vor dem Mund, auf dem Bahnsteig zusammen und erbrechen sich. Drei junge Frauen sind, ängstlich wie kleine Kinder, kniend ineinander verklammert. Sie schreien. Aber man kann sie nicht hören. Denn das Gift hat ihre Stimmbänder gelähmt.“[5]

Sarin ist zwanzigmal so giftig wie Zyanid. Die Opfer sterben innerhalb von dreißig Minuten an Erstickung oder Herzstillstand. Wer überlebt, kann bleibende Hirnschäden davontragen.

Das tödliche Gift war in den Labors in der Zentrale der Aum-Sekte hergestellt worden. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie etwa zehntausend Anhänger in Japan und mindestens fünfundzwanzigtausend in Rußland. Zwei Tage nach dem Anschlag durchsuchten zweitausendfünfhundert Polizeibeamte gleichzeitig die fünfundzwanzig Aum-Büros und Niederlassungen im ganzen Land. Sie fanden Maschinengewehre, Gasmasken, Schutzanzüge sowie einige Kisten Dynamit. Nicht viel, wie sich später herausstellen wird. Offensichtlich war der Plan für die Polizeiaktion vorzeitig durchgesickert. Das letzte, was die Aum-Anhänger von ihrem Gutu Shoko Asahara dem „verehrungswürdigen Meister“, hören, ist eine Botschaft, in der offen zum Massenselbstmord aufgerufen wird. Man solle nun den „großen Rettungsplan“ verwirklichen. „Schüler, die Zeit des Erwachens ist gekommen. Nehmt den Tod ohne Bedauern!“[6] Zum Glück kommt es hierzu nicht mehr.

Shoko Asahara hatte seinen Anhängern wiederholt von apokalyptischen Visionen berichtet. „Im Frühjahr 1993[7] hatte Asahara eine weitere Schreckensvision gehabt. Monatelang war der Termin des Weltuntergangs immer näher gerückt – 2002, 2001, 1999. Nun legte der gequälte Geist des Meisters das Datum für die Apokalypse bereits auf das Jahr 1996 fest. In diesem Jahr, so prophezeite er, werde die Zivilisation ihren Abstieg ins apokalyptische Feuer beginnen. Asahara warnte seine Gefolgsleute vor einem schrecklichen Genozid, der von einem unerwarteten Feind – den Vereinigten Staaten – ausgehend über Japan hereinbrechen würde. Die Amerikaner würden Japan angreifen, alle Inseln im Meer versenken und einen Weltkrieg auslösen.“[8] Eine Vorstellung, die offenbar in Japan nicht so absurd erscheint. Jedenfalls gelang es Asahara geschickt, die Vorurteile über den ehemaligen Kriegsgegner und Sieger Amerika auszunutzen.

Der 1955 geborene Asahara besuchte eine Internatsschule für Blinde, da er auf einem Auge nichts sehen konnte. Er strebte ein Studium an einer der besten Universitäten des Landes an. Doch das Eintrittsexamen bestand er nicht. Im Jahre 1984 gründete er mit Frau und Schülern eine Yoga-Gruppe, die sich 1987 den Namen Aum Shinrikyo gab. Angeblich hatte Asahara zuvor auf einer Indienreise die Erleuchtung erlangt. Um seine religiöse Autorität zu unterstreichen, besuchte er mehrmals den Dalai-Lama und andere hohe Lamas. Martin Repp beschreibt Asaharas Persönlichkeit so:

„Asaharas Leben bewegt sich zwischen den Polen von sozialer Ablehnung und eigenem Ehrgeiz, zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstüberschätzung. Er weiß seine Behinderung der halben Sehfähigkeit gut zu kompensieren, um diejenigen zu leiten, die überhaupt nicht sehen können. Das gilt sowohl von seinen Mitschülern als auch später – im übertragenen Sinne – von seinen Schülern.“[9]

Asahara war geprägt von einem ausgeprägten Verlangen nach Macht. So ist es auch zu erklären, daß Asahara mit weiteren vierundzwanzig Sektenanhängern im Februar 1990 unter dem Parteinamen „Shinritó`“ erfolglos für die Unterhauswahl kandidierte.[10]

Die Militarisierung und Radikalisierung erfolgte Schlag auf Schlag. So reisen etwa Aum-Anhänger in „medizinischer Mission“ nach Zaire, um eine Probe des tödlichen Ebola-Virus zu erhalten. Zu jenem Zeitpunkt war Aum bereits seit einigen Monaten (Juni 1992) vom russischen Justizministerium als offizielle religiöse organisation registriert. Der Damm war gebrochen. Shoko Asahara war auf dem besten Weg, das zu werden, was er werden wollte. „Ich beabsichtige, ein spiritueller Diktator zu werden, ein Weltbeherrscher.“[11]

Die Bilanz der spirituellen Diktatur: neben den zwölf Toten und fünftausend Verletzten beim Giftgasanschlag in Tokio sind zahlreiche Gegner von Aum ebenfalls ermordet worden. Im Februar 1995 wurde ein Dorfbeamter entführt und durch eine Drogeninjektion getötet. Sein Körper wurde in einem speziellen Mikrowellen-Einäascherungsofen, der im Untergeschoß eines Aum-Labors eingerichtet wurde, verbrannt. Zwischen Oktober 1988 und Februar 1995 starben insgesamt dreiunddreißig Aum-Anhänger infolge von Unfall, Mord, Suizid oder extremen religiösen Übungen. Ferner gelten weitere einundzwanzig Mitglieder als vermißt.

