Kurt-Helmuth pflegt seit 6 Jahren seine Frau, die gelähmt ist und nicht sprechen kann. In Deutschland gibt es 4,1 Millionen Pflegebedürftige. Rund vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt. Meist erfolgt die Pflege durch pflegende Angehörige. Häufig unterstützt sie dabei ein ambulanter Pflegedienst. Offen spricht Kurt über die Situation und darüber, was sich verbessern muss.
Archiv für Pflege
Fünf Punkte für eine dringend notwendige Pflegereform
von Kurt-Helmuth Eimuth 4. August 2021
Die größte Gruppe von Menschen, die in der Pflege tätig sind, gingen bei der jüngsten Reform leer aus: die Angehörigen. Unser Autor, selbst pflegender Angehöriger, nennt fünf Punkte, die dringend nötig wären, um die Situation kurzfristig zu verbessern.
Die Pflegeversicherung wurde in Deutschland 1995 eingeführt, gegen den Widerstand der Wirtschaft, die eine weitere Belastung durch Sozialabgaben ablehnte. Als Kompromiss wurde ein gesetzlicher Feiertag, der evangelische Buß- und Bettag abgeschafft. Heute profitieren rund 4,1 Millionen Menschen von ihr.
Doch Vorsicht: Die Pflegeversicherung ist anders als die Krankenversicherung nur eine Teilkaskoversicherung. Das heißt, ein erheblicher Teil der Pflegekosten muss selbst aufgebracht werden. So übersteigen zum Beispiel die Heimkosten den Zuschuss der Pflegeversicherung oft erheblich, und auch bei der ambulanten Pflege ist der Zuschuss der Pflegekasse schnell aufgebraucht.
Rund 3,3 Millionen pflegebedürftige Menschen werden derzeit zuhause versorgt, davon 2,1 Millionen ausschließlich von ihren Angehörigen. Die von der Regierung im Koalitionsvertrag vereinbarte Verbesserung und Entbürokratisierung der Pflege wurde im letzten Moment bei der Pflegereform im Juni wieder gestrichen. Das Diakonische Werk Hessen Nassau stellte fest: „Die notwendige, umfassende Reform des Pflegesystems ist nicht erreicht! Eine demografiefeste und für alle Menschen bezahlbare Pflege ist nicht in Sicht.“
Was wäre zu tun? Unser Autor, selbst pflegender Angehöriger, hat die wichtigsten fünf Punkte zusammengetragen:
Erstens: Die Pflegeversicherung muss die entstehenden Kosten in ähnlicher Höhe wie die Krankenversicherung abdecken. Für die Grundversorgung muss vollumfänglich gesorgt sein: Vollkasko statt Teilkasko.
Zweitens: Die Abrechnung muss entbürokratisiert werden. Eigentlich war bei der jüngsten Pflegereform geplant, Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege zu einem Budget zusammenzufassen. Das wäre ein erster Schritt gewesen. So wie die Abrechnungsmodalitäten jetzt sind, verhindern sie, dass zahlreiche Anspruchsberechtigte die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen. Dies ist zutiefst unsozial.
Drittens: Das Pflegegeld ist jährlich an die Inflationsrate anzupassen. Der relativ neue Entlastungsbetrag (125 Euro monatlich) kann derzeit zur Bezahlung von zertifizierten Dienstleistern genutzt werden, dazu kann auch die Reinigung der Wohnung gehören. Allerdings: Es finden sich kaum Angebote hierfür bei den Anbietern. Hinzu kommt, dass die Ausführungsbestimmungen in den 16 Bundesländern unterschiedlich sind. Selbst Nachbar:innen müssen sich erst qualifizieren, wenn sie einen Obolus aus diesem Budget erhalten sollen. Einfacher und eine wirkliche Entlastung wäre es, wenn das Pflegegeld um den Entlastungsbetrag aufgestockt würde.
Viertens: Pflegende Angehörige sollten die Möglichkeit erhalten, ihre Berufstätigkeit vorübergehend einzuschränken oder aufzugeben, ohne zu verarmen und ihre Arbeitsstelle zu verlieren. Für entsprechende Regelungen könnte das Elterngeld Pate stehen.
