Archiv für 7. Oktober 1996

City-Religion und Esoterik

Andacht Heiliggeistkirche 7.10.96

Orgelvorspiel

EG 44 1,2,4,5

Votum:

Wochenspruch: 1.Joh 4, 21

Dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe.

Mit diesem Wochenspruch feiern wir die Andacht im Namen des Vaters, und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen

Psalm 104, Nr. 743

Gemeinde: Lied 331, 1-3+11

Predigt:

Liebe Koleginen und Kollegen,

wir sind in Bewegung geraten. Ich meine nicht nur die vielen konzeptionellen Überlegungen. Nein, unübersehbar wird geräumt und geschleppt. Zahlreiche Einrichtungen ziehen um. Auch mein Büro ist jetzt im Rechneigraben.

Sozusagen zum Abschied lade ich sie heute morgen ein, mich gedanklich auf meinem bisherigen Heimweg, den ich 12 Jahre gegangen bin, von der Saalgasse ins Nordend zu begleiten.

Die Evangelische Arbeitsstelle für Religions- und Weltanschauungsfragen befand sich bisher in unmittelbarer Nähe des Römerberges in der Saalgasse. Mithin also in der City. Die City spiegelt wie kaum ein anderer Ort das moderne, säkulare Bewußtsein. Die religiösen Angebote haben sich nahtlos eingefügt. Hans Joachim Höhn hat hierfür den Begriff „City-Religion“ geprägt. Er schreibt: „Die Entsprechnungen zwischen Urbanität und Religiosität werden deutlich, wenn man ein Profil des interlektuellen, mobilen Stadtbewohners erarbeitet und es in Beziehung setzt zu den für die neue Kultszene typischen Strukturen von Angebot und Nachfrage. Die dabei gewonnenen Eindrücke über die Motivlage der Produzenten und Konsumenten rechtfertigen es, für die neue urbane Religiosität den Begriff ‚City-Religion‘ zu verwenden.“1 Die urbane Religiosität ist Teil des Marktes. Gelegentlich sieht man sie auch erst auf den zweiten Blick hinter ihrer säkularen Fassade.

Eine solch säkulare Fassade steht direkt gegenüber unserem Bürogebäude in der Saalgasse. Die Schirn, eine Kunst- und Ausstellungshalle, ist eines jener Gebäude, das mit ihren Säulen ihren Besuchern jenes erhabene Gefühl vermittelt, das wir Kirchenleute beim Betreten einer Kirche empfinden. Sind nicht überhaupt unsere Museen eher Musentempel und somit dann doch etwas Heiliges im Profanen. Kein Wunder, daß vor kurzem hier eine Ausstellung sich dem Thema Okkultismus widmete.

Doch schreiten wir weiter über den Frankfurter Römerberg, die Alte Nikolaikirche, als Tourismuskirche tagsüber geöffnet, hinter uns lassend, den Blick auf die Frankfurter Skyline gerichtet, gehe ich auf die Hauptwache zu. Schon lange überragen die Türme der Banken die der Kirchen. Und trotzdem – so meine These – ist Frankfurt nicht nur die Stadt der Banken, sondern auch die Stadt der Religionen. Denn es gibt sicherlich mehr Religionsgemeinschaften und religiöse Gruppen als Banken in dieser Stadt. Und Banken soll es immerhin 411 geben. Zum Glück gehört nur die kleinere Zahl zum direkten Beobachtungsfeld eines Sektenbeauftragten. Denn die überwiegende Zahl der Religionsgemeinschaften sind sozialpsychologisch betrachtet unproblematisch.

Zu den womöglich problematischen Erscheinungen gehören die halbjährlich in Frankfurt stattfindenden Esoterik-Tage.

Mein Blick fällt auf ein Plakat für die sogenannten „Esoterik-Tage“. Zweimal jährlich findet im Bornheimer Bürgerhaus die Esoterik-Messe statt. Die Geheimwissenschaft des Weges nach innen wird – ganz im Sinne einer City-Religion – gnadenlos vermarktet. Ob es allerdings der Erleuchtung wirklich egal ist, wie man sie erlangt, wie es in einem vielzitierten Szenesatz heißt, vermag ich nicht zu beurteilen.

Konsum, Kommerz und Religion folgen den gleichen Mustern. So wie ich meine Schuhe sofort besohlt bekomme, die Bilder in nur 30 Minuten abholen kann, so soll es auch mit meiner Entspannung und Erleuchtung sein. „Mindmachines“ folgen genau diesem Muster. Kopfhörer auf, Ton an, Brille auf, Elektronenblitze an, und schon soll sich dank der Wirkung auf das Hirn eine fühlbare Entspannung einstellen. Und es muß wohl mehr sein als Entspannung, sonst würden wir solche Angebote nicht auf der Esoterik-Messe finden.