Es bleibt die Frage, wie vorwiegend gebildete Menschen sich einer solchen Sekte anschließen können. Hier wie anderswo folgen sie einem Guru, der die höchste Wahrheit und einen spirituellen Initiationsweg versprach, mit bedingungslosem Vertrauen. War man erst einmal ein Anhänger, so war man bedingungslos den Mechanismen der Bewußtseinskontrolle, auch der mit körperlicher Gewalt arbeitenden Gehirnwäsche ausgesetzt. „Die Gläubigen bekamen nur wenig zu essen und durften höchstens drei Stunden pro Tag schlafen. Das machte sie für Aums Lehren, die ununterbrochen auf sie einprasselten, gefügig. Zusätzlich sorgten die gekappten Familienbande dafür, daß die Schüler allmählich keine andere Lebensweise mehr kannten.“[12]

Heute versucht die Gruppe sich zu reorganisieren. Man entschuldigt sich für die Verbrechen, beteuert, dass man sich gewandelt habe und nimmt einen neuen Namen an. Unter der Bezeichnung Aleph, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets,  versammelt man sich nach dem Verlust des inhaftierten Führers. Doch trotz des beteuerten Neuanfangs spricht man auch weiterhin vom „errhabenen Führer“, der „ein Genie auf dem Gebiet des Yogas und der buddhistischen Meditation“ sei.[13]

All diese Katastrophen belegen einen besorgniserregenden Wandel. Da ist zunächst eine scheinbar harmlose Gruppe einiger „religiöser Spinner“. Sie backen ihr Brot selbst, betreiben Hatha-Yoga. Nicht gefährlich, eher liebenswert anders. Doch dann erfolgt plötzlich und von der Öffentlichkeit unbemerkt eine Radikalisierung. Der Fanatismus wird immer größer, das apokalyptische Szenario der Gruppe wird für die Sektenmitglieder zur unmittelbar bevorstehenden Realität. Leider lassen sich solche Veränderungen nicht prognostizieren.

Der nahende Weltuntergang am Ende des Jahrtausends war auch für eine Gruppe um den 65 jährigen Kultchef Marshall Herff Applewhite zur Realität geworden. Sie begab sich eine Woche vor Ostern (1997) auf die Reise zu einem „höheren Ort“ und 17 Männer im Alter von 26 bis 72 Jahren verließen, wie Videodokumentationen belegen, lächelnd ihre „Container“, wie sie ihre Körper nannten. Sektengründer Applewhite hatte die Parole ausgegeben: „Planet Erde wird recycelt. Die wahre Bedeutung von Selbstmord besteht für uns darin, sich der nächsten Ebene zu öffnen, wenn sie sich anbietet.“[14]

Der Spiegel beschreibt die Sekte so: „Die meisten Sektenmitglieder hatten, oft schon vor Jahren, jeden Kontakt zu ihren Familien verloren. Sie glaubten an Kultchef Applewhite als den „Einen“, der sie als Christus unserer Tage, zum „höheren Ort“ führen konnte. Sie ließen sich ihre Haare kurz schneiden und verzichteten für ihren Führer auf jeden Sex, acht Männer waren kastriert. Sie hatten offensichtlich akzeptiert, daß sie sich von der Außenwelt der Nichtgläubigen abschließen mußten – wer zweifelte wurde vom Chef isoliert und einer gründlichen „Entgiftung“ unterzogen.“[15]

So abstrus die Mischung aus Science Fiction und Weltuntergangsglauben sich auch auf den sekteneigenen Internetseiten präsentierte, so tödlich war sie doch für ihre Mitglieder.

Die einzige Möglichkeit, als Gesellschaft dieser Versektung entgegenzuwirken, ist das ständige Gespräch mit den Mitgliedern. Der Kontakt zur gesellschaftlichen Realität kann für diese überlebensnotwendig sein. Und dort, wo sich Katastrophen abzeichnen, darf nicht gezögert werden. In Japan haben die Behörden nicht energisch eingegriffen, der zweite (Selbst-)Mord in der Schweiz hätte durch Schutzhaft womöglich verhindert werden können. Doch damit die Behörden zu solch weitreichenden Maßnahmen bereit sind, müssen sie zunächst von der Gefährlichkeit radikalisierter und fanatisierter Sekten überzeugt werden. Der Staat kann jedoch nicht auf Dauer seine Bürger vor sich selbst schützen. Vielmehr geht es darum, die Ursachen für die Anfälligkeit der Menschen für Seelenfänger zu bekämpfen.

Bei solch komplexen innerpsychischen Vorgängen müssen Erklärungsmodelle auf Hauptströmungen reduzieren. Solche Modelle, wie sie etwa Robert Jay Lifton für den Prozeß der Selbstaufgabe im Sektenmillieu entwickelt hat, soll das Verstehen für ein völlig unverständliches Phänomen fördern. Denn letzten Endes bleibt es ein Geheimnis, wie eine Mutter von drei Kindern, die mitten im Leben steht, sich für die gute Sache (in diesem Fall der Palästinenser) in die Luft sprengt.

Doch bevor ein solches Modell aus der Sektenforschung vorgestellt wird, bedarf es nochmals des genauen Blickes auf das Umfeld heutiger Selbstmordattentäter und –täterinnen. Gerade in der islamischen Welt ist in den letzten Jahren eine Art kollektiven Minderwertigkeitsgefühl zu erkennen.  Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse ist der Einsicht der wahren Gesetze der Globalisierung gewichen. Man selbst fühlt sich unterlegen. Ein Muslim-Aktivist wird so zitiert: „Wir verfügen nicht über die Waffen, die der Feind besitzt. Deshalb ist das Märtyrertum eine legitime Taktik.“[16] Terrorismus entsteht vor allem dort, wo sich Menschen extrem ungerecht behandelt fühlen. Neben dem persönlichen Erleben von Armut kommt dann noch eine als persönliche Niederlage empfundene Perspektivlosigkeit hinzu. „All das,“ so die Geo-Autoren, „lässt Menschen täglich den Druck einer unablässigen Existenzbedrohung verspüren, und zwar selbst dann, wenn sie selbst nicht zu den Beteiligten gehören. Es ist ein Syndrom, das ein ganzes Kollektiv erfassen kann.“[17] Dieses psoxhosoziale Setting findet sich in einigen der Heimatländer der terroristen des 11. Septembers: in Saudi-Arabien, im Libanon und in Ägypten. Aber auch in anderen besonders von dieser Form des Terrors gepeinigten Regionen findet sich dieses kollektive Ohnmachtsgefühl. Wie erleben denn 20Jährige, die unter den Bedingungen der Intifada aufgewachsen sind?