Fünftens: Die derzeit je nach Pflegegrad verpflichtende halb- oder vierteljährliche Pflegeberatung ist sicher hilfreich und auch im Sinne der Pflegenden eine Kontrolle. Doch sollten die Berater:innen auch in Sachen Finanzierung kompetent sein. So könnte die Beratung wirklich einen Lotsendienst erfüllen.
Pflegereform: Die pflegenden Angehörigen schauen in die Röhre
von Kurt-Helmuth Eimuth 15. Juni 2021
Während professionelle Pflegekräfte durch die Pflegereform auf mehr Geld hoffen können, gehen Angehörige leer aus: Anders als im Entwurf vorgesehen wird das Pflegegeld für sie doch nicht angehoben. Und, was fast noch schlimmer ist: Auch das versprochene Pflegebudget wird es nicht geben, die Abrechnungsmodalitäten bleiben also weiterhin ein bürokratischer Kraftakt. Das ist zutiefst unsozial.
Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode hat die regierende große Koalition im Bund doch noch ein Gesetz hinbekommen, das auf eine faire Bezahlung von Pflegekräften abzielt. Allerdings sind von der Öffentlichkeit fast unbemerkt diejenigen Teile des Gesetzesentwurfes gestrichen worden, die die ehrenamtliche Pflegearbeit der Angehörigen gestärkt hätten. Dies betrifft vor allem das Pflegegeld, aber auch die Vereinfachung der Abrechnungsmodalitäten.
Auf Anfrage hin teilte das Bundesgesundheitsministerium zur Begründung mit: „Aufgrund der pandemiebedingten Umstände war es nicht mehr möglich, einen eigenständigen Gesetzgebungsprozess zur Pflegereform in Gang zu setzen.“ Das klingt aber vorgeschoben. Noch wenige Wochen vor der Entscheidung im Bundestag stand ja zumindest eine Anhebung des Pflegegeldes im Entwurf.
Pflegegeld erhalten die Pflegebedürftigen, um damit etwa Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Betreuung auszugleichen. Oft wird es genutzt, um pflegende Angehörigen, die ihren Beruf aufgegeben haben, damit sie die 24-Stunden-Pflege zu Hause stemmen können, zu entschädigen.
Diese Form der Pflege, die häusliche Pflege, ist keine Kleinigkeit, sondern sie ist das Rückgrat unseres Pflegesystems: Rund 2,9 Millionen Menschen sind in Deutschland pflegebedürftig. Davon werden 2,08 Millionen zu Hause versorgt, 1,39 Millionen davon von Angehörigen und Bekannten. Demgegenüber stehen 783 000 Pflegebedürftige, die in Einrichtungen gepflegt werden.
Die pflegende Care-Arbeit zu Hause, meist von Frauen geleistet, wurde also im Kern bei dieser Reform nicht berücksichtigt. Lediglich das Budget für die ambulanten Dienste wurde erhöht, um auch hier Kostensteigerungen, die durch verbesserte Zahlung der Pflegekräfte entstehen, auszugleichen. Die professionelle Hilfe wurde gestärkt, aber der größte Bereich der Pflege ging leer aus. Und dies ist keine Kleinigkeit. Seit Januar 2017 wurde das Pflegegeld nicht erhöht. Die fünfprozentige Steigerung, die im Entwurf noch vorgesehen war, wäre also mehr als angemessen gewesen.
Noch im Koalitionsvertrag hatte man zudem versprochen, verschiedene Leistungen in einem Entlastungsbudget zusammenzufassen. „Damit können wir“ so hieß es im Koalitionsvertrag vor vier Jahren, „erheblich zur Entbürokratisierung in der ambulanten Pflege beitragen, die häusliche Versorgung stärken und pflegende Angehörige entlasten.“ Das wäre schön gewesen.