Aroma-Therapie, Bachblüten-Therapie, Handlesen, Mindmachines, heilende Kristalle, Auraphotographie, Kartenlegen und Meditation werden dort ebenso wie in der Esoterik-Buchhandlung am Steinweg feilgeboten. Immerhin, so wird geschätzt, sollen etwa 10 % der Buchneuerscheinungen diesem Bereich zuzuordnen sein. Bei der am 2. Oktober beginnenden Buchmesse werde ich wie jedes Jahr feststellen können, daß auch die christlichen Verlage sich aus dem Lebenshilfebereich verabschiedet haben oder gar selbst esoterische Literatur anbieten. Selbst vor katholischen Verlagen macht dies nicht halt. Die Buchhandlung Herder, an der wir auf unserem kurzen Weg vorbeikommen, macht hier keine Ausnahme. Im ersten Stock steht neben der kritischen Literatur über Sekten das ganze Spektrum esoterischer Literatur. Kaum 100 Meter weiter begegnen wir vor der Katharinenkirche, in der wegen Urlaubes des Pfarrers gerade keine Andachten stattfinden, den rührigen PR-Aktivitäten der Bahai-Religion. Jugendliche Brake-Dancer werben für die Idee der Vereinigung aller Religionen. Internationalität als Verkaufsschlager für eine kleine Religionsgemeinschaft, die doch auch einen Wahrheitsanspruch hat. Überhaupt scheint sich dieser Platz zwischen Kaufhof und Katharinenkirche zu einer Art locus religiosus auszukristallisieren. Hier werben schon christlich fundamentalistische Gruppen mit dem Slogan „Lust zum Leben“ oder auch eine afrikanische Gemeinde mit uns fremden Heilungsverständnis und einer ordentlichen Portion magischen Gebetsverständnisses. Kaum Beachtung findet hier zwischen all dem Werben und all den Werbern die Skulptur von David und Goliath. Lediglich einige Obdachlose nutzen Goliath als Stütze und Ablage für die Bierflasche.

Anscheinend kommt es auf das besondere Erlebnis, auf den Kick an. Und so wird aus dem einfachen Warenhaus ein Erlebnishaus. Der Kunde soll erzählen können, wie er im italienischen Ambiente seinen Cappuccino trank oder im neuen lichtdurchfluteten Einkaufstempel Les-Faccettes – eine Mischung aus einem sich am Hang entlangschlängelnden Bergweg und amerikanischem Gefängnis – sich den Weg in die höheren Etagen des Konsums, vorbei am Internet-Cafe, bahnte.

Aber natürlich stehen vor diesen Erlebnishäusern die Werber für Sinn und Glück. Vor dem Kaufhof die Zeugen Jehovas. Gerade jetzt beginnt wieder eine neue Werbeoffensive der Wachtturmgesellschaft, deren leitende Körperschaft sich doch als „Kanal Gottes“ versteht. Und durch diesen Kanal erhalten wir schier unglaubliche Anweisungen, Kinder systematisch sozial auszugrenzen, ihnen jede demokratische Meinungs- und Willensbildung zu untersagen und bei Bedarf auch eine körperliche Züchtigung vorzunehmen. – Die deutsche Zentrale der Wachtturmgesellschaft ist im übrigen nicht weit von hier entfernt. Sie ist in Selters im Taunus. Dort leben und arbeiten 1 200 Zeugen Jehovas.

Doch zurück auf die Zeil. Vor Les-Faccettes ist ein charmant-dynamisches Trio am Werk. Man vermutet auf den ersten Blick jene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Umfrageinstituten. Doch die Umfrage entpuppt sich als Einladung zu einem Mangagement-Seminar. Damit auch gleich richtig sortiert wird, wird auch gefragt, wieviel man selbst bereit wäre, für eine solche Schulung auszugeben. Warum sollte man nicht unverbindlich und kostenlos einen Tag in der Akademie für Management und Kommunikation verbringen. Und sicher ist der Betriebswirtschaftsstudent davon angesprochen, daß hier das wahre, alltagstaugliche Wissen für den betriebswirtlichen Alltag vermittelt würde. „Oder“, so sagt der Werber, „fühlst Du dich durch die Uni auf den Berufsalltag hinreichend vorbereitet?“ Natürlich nicht. Trotz großer Aufklärung finden diese Werber immer noch Menschen, die zu ihnen kommen, nicht ahnend, daß es sich bei der Akademie für Management und Kommunikation in Wahrheit um einen Zulieferbetrieb für Scientology handelt.

Auf dem Weg ins Nordend hole ich schnell noch in der Naturbar eine biologische Brottasche für meine Tochter. Mindestens einmal monatlich muß ich hier einkehren, um beispielsweise den Einblick, eine Art esoterische Stadtzeitung, die kostenlos in einer Auflagehöhe von 8 000 Exemplaren verteilt wird, mitzunehmen. Daneben liegen zahlreiche Prospekte für NLP, Yoga-Kurse oder auch Psychokurse in der Toskana. Zum Glück hat sich meine Kirchengemeinde diesem Markt gestellt. Wir selbst bieten wöchentlich eine Meditation mit Elementen des Zen dort an. Der Frankfurter Ring darf Konzerte hier durchführen und auch eine Vereinigung von frommen Christen lädt allmonatlich zum Lobpreisgottesdienst.