Für Selbstmorattentade scheint sich der religiöse Tranmantel besonders zu eignen. Wurden 1995 nach Schätzungen von Experten 25 Prozent aller internationaler Anschläge von religiös motivierten Gruppen verübt, so waren sie doch für 58 Prozent der Terror-Todesopfer verantwortlich.[18]  

Gefährliche Abhängigkeit

Der Begriff „Sekte“ bezeichnet – umgangssprachlich – also nicht eine Lehre, sondern vielmehr Gruppenstrukturen. Sekten produzieren anstelle von individueller Freiheit Verantwortung, Abhängigkeit. Und sicher ist dem Weltanschuungsbeauftragten des katholischen Bistums Limburg, Lutz Lemhöfer, zuzustimmen, wenn er feststellt:

„Formen von Abhängigkeit und Intoleranz gibt es sicherlich auch in den großen Kirchen und Weltreligionen. Auch hier gibt es Menschen und Gruppen mit sektenhaften Zügen. Aber sie prägen nicht das Gesamtbild. Wo es lebendige Diskussion um die Wahrheit gibt, wo abwichende Meinungen ernst genommen werden und zu Reformen führen können, kann man nicht von einer Sekte sprechen. Das kann man vielmehr dort, wo Unterdrückung nach innen und Fanatismus nach außen sozusagen systembedingt und vom guten Willen des einzelnen nicht korriegierbar sind. Ob wir von einer Sekte sprechen können, entscheidet sich also nicht am Inhalt der Lehre, sondern an der Gruppenstruktur.“[19]  Die Bewertung dieser Gruppenstruktur drückt sich dann darin aus, ob wir von einer Sekte sprechen oder nicht. Wer etwa der Meinung ist, daß politische Gruppierungen von Strukturen dialogunfähiger Ausschließlichkeit geprägt sind, der mag von einer Politsekte sprechen. Und wer bestimmten Angeboten auf dem Psychomarkt nachsagt, sie würden seelische Abhäüngigkeiten schaffen, der spricht von Psychosekten. In diesem Sinn wird auch in diesem Buch der Begriff Sekte als zugegebenermaßen subjektive Wertung und Bewertung einer Organisation verwendet.

Selbstverständlich treffen die aufgeführten Kriterien niemals auf alle Sekten gleichermaßen zu. Die Intensität jener Faktoren, die abhängig machen, wird zudem bei den einzelnen Gruppierungen auch unterschiedlich sein.

Die vorgenommene Definition hilft freilich aus einem Dilemma nicht heraus: Der Begriff Sekte beschreibt nach wie vor sehr unterschiedliche soziale Erscheinungsweisen. Dies hat er mit anderen generalisierenden Begriffen gemeinsam. Auch „Fundamentalismus“ beschreibt ja sehr verschiedene Erscheinungen. Die Fundamentalisten innerhalb der Grünen sind etwas völlig anderes als bombenlegende islamische (christliche, jüdische) Fundamentalisten.[20]

Und doch können solche generalisierenden Begriffe für die Beschreibung von Grundstrukturen notwendig und hilfreich sein.

Wie arbeiten Sekten?

Immer wieder hört man in Diskussionen über Sektenmitglieder: „Das müssen doch alles labile Menschen sein. Mir könnte das nicht passieren!“ Doch es verhält sich anders.

Sicherlich haben Sektenmitglieder eine gewisse Grunddisposition. Derjenige, der sich der Osho-Bewegung anschließt, findet die Zeugen Jehovas mit ihren rigiden Moralvorstellungen sicherlich höchst unattraktiv. Auf der anderen Seite wird die Vereinigungskirche kaum für potentielle Krishna-Jünger interessant sein. Doch grundsätzlich sind wir alle empfänglich für geschickte Überzeugungsrechniken, man könnte auch sagen Manipulationstechniken. Oder haben Sie etwa noch niemals etwas spontan gekauft, das sich hinterher bestenfalls als unnötig, schlimmstenfalls als völlig überflüssig herausstellte? Die Seelenmanipulateure sind überall. Sie spielen im Kaufhaus funktionale Musik, schaffen dort für uns Inseln der Kommunikation oder präsentieren im Supermarkt vor der Kasse Süßigkeiten in Griffhöhe uneres Nachwuchses.

Wir alle unterliegen tagtäglich den Versuchen, unser Bewußtsein zu beeinflussen. Jedes Werben ist ein solcher Beeinflussungsversuch. Doch wann wird der Versuch zu überzeugen zu einem unredlichen Manipulationsversuch? Die Übergänge sind nicht nur in der Werbung fließend. Auch Sekten arbeiten mit Manipulationstechniken. Jede Sekte nutzt die eine oder andere Technik mehr oder weniger intensiv. Der amerikanische Psychiater und Psychologe Robert J. Lifton hat diese Techniken in besonders prägnanter Weise beschrieben.[21]

Bewußtseinskontrolle

Lifton setzte sich unter anderem auch mit Methoden der Gehirnwäsche auseinander, so wie sie die Chinesen im Koreakrieg praktizierten. Doch während die Gehirnwäsche an Gefangenen gegen ihren erklärten Willen durchgeführt wird, haben wir es bei Sekten mit einer völlig anderen Situation zu tun. Die einzelnen Sektenmitglieder unterziehen sich der Bewußtseinskontrolle (mind control, wie es Lifton nennt) scheinbar freiwillig. Es entsteht das Paradoxon der „manipulierten Freiwilligkeit“. Der Zustand der manipulierten Freiwilligkeit wird erreicht durch Techniken wie das „Love-Bombing“. Lifton spricht von einem ideologischen Totalitarismus. Als Kennzeichen des ideologischen Totalitarismus benennt er acht Kriterien:

            1. Milieukontrolle

            2. Mystische Manipulation (geplante Spontanität)

            3. Forderung nach Reinheit

            4. Kult des Sündenbekenntnisses (Beichtkult)

            5. Geheiligte Wissenschaft

            6. Manipulation der Sprache

            7. Vorrang der Lehre vor dem Menschen

            8. Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung.