Für die Angehörigen ist es oft ein Ritt durch Instanzen und Verordnungen. Ein kleines Beispiel: Der Bund beschließt einen monatlichen Betrag für ambulante Pflege von 125 Euro. Die Ausführungsbestimmungen überlässt er den Ländern. Das heißt, es gibt 16 verschiedene Ausführungsbestimmungen. In Hessen lässt man sich Zeit. Es dauert fast zwei Jahre, bis die Ausführungsbestimmungen kommen, erst dann können Angehörige das Geld bekommen. Zu Pandemiezeiten wird in Hessen per Verordnung die Möglichkeit des Zugriffes erweitert, wenn man nachweist, dass man einen Hol- und Bringdienst bezahlt. Nur wer informiert die Angehörigen? Das Hessische Sozialministerium verweist auf die Internetseite und schreibt auf Anfrage: „Auf dieser Plattform wird beispielsweise auch informiert, dass das Leistungsangebot der Unterstützungsleistungen im Alltag bis zum 30.06.2021 um die sogenannten „Dienstleistungen bis zu Haustür“ erweitert wurde.“
Interessehalber habe ich selbst das einmal ausprobiert und diese Dienstleistung abgerechnet: Weder die Krankenkasse noch die Beihilfe kannten offenbar diese Erweiterung und verweigerten die Zahlung. Diese Erfahrung machen pflegende Angehörige immer wieder: Bevor sie Geld, das ihnen rechtlich zusteht, auch bekommen, müssen sie ein langes Procedere absolvieren mit Einspruch, Begründung und viel Geduld.
In der Tat hätte das in der Pflegereform ursprünglich versprochene Entlastungsbudget, dessen Ziel es war, das alles zu vereinfachen, viel Geld gekostet. Aber nicht, weil neue Leistungen hinzugekommen wären, sondern weil mehr Menschen die Hilfen, die ihnen zustehen, auch in Anspruch genommen hätten. 2016 gab man für solche Leistungen 2,6 Milliarden Euro aus. Würde nur ein Viertel der Anspruchsberechtigen die Leistungen des einst anvisierten Entlastungsbudget abrufen, würde es zehn Milliarden Euro kosten.
Es beschleicht einen der Verdacht, dass die bürokratischen Hürden auch dazu dienen, Geld zu sparen. Oder ist das zu einfach gedacht? Mitnichten. Auf eine Anfrage unsererseits im Jahr 2018 teilte das Gesundheitsministerium genau das mit: Eine pauschale Abrechnung sei nicht möglich, weil das den Finanzrahmen sprengen würde.
Der derzeitige bürokratische Pflegedschungel ist also gewollt oder, wie die Jurist:innen sagen, er wird billigend in Kauf genommen. Aber er ist zutiefst unsozial. Denn es können sich nur diejenigen zu ihrem Recht verhelfen, die neben der eigentlich Pflegearbeit sich auch noch Woche für Woche viele Stunden Zeit haben, und die nötige bürokratische Kompetenz, um sich mit Krankenkassen, Pflegekassen und Abrechnungsvorschriften und dergleichen auseinanderzusetzen.
Trotz einiger Verbesserungen im professionellen Care-Bereich, die bei den Pflegekräften hoffentlich auch ankommen, sind der Bundesgesundheitsminister und die Große Koalition mit diesem Gesetzentwurf ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. In die Röhre schauen die pflegenden Angehörigen.
Angehörige erzählen: Marion und Kurt-Helmuth Eimuth
Von Constanze Angermann
Wir werden freundlich, aber bestimmt empfangen. Keinen Schritt dürfen wir in die gemütliche, lichtdurchflutete Wohnung machen, ohne uns vorher die Hände desinfiziert zu haben. Direkt neben der Eingangstür steht eine kleine grüne Flasche, die allen Besuchern in die Hand gedrückt wird. Marion Eimuth beobachtet das Ritual vom Wohnzimmer aus und gibt einem erst dann die Hand. Und dann nimmt sie auch die Blumen. Er holt noch Wasser – für uns und für die Blumen –, und dann setzen wir uns an den Tisch.