Die von Midlifekrisen bedrohte Mittelschicht hat also ein vielfältiges Angebot. Der gebildete und gutverdienende Stadtbewohner sucht eben neben Kommerz und Karriere auch Kultur; er braucht ein spirituelles Sinnsystem, das seinem sozialen Status und Kontext entspricht. Doch Religion, zumal christliche Religion, ist keine Handelsware, die im Ex und Hopp Rhytmus der City vermaktbar wäre.

Ein pures, religiöses Erlebnis ohne Glauben ist für Christen und Christinnen nicht machbar. Nichts anderes meint die Losung für den heutigen Tag aus dem 86.Psalm, der Vers 11: „Erhalte mein Herz bei dem einen, daß ich deinen Namen fürchte.“

Hier wird von Herz gesprochen. Glauben ist Herzenssache und kann deshalb nicht einfach in die Konsumgewohnheiten eingepaßt werden.

Und obwohl wir mit Sicherheit uns den Anforderungen des Marktes stellen müssen, kann unser Glauben nicht zur Ware verkommen.

Amen

Gemeinde: Lied 324, 1-4, 12-13

Mitteilungen:

Gebet

Guter Gott,

Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren,

wir bitten dich:

für alle, die einsam oder allein sind: daß sie Nähe erfahren;

für die, die um einen geliebten Menschen trauern: daß sie Trost finden;

für die Kranken in der Nähe und in der Ferne: daß sie Kraft bekommen;

für die Verzweifelten, die aufgeben wollen: daß sie wieder Mut schöpfen;

für alle, die leiden unter den Ungerechtigkeiten: daß sie Recht erfahren;

für alle, die sich nach einem besseren Leben sehnen: daß sie Leben in Fülle finden.

mit den Worten die Christus uns gelehrt hat:

Vater unser im Himmel,

geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe,

wie im Himmel so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Segen:

Geht in diesen Tag, in diese Woche mit dem Frieden

unseres Gottes:

Der Herr segne dich und behüte dich,

Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir

und sei dir gnädig.

Der Herr hebe sein Angesicht auf dich und

gebe dir Frieden. Amen.

Lied: 421 (1)

Orgelnachspiel

1 Hans-Joachim Höhn, City-Religion – Soziologische Glossen zur „neuen“ Religiosität, in Forum – Materialien und Beiträge zum religiösen Dialog, Nr. 6, April 1990, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Neue Religiöse Gruppen e.V.

Erziehung zur Unfreiheit


Kurt-Helmuth Eimuths Buch über die Sektenkinder

Jugendsekten sind seit langem ein Thema in den Medien. Weniger Aufmerksamkeit schenkt man bisher den Sektenkindern. Gemeint sind damit jene Kinder, die in eine Sekte hineingeboren werden bzw. durch den Eintritt der Eltern in eine Sekte gelangen und so von klein auf im Sinne der Sekte erzogen werden. Über diese Kinder hat der Leiter der Evangelischen Arbeitsstelle für Religions- und Weltanschauungsfragen in Frankfurt/M. Kurt-Helmuth Eimuth jetzt ein Buch vorgelegt.

Beispielhaft wird an acht Sekten aufgezeigt, welche Formen eine solche Erziehung, die auf totale Vereinahmung ausgerichtet ist, annehmen kann. Und welche Folgen sie für die Kinder hat! Auch wenn die von Eimuth ausgewählten Gruppen ein buntes Spektrum an Weltanschauungen repräsentieren – von Fernöstlichem wie Krishna und Thankar Singh über Altbekanntes wie Zeugen Jehovas und Scientology bis hin zu Modernem wie der Neocharismatischen Bewegung – eines haben sie alle gemeinsam: Die Grundwerte der Erziehung, wie sie unser Kinder- und Jugendhilfegesetz formuliert, nämlich Förderung der Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit, werden durch vollständige Anpassung und blinden Gehorsam gegenüber der Sekte ersetzt. Das Buch belegt dies durch zahlreiche Beispiele, die zum Teil eine erschütternde Lektüre darstellen.

Eimuth stellt zurecht die Frage, ob derartige Praktiken durch die vom Grundgesetz verbriefte Religionsfreiheit gedeckt werden oder ob hier nicht Reaktionen von staatlicher Seite erforderlich sind. Die SPD-Fraktion im Bundestag hat jedenfalls vor einigen Wochen das Buch von Eimuth zum Anlaß genommen, die Einrichtung einer Kommission aus Parlamentariern und Sachverständigen zu fordern, die sich mit diesem Problemkreis befaßt.
(da)

Kurt-Helmuth Eimuth:
Die Sektenkinder. Mißbraucht und betrogen –
Erfahrungen und Ratschläge.
Reihe Herder Spektrum.
Herder Verlag, Freiburg/Br., 1996