Milieukontrolle:

Die Welt wird durch den Sektenschleicher betrachtet

Sekten steuern die Kommunikation ihrer Mitglieder. Sie müssen die Kontrolle über sie gewinnen. Das bedeutet zunächst, daß die Außenkontakte auf das notwendige Maß reduziert werden. Am besten glückt dies durch eine ausgeprägte Beschäftigung des Neulings. Seminare sind zu besuchen, die Hausarbeit und der Alltag sind zu organisieren. Lifton: „Oft gibt es eine festgelegte Abfolge von Ereignissen, wie Seminare, Vortrage und Gruppentreffen, die immer intensiver und immer isolierter werden und es einem dadurch – körperlich und geistig – außerordentlich schwer mach zu gehen.“[22]

Wer das Milieu seiner Anhänger wirkungsvoll kontrollieren möchte, schafft auch räumlich eine große Distanz zwischen dem „alten“ Milieu und dem neuen Umfeld. Es ist also kein Zufall, daß die Erfahrungsberichte der siebziger Jahre immer wieder davon erzählen, daß die jungen Leute innerhalb von wenigen Tagen nach der Anwerbung in ein fremdes Land gingen, um dort bei der Mission zu helfen. Ihre Pässe wurden sicherheitshalber von den Gruppenleitern verwahret. Der Telefonkontakt ist dabei kaum möglich. Aufgrund des Geldmangels können die Mitglieder nicht einfach Ferngespräche mit dem Ausland führen, und das Telefon der Sekte steht womöglich im für alle zugänglichen Gruppenraum. Hinzu kommt die Gruppendynamik. Neue Menschen sind kennenzulernen, man selbst muß seinen Platz in der neuen Gruppe suchen und finden. Womöglich muß man sich dabei einer fremden Sprache bedienen.

Lifton weist auch auf den Umstand hin, daß der Neuling einer völlig neuen Interpretation der Welt begegnet. Plötzlich wird alles durch die Brille der Sekte gesehen. Es legt sich gewissermaßen ein Sektenschleier über die Welt. Deshalb spielt auch die Nutzung von Medien keine Rolle. Auch dies ist ein Beitrag zur Milieukontrolle.

Mystische Manipulation (geplante Spontanität)

Mit „mystischer Manipulation“ oder geplanter Spontanität ist ein systematischer Prozeß gemeint, der scheinbar spontan entsteht, in Wirklichkeit aber von der Führung geplant ist.

Auch außerhalb von Sekten finden wir dieses Phanomen. Viele von uns kennen die scheinbar spontanen Bekehrungserlebnisse während einer Zeltmission. Selbstverständlich kann niemand in Abrede stellen, daß es sich bei solchen Bekehrungen um das Wirken des Heiligen Geistes handelt. Und die Zeltmission ist sicherlich keine Sekte. Aber zumindest wird dem Heiligen Geist auf die Sprünge geholfen, denn der Ablauf der Veranstaltung, die Musik und die Bekenntnisse von wiedergeborenen Christen schaffen ein Klima für solche scheinbar spontanen Bekehrungen.

Und als beispielsweise Mun noch nicht offen als Messias gehandelt wurde, mußte diese „Erkenntnis“ den Mitgliedern nahegelegt werden, In einem Sechs-StundenVortrag über die „göttlichen Prinzipien“, das theologische Grundwerk der Vereinigungskirche, heißt es:

„Die göttlichen Prinzipien stützen sich nicht auf konventionelle theologische Theorien, sondern sind eine neue Offenbarung die uns durch Reverend San Myung Mun von Gott gegeben wurde und uns den Willen Gottes sowie die Bedeutung seiner Vorhersehung der Erlösung ganz klar vor Augen führt. Wir wissen, daß Gott durch Noah und Abraham arbeitete und sein Wort durch Mose und Jesus kundtat. Warum sollte der gleiche lebendige Gott uns nicht auch heute eine neue Offenbarung zuteil werden lassen? … Gott hat sein Schweigen schon gebrochen. Hören wir Gottes Stimme im Gewitter oder finden wir ihn in Naturkatastrophen auf Erden? Die Geschichte beweist, daß Gottes Stimme in der Stille zu vernehmen war und zur stärksten Quelle des menschlichen Lebens wurde. Reverend Mun erhielt Gottes Offenbarung in der Stille im fernen Osten, …“[23]

Lifton beschreibt diesen Mechanismus so: „Ein Schema der Sekten ist heute, in einem bestimmten, „auserwählten“ Menschen den Erlöser oder eine Quelle des Heils zu sehen. Die mystische Manipulation kann in diesen Sekten eine ganz besondere Qualität annehmen, da die Führer zu Mittelsmännern Gottes werden. Die gottzentrierten Grundsätze könne zwingend vorgebracht und exklusiv beansprucht werden, so daß die Sekte und ihre Glaubensideen zum einzig wahren Heilsweg werden. Das kann der mystischen Manipulation Nachdruck verleihen und sowohl denjenigen, die sie betreiben, als oftmals auch denjenigen, die sie von unten her rezipieren, eine Rechtfertigung bieten.“[24]

Diese Rechtfertigung schließt auch das Phänomen der „himmlischen Täuschung“ ein. Denn wer der Sekte nicht angehört, befindet sich im Reich des Bösen. Und um der gerechten Sache willen, darf man schon einmal Außenstehende täuschen. So wird bei der Straßenmission der Gruppenname verschwiegen, oder man umgeht das Soindernutzungsverbot von öffentlichen Straßenraum, also das Verbot, auf den Bürgersteigen einen Informationsstand aufzubauen, indem man mit einem Rucksack auf dem Buckel pausenlos die Einkaufspassage entlang geht und gezielt Flugblätter verteilt.