Die Bilder lassen ihn nicht los. Wie seine Frau, schon benommen, noch versucht, aufrecht zu gehen, bis zum Krankenhaus. Wie sie die lange Fahrt inklusive Irrweg des Taxifahrers noch durchhält, bis sie dann, als sie das Krankenhaus endlich erreicht haben und längst ahnen, dass etwas Schlimmes passiert ist, im Flur an der Anmeldung zusammenbricht. Sie kann sich nicht daran erinnern, auch nicht an die Angst. Aber ihm steckt das in den Knochen. „Sie war bewusstlos, sie war weg.“
Das, was er erlebt hat, war auch Antrieb: Ein Dreivierteljahr hatte er, um alleine ihr zukünftiges Leben zu organisieren. „Hätten die mich in der Reha gefragt, ob sie noch zwei Wochen bleiben soll, hätte ich auch nicht nein gesagt.“ Er wollte vorbereitet sein. Auf die Aufgabe, die er seitdem hat. „Das wird immer unterschätzt. Das ist ein Fulltime-Job. Den ganzen Tag sind Sie in Sorge und damit beschäftigt, das alles irgendwie hinzukriegen. Da kommt der Beruf – und alles andere – erst an zweiter Stelle. Und das funktioniert nicht. Das setzt einen unter Druck.“ Morgens tut es inzwischen beiden gut, immer zur gleichen Zeit aufzustehen, damit sie vor seiner Arbeit alles schaffen. Zwei Stunden brauchen sie für Waschen, Anziehen, Frühstück. Denn sie kann nichts mehr alleine machen.
Ein Schlaganfall. „Erst als ich Stroke Unit gelesen habe, wusste ich, was passiert ist.“ Ein schwerer Schlaganfall, der ihr fast alles nahm. Sie konnte nicht mehr sprechen, sie konnte sich nicht mehr bewegen, sie konnte nicht mehr schlucken. Allein das wieder zu lernen hat drei Monate gedauert. Und war so wichtig, da die künstliche Ernährung eine Belastung für den Körper ist, sorgfältig gemacht werden muss, da sie sonst Entzündungen hervorruft. Nicht jeder kann da so nachfragen – wie er. Und so viel lernen – wie sie. Nach einem halben Jahr brachte sie wieder einen Ton heraus.
Heute räuspert sie sich, lacht, stöhnt, singt und sagt Ja in 150 verschiedenen Variationen. Nein aber auch. „Sie glauben nicht, wie ein Nein moduliert werden kann! Sie kann auch schimpfen!“ Erzählt er mit einer Mischung aus Freude und Bedauern. Alle Jas und Neins werden begleitet von einer ihnen eigen gewordenen Gebärdensprache. Und in der ist kein Platz für einen falschen Ton. Sie sind einander ehrlich zugetan, das ist der wertvollste Teil der Pflege. Trotz ihrer Einschränkung schaut er nicht auf sie herab, sondern ihr in die Augen. Auch oder gerade, wenn sie Nein sagt. Es geht vom gehauchten und gelächelten Nein bis zum deutlichen und nachdrücklichen. Aber niemals ist es scharf. Ihr Nachdruck ist leise geworden. „Sie glauben doch nicht, dass wenn Besuch kommt und sie einen Fussel entdeckt, dass der da liegen bleiben kann. Der muss weg. Und das muss dann sofort passieren.“ Und beide lachen.
Sie könnten auch weinen. „Das Leben ist einfach so. Es gibt keinen strafenden Gott, der uns das angetan hat. Das ist nicht unsere Vorstellung.“ Deshalb fragen sie sich auch nicht, warum ihnen das passiert ist. „Klar könnte man fragen, warum wir. Aber man könnte auch fragen, warum nicht wir. Probleme muss man lösen. Ich habe immer so gearbeitet, da mache ich das hier genauso.“ Also löst er ein Problem nach dem anderen. Und es sind genug.
„Die erste Frage in der Reha war: ‚Ist eine Heimunterbringung geplant?‘ Da haben meine Tochter und ich wie aus einem Munde Nein gesagt. Nein, wir wollten nicht, dass sie ins Heim kommt. Aber wir wussten auch nicht, wie es wird. Und wissen es auch jetzt noch nicht.“ Sie mussten ausziehen aus ihrer großen Wohnung, in der sie zu viert und zu dritt gelebt hatten. In eine Wohnung mit Aufzug. Der ist klein. Da passt Marion Eimuth gerade mit ihrem Rollstuhl rein. Sonst nichts. „Zwei Wochen, bevor wir hier eingezogen sind, haben wir erst mal probiert, ob das überhaupt geht. Denn sonst hätten wir in diese Wohnung nicht einziehen können.“ Da die Wohnung aber nicht behindertengerecht gebaut war, mussten sie das Bad umbauen. Die Pflege beantragen, mit Verwandten sprechen, ob sie nach ihr schauen, wenn er arbeitet, Windelgeld beantragen, einen Rollstuhl. „Das sind alles verschiedene Adressen. Das macht nicht der Arzt, der sie kennt. Sondern andere Stellen, die dann aber wieder an den Arzt verweisen, da es ein Rezept, eine Verordnung sein muss. Der weiß doch gar nicht, was er im Laufe der Jahre alles verordnet hat.“ Ein Stehpult beantragen, an dem sie mit Mühe eine halbe Stunde am Tag steht, damit die Organe sich mal ausbreiten können. Denn sie werden durch das Sitzen dauernd gequetscht.