Die Zeugen Jehovas werden in dieser Hinsicht recht deutlich: „Das Lügen schließt im allgemeinen eine Falschaussage gegenüber einer Person ein, die berechtigt ist, die Wahrheit zu wissen, mit der Absicht, sie oder jemand anders zu täuschen oder ihr bzw. dem anderen zu schaden. … Bösartiges Lügen wird zwar in der Bibel deutlich verurteilt, aber das bedeutet nicht, daß man verpflichtet ist, jemandem wahrheitsgemäß irgendwelche Informationen zu geben, die zu erhalten er kein Recht hat.“[25]

Forderung nach Reinheit und Kult des Sündenbekenntnisses

Die Forderung nach Reinheit ist eng verknüpft mit dem Kult des Sündenbekenntnisses. Die Lehre der Sekte, dies haben wir bereits gesehen, ist die absolute Wahrheit. Dies impliziert ein Schwarz-Weiß-Denken. „Entweder Du bist für Gott, oder gegen Gott“, könnte ein Sektenjünger in der Anwerberphase dem Neuling sagen. „Schließlich kannst Du ja auch nicht halbschwanger sein.“ Es geht bei Sekten um die einzig wahre, letztgültige Wahrheit.

Beichtkult: Schuld- und Schammechanismen als Druckmittel

Die reine Lehre muß bewahrt werden. Jede Form von Verunreinigung, und seien es nur unreine Gedanken, muß getilgt werden. Man muß seine unreinen Gedanken meist vor der Gruppe bekennen, was den Leitern wiederum Macht über den einzelnen verleiht. So werden Schuldgefühle und Scham verstärkt. Oft haben Sekten diesen Vorgang institutionalisiert.

Lifton nennt dies den „Kult des Sündenbekenntnisses“: „Ideologische Bewegungen, egal welcher Intensität, machen sich die Schuld- und Schammechanismen des Individuum szu eigen, um intensiven Einfluß auf diese Veränderungen zu gewinnen, denen der betreffende unterworfen ist. Dies wird erreicht in einem Bekenntnisprozeß, der seine eigene Struktur hat. In Sitzungen, in denen man seine Sünden bekennt, wird gleichzeitig nach bestimmten Mustern Kritik und Selbstkritik geübt. Dies geschieht meist in kleinen Gruppen unter einem aktiven und dynamischen Druck hin zur persönlichen Veränderung.“[26]

Im Universellen Leben soll allwöchentlich bei Kerzenlicht und in festlicher Kleidung ein Abendmahl abgehalten werden. Die Regieanweisungen sind geoffenbart durch „Schwester Gabriele“. Durch sie hat Christus angeblich gesagt:

„Vor dem Mahl halten einer oder zwei der Ältesten den Wochenrückblick: Alles Wesentliche, das Für und Wider, sollte offen ausgesprochen werden.

Die Ältesten, die der Gemeinde vorstehen, stellen der Gemeinde die Frage: Was war in der vergangenen Woche allgemein positiv und aufbauend und weshalb? Und: Wer oder was hat dazu beigetragen?

Die Gemeinde berichtet über das „Für“. Die Ältesten, die der Gemeinde vorstehen, werden sodann im Buch der Gemeinde die entsprechenden Vermerke anbringen. Auch die bemerkenswerten Taten der Glieder der Gemeinde für den Geist Christi, die zum Wohle und zum Wachstum der Gemeinde beigetragen haben, sollen im Gemeindebuch festgehalten werden.

Das gleiche geschieht mit dem „Wider“. Wer oder was waren die Ursachen der negativen Aspekte in der vergangenen Woche? Auch darüber werden Vermerke in das Buch der Woche eingetragen, das ein Teil der Gemeindebücher ist; auch wer die Verursacher oder Mitverursacher waren – und weshalb sie Schwierigkeiten und Probleme hatten oder noch haben.“[27]

Man kann sich die Szene allein anhand dieser „göttlichen Offenbarung“ gut vorstellen. Doch es geht noch weiter. Bei „schwerwiegenden Problemen“ ist wie folgt zu verfahren:

„Nach dem Abendmahl sollen Älteste, die hierfür in Frage kommen, mit eventuell noch von Schwierigkeiten oder Problemen Beladenen sprechen. Und so es um Zweite oder Dritte geht, sollen diese mit bei der Aussprache sein.“[28]

Wissenschaftsgläubigkeit

In einer Zeit, in der der Glaube an den permanenten Fortschritt zwar erschüttert, aber dennoch weit verbreitet ist, muß selbst im ideologischen Bereich die Wissenschaft alles beweisen. Beispielsweise umgibt sich die Vereinigungsbewegung gerne mit Wissenschaftlern, die sie zu Seminaren einlädt. Sie hat hierfür vornehmlich zwei Organisationen geschaffen: „The International Conference on the Unity of Sciences“ und die „Professors World Peace Academy“.

Die Transzendentale Meditation des Hindumönches Maharishi Mahesh Yogi versteht sich als Entspannungstechnik, deren Wirkung wissenschaftlich bewiesen werden könne. Eine eigene Privatuniversität, die „Maharishi International University“ und deren europäischer Ableger, die „Maharishi European Research Universitiy“ (MERU), entwickeln und verbreiten die „Wissenschaft der Kreativen Intelligenz“. In einem Forschungsergebnis der MERU wird darauf verwiesen, daß sich bei Studenten, die die Transzendentale Meditation praktizierten, im Vergleich mit Nichtmeditierenden eine Zunahme der Intelligenz ergab. Die eigenwillige Interpretation:

„Diese Ergebnisse weisen darauf hin, daß das Programm der Transzendentalen Meditation allgemein die Flüssigkeit der intellektuellen Abläufe erhöht. Das befähigt den Menschen, auf neue Situationen mit größerer Anpassungsfähigkeitm mehr Kreativität und besserem Verständnis einzugehen“.[29]

Manipulation der Sprache:

Einfache Sprache – einfaches Denken

Sprache ist das Spiegelbild des Denkens. Je differenzierter die Sprache, desto differenzierter das Denken. Ein einfaches Beispiel: Die Eskimos sollen gut zwei Dutzend Ausdrücke für „Schnee“ haben. In ihrer Umwelt spielt der Schnee eine besondere Rolle, was auch an der Sprache festzustellen ist.

Sekten gehen den umgekehrten Weg. Sie reduzieren die Sprache. Wer nur im Schwearz-Weiß-Schema denkt, braucht Farben erst gar nicht unterscheiden zu können. Es entwickelt sich eine Sprache der Einfachheit.

Doch darüber hinaus benutzt man die Sprache auch zur Milieukontrolle. Durch Umdefinition und neue Kunstwörter igelt sich beispielsweise Scientology gedanklich ein. „Scientology“ selbst ist ein Kunstwort. Es soll aus dem lateinischen Wort „scire“ und dem griechischen Wort „logos“ zusammengesetzt sein. Dieses „Wissen vom Sissen“ bringt dann Wörter und Begriffe wie „Aberration“, „Assist“, „Chaos-Händler“, „Clear“, „Entheata“ (bedeutet „enturbuliertes Theta“) oder „Mest“ hervor.

Auch werden Begriffe umdefiniert. Für Kommunikation findet sich folgende Definition:

„Die Betrachtung und Handlung, einen Impuls oder ein Partikel vom Ursprungspunkt über eine Entfernung zum Empfangspunkt hin zu schicken, mit der Absicht, am Empfangspunkt eine Duplikation und ein Verstehen dessen zu erzeugen, was vom Ursprungspunkt ausgesandt wurde.“[30] Der Brockhaus definiert Kommunikation dagegen so:

„Kommunikation (lat.), Austausch, Verständigung, Übermittlung und Vermittlung von Wissen, i. w. S. alle Prozesse der Übertragung von Nachrichten oder Informationen durch Zeichen aller Art unter Lebewesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) und/oder technischen Einrichtungen (Maschinen) durch technische, biologische, psychologische, soziale u.a. Informationsvermittlungssysteme.“[31]

Auch das „Universelle Leben“ verändert Sprache. Da wird keine Mitarbeiterin für die Apostelapotheke gesucht, sondern eine „Biene“, oder der Kräuterhof sucht „Bienen“ für Land- und Hauswirtschaft. Die Sektenanhänger sind so auch in ihrem eigenen Selbstverständnis zu Arbeitsbienen geworden, sie arbeiten nicht, sie „bienen“ eben.[32]

Vorrang der Lehre:

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Die Lehre wird über den Menschen gestellt. Sie hat Vorrang vor dem Menschen. Auch wenn es Widersprüche zwischen der jeweiligen Dogmatik und dem eigenen Erlegen gibt, führen diese nicht zur Kritik. Eher zu Schuldgefühlen, da man ja unwillkürlich den Gedanken „Hier stimmt was nicht“ in den Kopf bekommt. Das eigene Erleben wird also im Sinne der jeweiligen Lehre interpretiert. „Man lernt, Zweifel als eine Reflexion des eigenen Bösen zu empfinden.“[33]

Die Lust des Gurus Bhagwan/Osho am automobilen Luxus wurde von seinen Anhängern folgerichtig nicht als materieller Charakterzug des Gurus interpretiert. Vielmehr antworteten zahlreiche seiner Anhänger und Anhängerinnen, wenn man sie auf die zahlreichen Rolls-Roys ihres Gurus ansprach, etwa in diesem Sinn: „Bhagwan hat mir soviel gegeben, da ist es doch nur eine kleine Gabe, wenn wir ihm dieses ermöglichen.“ Sie huldigten ihm, wenn er im Ashram selbst kruze Strecken in der Luxuskarosse zurücklegte.

Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung

Der letzte Schritt der Bewußtseinskontrolle führt zu dem, was Lifton die „Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung“ nennt. Kennzeichen totalitärer Systeme ist es, daß sie einen absoluten Wahrheitsanspruch verfechten. Während man selbst im Besitz der Wahrheit ist, leben die anderen Menschen bestenfalls im Zustand der Unwissenheit, schlimmstenfalls sind sie Feinde, die mit dem Bösen paktieren. Diejenigen, die der Wahrheit entgegenstehen, sind Feinde, die keine Existenzberechtigung mehr haben. Sie werden bestenfalls im Endgericht blutig gerichtet, überleben das Ende der Welt nicht, oder sie werden schlimmstenfalls massiv bekämpft.