Die Krankengymnastik beantragen. Die Krankenkasse hat nun geschrieben, dass es medizinisch gesehen keinen Grund gebe, die Gymnastik weiterhin drei Mal die Woche zu finanzieren. Dabei lernt seine Frau, in kleinen Schritten, immer mehr zu bewegen. Sie bekommt wieder Kraft. Es gibt ein Gutachten dazu. Die Krankenkasse interessiert sich nicht dafür. „Wir bewegen uns hier in Absurdistan. – Also Anwalt“, sagt er. Und zuckt mit den Schultern. Sozialgericht. „Aber das dauert anderthalb Jahre, bis Sie da ein Urteil haben.“ Bis dahin bezahlt er die Krankengymnastik von seinem eigenen Geld, da er sieht, wie gut das seiner Frau tut. „Aber wer kann das schon?! Wir haben beide gute Jobs, meine Frau ist Kirchenbeamtin. Ich klemme mich dahinter, wir bekommen fast alles. Aber wer kann das denn sonst so machen? Sich auseinandersetzen mit Leuten, die eine ganz andere Sprache sprechen. Da immer wieder nachhaken.“ Nerven.
Er tut das. Und kämpft so auch gegen die Ohnmacht der erschöpften Pflegenden. „Krankheit macht arm. Sie haben ja Kosten. Für den Rollstuhl das Zusatzrad. Damit Sie in Frankfurt über das Kopfsteinpflaster fahren können. Ich möchte wirklich mal, dass der gesamte Frankfurter Magistrat mit dem Rollstuhl über den gepflasterten Römer fährt. Das halten Sie keine fünf Minuten aus. Warum macht man da keinen glatt asphaltierten Weg? Woanders gibt’s das. Da benutzen den die Radfahrer“, sagt er trocken. „Wenn es neu gemacht wird, hat man manchmal die Chance. Aber da muss man schon laut schreien, sich deutlich bemerkbar machen. Was denken die sich eigentlich dabei?“ Auch da kämpft er, und man fragt sich, woher er die Kraft dafür nimmt.
Natürlich gibt es schwere Tage. Aber die haben sie eigentlich nicht miteinander. Sondern nur wenn Kurt-Helmuth Eimuth einen Termin hat, weg muss und irgendwas von den vielen kleinen Dingen nicht so klappt – dann gerät er unter Druck. Der baut sich nicht so leicht wieder ab. Denn er ist ja eingebunden. In seine Arbeit. Er plant die evangelischen Kitas in Frankfurt. Noch ein Jahr, dann geht er in Rente. Bis dahin will er noch ein Buch fertig schreiben. Aber auch wenn er im Ruhestand ist, wird er arbeiten, etwas gestalten. „Nur pflegen, das könnte ich mir nicht vorstellen.“ Das will auch seine Frau nicht. Sie ist einerseits froh um die vielen Leute, die sich um sie kümmern. Andererseits furchtbar erschöpft. Denn jeder Mensch ist ein Reiz, jede Frage, die ihr gestellt wird, jedes Wort, das an sie gerichtet wird. Und jedes Wort, nach dem sie sucht.