Die Zeugen Jehovas reden von Krieg, von einem theokratischen Kriegszug, und berufen sich dabei auf die Bibel:

„Gottes Wort gebietet: „Redet die Wahrheit“ ein jeder von euch mit seinem Nächsten (…) Dieses Gebot verlangt von uns jedoch nicht, daß wir jedem, der etwas von uns wissen will, alles sagen. Denen, die ein Recht haben, die Wahrheit zu erfahren, müssen wir die Wahrheit sagen, doch jemandem, der hierzu nicht berechtigt ist, können wir eine ausweichende Antwort geben. Aber wir dürfen nie die Unwahrheit sagen … Eine Ausnahme sollte der Christ jedoch stets im Sinn behalten. Als Soldat Christi nimmt er an einem theorkatischen Kriegszug teil, und den Feinden Gottes gegenüber muß er größte Vorsicht walten lassen. Die Bibel zeigt, daß es zum Schutz der Interessen der Sache Gottes angebracht ist, die Wahrheit vor den Feinden Gottes zu verdecken … Das käme unter die Bezeichnung „Kriegslist“, wie dies im Wachtturm vom 15. April 1956 erklärt wurde, und wäre in Übereinstimmung mit dem Rat Jesu …“[34]

Der Scientology-Konzern geht nicht zimperlich mit seinen Kritikern um. Ganz im Sinne seines Gründers Hubbard. Dessen Überzeugung war:

„Wir fanden niemals Kritiker der Scientology, die keine kriminelle Vergangenheit hatten. Wenn sie sich der Scientology in den Weg stellen, werden wir sofort nach ihren strafbaren Handlungen schauen – und wir werden sie finden und bloßlegen. Wenn sie uns aber in Ruhe lassen, werden auch wir sie in Ruhe lassen.“[35]

Offenbar wird dies von den Sektenmitgliedern durchaus eindeutig verstanden. Da werden Scientology-Werbepakete an Industrieverbände und -vereinigungen mit folgendem Anschreiben verschickt:

„Anbei sende ich Ihnen ein paar Unterlagen zur Kenntnisnahme. Ich hoffe, daß einige Leute soviel Durchblick haben und mithelfen, die Unterdrücker im zweiten Nazi-Deutschland langsam mal zu eliminieren.“[36]

Dies ist in der Tat die Sprache von neuen Herrenmenschen.

Gemäß der bei Scientology üblichen Sprachverwirrung spricht Scientology von „Ethik“ und meint etwas völlig anderes. „Ethik“ meint hier die Methode, „andere Absichten“, beispielsweise kritische, zu entfernen. So läßt Hubbard am 18. 10. 66 verlauten:

„Eine Person, die in den Ethik-Zustand des Feindes zurückgestuft worden ist, gilt als vogelfrei: Man darf ihr Eigentum abnehmen, sie in jeder Weise verletzen, ohne daß man von einem Scientologen bestraft wird. Man darf ihr Streiche spielen, sie verklagen, sie belügen oder vernichten.“[37]

Diese sogenannte „Fair game policy“ wurde inzwischen offiziell zurückgenommen. Interessant ist die Begründung: „Die Praxis, Leute zu Freiwild zu erklären, wird eingestellt. Fair Game darf in keiner Ethik-Anweisung erscheinen. Es verursacht schlechte Öffentlichkeitsarbeit. Dieser Richtlinienbrief hebt keine Richtlinie über die Behandlung oder Handhabung von ‚unterdrückerischen Personen‘ außer Kraft.“[38]

Obgleich also die Order zur Kritikerverfolgung, zynischerweise „fair game“ genannt, formal aufgehoben ist, soll die Behandlung wie bisher weitergehen. Denn die Anweisung erzeugte ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit. Das ist wirkliches Sektendenken.

Das Zu- und Aberkennen der Existenzberechtigung ist schon im sogenannten scientologischen „Ehrenkodex“ verankert. Der Punkt 12 lautet:

„Fürchte dich nie davor, einem anderen in einer gerechten Sache weh zu tun.“[39]

Die „gerechte Sache“ ist eben die der jeweiligen Gruppe. Dieser Satz ist Kern jedes totalitären Denkens und kann die Mitglieder in solche Katastrophen führen, wie sie in den letzten Jahren leider häufig geschahen. Wenn sich Menschen anmaßen über die Existenz anderer Menschen entscheiden zu dürfen, dann erheben sie sich über alle anderen. Wenn dies eine Gruppe tut, ob nun unter religiösem oder politischen Vorzeichen, dann ist sie eine Gefahr für den Frieden. 


[1]Vgl. Charles A. Krause, Die Tragödie von Guayana, Frankfurt 1978.

[2]Vgl. Pascal Auchlin/Pierre-André Schmitt, Die Reise in den Abgrund, in: facts Nr. 1/1996.

[3]Russell Miller, Eine tödliche Verirrung, in: SZ-Magazin vom 13. 4. 1995.

[4]Hugo Stamm, Sektenmassaker voraussehbar, in: Tagesanzeiger vom 31. 12. 1995.

[5]Faszination des Wahnsinns, in: Der Spiegel, 22. 5. 1995.

[6]Ebd.

[7]Nach anderen Quellen hatte sich Asahara bereits 1988 mit der Johannes-Apokalypse beschäftigt.

[8]David E. Kaplan/Andrew Marshall, Aum – Eine Sekte greift nach der Welt, Düsseldorf und München 1996, S. 113.

[9]Martin Repp, Religion und Gewalt im gegenwärtigen Japan – Der Fall Auom Shinrikyo, in: Dialog der Religionen, 6. Jahrgang, Heft 2/96, S. 190 ff.

[10]Repp führt die Radikalisierung von Aum auf die Erfahrung der Ablehnung, beispielsweise bei der Unterhauswahl, zurück. So habe sich Aum seit 1990 radikalisiert. Sicher ist eine Radikalisierung festzustellen, doch bereits im November 1989 werden der Rechtsanwalt Sakamoto, der mit der juristischen Vertretung von Anti-Aum-Gruppen befaßt ist, seine Frau und sein Kind getötet. Eine Aum-Anstecknadel wird in der Wohnung gefunden.

[11]Zitiert nach David E. Kaplan/Andrew Marshall, a.a.O.

[12]Ebd.