Die Logopädin kommt vier Mal die Woche; er schleppt eine Liste mit Wörtern an, die sie gerade lernt. Sie weiß, wie leicht es ist, sie auszusprechen; deshalb ist es so schwer für sie zu ertragen, dass sie es nicht kann. Denn sie muss jedes einzelne wieder lernen. Sie hat es auf der Zunge, aber sie findet den ersten Buchstaben nicht. Er gibt ihn ihr. Und dann klappt es: „Käse, Wein, Banane.“ Und – sehr deutlich: „… zum Zeitpunkt der …“ – „Das ist ein Platzhalter“, erklärt er. „Wenn sie etwas will und ich noch nicht das Richtige gesagt habe …“ Er rät sich durch die möglichen Antworten durch. Bis sie mit einem Leuchten in den Augen bejaht, weil er das Richtige getroffen hat. Sie hat alles im Kopf und arbeitet daran, es auch über die Zunge und die Lippen zu bekommen. „Und sie schafft das. Die Frau ist ehrgeizig!“ Man hört den Stolz in seiner Stimme. „Meine Tochter ist übrigens viel besser im Raten!“ Sie nickt, ein Lächeln schleicht sich in ihre Augen. Wenn die Tochter da ist, die wegen der Gesundheit in Kiel lebt, dann geht das den ganzen Tag so. Aber sie ist auch völlig fertig danach. „Das ist anstrengend, wirklich anstrengend für sie, aber eben auch schön.“ Ihre Tochter vermisst sie, um sie macht sie sich Sorgen. „Wenn wir nicht mehr sind …“ Das sieht man Marion Eimuth an; das muss sie gar nicht sagen. „Aber“, sagt er, „meine Tochter ist 36. Sie hat sich ihr Leben organisiert, selbst wenn auch sie ein nicht ganz einfaches hat. Die kann das. Und ich kann das nicht auch noch. Ich habe hier meine Baustelle.“
Die fordert ihn. Jeden Morgen, jeden Abend. Das gleiche wichtige Ritual, das ihr Leben zusammenhält. Sie haben gemerkt, dass es nur so geht. Den Ausflug mit dem Rollstuhl, die gemeinsame Runde, die gibt es nur am Wochenende. Denn die ist mühsam und kostet Stunden. Manchmal drehen Verwandte oder Freunde die Runde mit ihr. Denn er muss auch noch ihr Elternhaus ausräumen. Seit Generationen hat es der Familie gehört. Das herzugeben tut ihr weh. Aber sie sieht, dass sie nie mehr hinkommt. Und deshalb räumt er es jetzt aus, so wie er damals die große Wohnung leer geräumt hat. Sie musste sich von ihrem Geschirr trennen, er sich von seiner Modelleisenbahn. Denn die neue Wohnung ist nur halb so groß. „Genug Geschirr haben wir aber noch immer.“ Und ein paar Modellhäuschen und Bahnen auch noch. Und viele Bücher. „Meine Frau kauft sie immer, und die anderen lesen sie dann vor.“ Nur ein paar Zeilen schafft sie. Dann legt sie das Buch doch weg. Lesen ist für sie zu anstrengend.
Denn ihr Hirn steht unter Stress. Denn nach dem Schlaganfall bekam sie eine Lungenentzündung. Spät noch, es ging ihr schon deutlich besser, sie machte Fortschritte. Die Ärzte hatten nicht mehr damit gerechnet – und plötzlich die Lungenentzündung, schwere Krämpfe und epileptische Anfälle. Sechs Wochen lag sie im künstlichen Koma. Sechs Wochen lang fragte er sich, ob sie je wieder eigenständig atmen würde. „Atmen ist leben.“
Seither kann sie nicht mehr alleine aus dem Rollstuhl aufstehen. Sie nimmt schwere Antiepileptika, die sie zum Glück gut verträgt. Es war ein Rückschlag für sie – und für ihn. Auch da hadert er nicht. „Es ist keine Prüfung. Es ist einfach so. Man muss es umdrehen. Wir sind beide am Leben. Natürlich ist es nicht ganz einfach, aber wir haben uns drauf eingestellt. Es ist gut so. Alles gut.“ Es ist, als spreche er sich selbst Mut zu. Als sei er seine eigene Kraftzelle. Leise sagt er dann: „Natürlich fehlt mir oft der Schlaf, wenn sie nachts raus muss oder ihr schlecht wird oder schwindlig. Ich komme dann nicht zur Ruhe. Meine Tochter hat Bilder in der Reha gemacht, wie ich neben dem Bett meiner Frau auf dem Stuhl eingeschlafen bin.“ – Was er für sich tut: Fahrrad fahren. Er wollte ihr eine Art Lastenfahrrad für den Rollstuhl kaufen, damit sie mitfahren kann. Das wollte sie nicht. Also macht er das allein. Und lässt sie auch allein. „Eine Stunde oder so.“ Denn wenn das länger geht, wird er unruhig. Wenn sie allein ist – und die Wasserflasche ist leer. Dann kann sie sich kein neues Wasser vom Hahn holen.