[13] Vgl. Robert Jay Lifton, Terror für die Unsterblichkeit – Erlösungssekten proben den Weltuntergang, München 2000, S. 366

[14]Der Spiegel, vom 7. 4. 1997, S. 119.

[15]Ebd.

[16] Zitiert nach: Christoph Kucklick, Hania Luczak, Christopher Reuter, Die Macht der Ohnmächtigen, in Geo 11/2001 S. 112 ff.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19]Lutz Lemhöfer, Was ist eine Sekte?, Hessischer Rundfunk, 2. Programm, 7. 4. 1997.

[20]Vgl.: Werner Huth, Fundamentalismus. Flucht in die Gewißheit, München 1995, das Interview mit Werner Huth in : Psychologie Heute, Februar 1997, S. 30 ff.

[21]Vgl. Robert Jay Lifton, The Future of Immortality and Other Essays for a Nuclear Age, New York, 1987. Die entscheidende Passage für unseren Zusammenhang findet sich bei Steven Jassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 315, 321. Die hier begrauchten Zitate sind dieser Fassuang entnommen.

[22]Robert Jay Lifton, a. a. O.

[23]Sechs-Stunden-Vortrag zitiert nach Eimuth/Oelke (Hg.), Jugendreligionen und religiöse Subkultur, Frankfurt 1979

[24]Robert Jay Lifton in: Steven Hassan, a. a. O., S. 317

[25]Einsichten über die Heilige Schrift, Bd. 2, 1992, S. 236-237

[26]Robert Jay Lifton in: Steven Hassan, a. a. O., S. 319.

[27]Universelles Leben (Hg.), Das ist mein Wort, Würzburg 1991, S. 979 f.

[28]Ebd.

[29]Grundsatzprogramm der Naturgesetz-Partei, die zum Umfeld der TM gehört.

[30]L.Ron Hubbard, Das Handbuch für den ehrenamtlichen Geistlichen, Kopenhaben 1980, S. 761.

[31]Brockhaus-Lexikon, Wiesbaden 1984

[32]Vgl. Kurt-Helmuth Eimuth, Sekten als Wirtschaftsunternehmen in: Christ/Goldner, Sekten in der Wirtschaft, FORUM-Spezial 10, 1996. S. 49.

[33]Robert Jay Lifton in: Steven Hassan, a. a. O, S. 320.

[34]Der Wachtturm. 1. 8. 1960, S. 479 f.

[35]Scientology-Kirche Deutschland, „Freiheit“, Juli/August 1979, zitiert nach Christoph Minhoff/Holger Lösch, Neureligiöse Bewegungen, München 1994, S. 149.

[36]Schreiben vom 2. 2. 1997 von K.S. (Der Name ist dem Autor bekannt).

[37]HCO PL – eine interne Verwaltungsabkürzung bei Scientology – vom 18. 10. 66.

[38]HCO PL vom 21. 10. 68.

[39]Church of Scientology International, Was ist Scientology?, Kopenhagen 1993, S. 583.

Wenn's ums Geld geht

Ehrlich gesagt, so richtig habe ich mich noch nicht an den Euro gewöhnt. Immer noch rechne ich schnell in die gute alte Mark um. Die menschliche Vorstellungskraft ist eben doch an den eigenen Erfahrungshorizont gebunden. Dies ist wohl ein Grund, warum im öffentlichen Bereich so munter drauflos gewirtschaftet wird. Schließlich liegen die Summen jenseits des Vorstellungsvermögens, wenn es um Millionen, vielleicht auch Milliarden geht. Oder können Sie sich vorstellen, dass Militärtransporter für 7 Milliarden Euro, das sind 7000 Millionen, angeschafft werden? Bezogen auf unsere private Bezugsgröße könnten davon etwa 14.000 komfortable Reihenhäuser in Frankfurt gebaut werden.
Der öffentliche Umgang mit Geld scheint allzu sorgenlos. Die jetzigen Haushaltsberatungen in der Stadt zeigen es. Trotz schwindender Einnahmen versuchen die Parteien ihr Klientel zu bedienen. Herauskommen wird vor allem eines: ein Defizit. Nun könnte man auch als Bürger durchaus mal mit einem Kredit leben. Aber wenn die Neuverschuldung immer weiter steigt, stellt man auf Dauer einen ungedeckten Scheck aus, den die nächsten Generationen bezahlen müssen. Nein, so darf es nicht weitergehen. Wir können nicht ständig mehr ausgeben als wir zur Verfügung haben. Und es ist eben Aufgabe des Parlaments, darüber zu entscheiden, ob sich Frankfurt als Kulturhauptstadt Europas bewerben will (geschätzte Kosten 40 Millionen Euro) oder ob eine 12 Millionen teure Olympia-Bewerbung wirklich notwendig ist. Oder ob man dafür Spielplätze in den Kindertagesstätten renoviert. Denn es ist viel Geld in der Stadt: Allein der Kulturetat beträgt 204 Millionen Euro. Das ist ein Vielfaches dessen, was die evangelische Kirche insgesamt für ihre 70 Gemeinden mit ihren 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufwenden kann: 80 Millionen Euro. Auch die Kirche führt derzeit wieder eine Diskussion ums Geld. Es wird eine Rangfolge der Arbeitsbereiche aufgestellt, denn nicht alles, was wünschenswert ist, ist auch bezahlbar. Das Ergebnis dieser Beratungen wird dann auch in dieser Zeitung nachzulesen sein. Es werden Einrichtungen geschlossen, wie das Familienferiendorf Mauloff, oder Gebäude verkauft, wie die Matthäuskirche, aber es werden auch neue Projekte geplant und umgesetzt, wie etwa die Jugendkulturkirche St. Peters. Denn nur wer den Mut zur Entscheidung hat, kann die Weichen für die Zukunft stellen.
Kurt-Helmuth Eimuth
Evangelisches Frankfurt: Februar 2002 · 26. Jahrgang · Nr. 1