Diese Hilflosigkeit mitzudenken, das muss man lernen. Und sich einstellen auf die Bedürfnisse des anderen. Aber die eigenen dabei nicht aus den Augen verlieren. Das ist der Balanceakt. Denn wenn er sich verausgabt, bis zur Erschöpfung, hat auch sie nichts davon. Am Anfang, da hat er den Fehler gemacht. In der Reha war er jeden Vormittag und jeden Nachmittag. „Das hat die Pflege entschieden verbessert. Einmal habe ich mitbekommen, wie der Therapeut, mit dem sie laufen lernen sollte, zur Tür reingeguckt hat und gesehen hat, dass sie noch nicht fertig – noch nicht gewaschen, nicht angezogen – war. Da ist er eben wieder gegangen.“ Also hat er immer drauf geachtet, dass sie versorgt war, damit in der Reha genau das passieren konnte, weshalb sie dort war. „Ich mache denen aber keinen Vorwurf, das ist einkalkuliert. Die sind zu wenig. Ich habe auch gelernt, eine Pflegekraft nicht anzusprechen, wenn die für 40 Patienten die Tabletten sortiert. Das ist hochkomplex. Da müssen Sie sich konzentrieren.“
Das macht er auch. Sich konzentrieren. Auf die Politik. Denn die ist verantwortlich dafür. „So was Aberwitziges wie dieses Pflegesystem habe ich noch nicht gesehen. Es ist vollgestopft mit Spezialwissen und mit Vorschriften, die keiner versteht, verstehen kann. Das System ist darauf angelegt, dass es die wenigsten schaffen, diesen Wust zu durchdringen. Das habe ich aus dem Bundesgesundheitsministerium schriftlich. Wenn wir allen Leuten zahlen würden, worauf sie Anspruch hätten, dann würde das Budget nicht reichen. Das heißt doch, dass die Ausbeutung der Leute eingepreist ist. Nur 20 Prozent bekommen das, was ihnen zusteht. Die, die sich nicht wehren können, die sprachlich nicht so gewandt sind, nicht so versiert im Durchdringen dieser Vorschriften, die fallen hinten runter. Und dabei habenʼs die am nötigsten. Da kann man schon verzweifeln.“ Genau das will er aber nicht. Deshalb nagelt er sie alle fest, die zuständigen Bundestagsabgeordneten im Wahlkampf, die zuständige Abgeordnete für Pflege der SPD-Landtagsfraktion. Sie alle stimmen ihm zu. „Aber keiner macht was. Keiner traut sich ran. Im Koalitionsvertrag steht, dass da was zusammengeführt werden soll. Die häusliche Pflege – die ja dieses System rettet, denn Heimplätze gibt es nicht genug – zu stärken, die Leute zu qualifizieren. Ich würde das machen.. Aber in Frankfurt gibt es das gar nicht.“
Sechs Jahre lang ist noch alles drin – nach einem Schlaganfall. Haben ihm die Ärzte gesagt. Und dass auch ein älteres Hirn lernt. Daran hält er sich fest. Gerade haben sie ihren 65. Geburtstag gefeiert. Mit vielen Freunden. Sie wollte erst nicht, sie musste dazu überredet werden. Dann hat sie den ganzen Tag gestrahlt. Und jetzt hat sie die schöne Erinnerung daran. Es geht weiter. Jeden Tag. Mit ihr, mit ihm und mit ganz vielen anderen, die helfen. Um ein Kind großzuziehen, braucht man ein Dorf. Um jemanden zu pflegen, auch.
Was passieren muss, damit ich weiter gut pflegen kann: „Es muss entbürokratisiert werden. Die Leute brauchen eine Adresse, an die sie sich wenden können, nicht hundert verschiedene Formulare und Ansprechpartner. Und es muss so klar formuliert sein, dass die, die es brauchen, es auch verstehen.“
Das Interview führte Constanze Angermann
Info-Gespräch im Landtag
Auf Einladung des Abgeordneten Michael Siebel (SPD) konnten wir heute (20.6.2018) ein Fachgespräch zu den Regelungen im Pflege-Dschungel mit der gesundheitspolitischen Sprecherin der Fraktion Daniela Sommer führen. Beide waren kompetente Gesprächspartner und -partnerin. Sommer hatte gut zwei Jahre für eine niedrigschwellige Verordnung zum Entlastungsbetrag gekämpft.
Wir konnten noch die Idee einer Erweiterung der Pflegeprofession einbringen. Warum nicht Menschen mit einfacher Pflegegrundschulung als Selbstständige in der Pflege arbeiten lassen? Wem das zu abstrus vorkommt, schaue auf die Organisation der Kinderbetreuung. Die Kindertagespflege ergänzt nach dem Gesetz gleichwertig die Kinderbetreuung in den Kitas. Auch hier arbeiten Menschen mit einer 165-stündigen Grundausbildung. warum diese Modell nicht auf die Pflege übertragen? Es lohnt sich hier weiterzudenken. Ich hoffe, es war eine Initialzündung.
Kurt-Helmuth Eimuth
Pflegegeld: Es soll gar nicht in Anspruch genommen werden
Theoretisch können pflegende Angehörige 929 Euro im Monat von den Pflegekassen bekommen. Praktisch nimmt das kaum jemand komplett in Anspruch. Denn der bürokratische Dschungel der dabei durchquert werden muss, ist viel zu kompliziert. Unser Autor hat das selbst erlebt. Aber immerhin kleine Verbesserungen sind jetzt in Aussicht.
Ohne die Angehörigen würde das deutsche Pflegesystem zusammenbrechen: Drei von vier pflegebedürftigen Menschen werden zuhause versorgt, nur bei einem Drittel davon kommt zur Unterstützung ein professioneller Pflegedienst. Diese häusliche Pflege geschieht mit viel Einsatz, und oftmals überfordern sich die Familien.
Die Pflegekassen gewähren unterschiedliche Hilfen. Pauschal gezahlt wird nur ein grundlegendes Pflegegeld in Höhe von 545 Euro im Monat bei Pflegegrad III (ohne Inanspruchnahme eines ambulanten Pflegedienstes). Alles andere muss einzeln beantragt und nachgewiesen werden, zum Beispiel 40 Euro im Monat für Pflegemittel, 18 Euro für technische Hilfsmittel, 125 Euro „Entlastungsbetrag“ und so weiter. Manche Zuschüsse gelten monatlich, andere jährlich.
Sobald man das theoretisch zustehende Geld auch tatsächlich bekommen möchte, entfaltet sich eine aufwändige Bürokratie. Jede Windelrechnung muss belegt und der Kasse vorgelegt werden. Auch die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter dort stehen vor einem Dschungel aus Regelungen und Vorschriften, was oft zu falschen Berechnungen führt.
Kein Wunder also, dass vieles gar nicht erst beantragt wird. Nur zehn Prozent der Pflegenden nehmen die Verhinderungspflege in Anspruch. Verhinderungs- und Kurzzeitpflege springen ein, wenn die Angehörigen einmal ausfallen, zum Beispiel weil sie in Urlaub fahren oder selbst krank sind. Für eine kurzzeitige Unterbringung in einem Pflegeheim oder andere Pflegedienstleistungen können Angehörige gut 2400 Euro im Jahr bekommen, 1612 Euro für die so genannte „Verhinderungspflege“, 806 Euro für „Kurzzeitpflege“. Wie gesagt. Theoretisch. Praktisch werden diese Zuschüsse in neun von zehn Fällen nicht abgerufen.
Ähnlich ist es mit dem so genannten „Entlastungsbetrag“ von monatlich 125 Euro, der eigentlich dazu dienen soll, Hilfe im Haushalt zu finanzieren. Aber kaum jemand kann sie beanspruchen, weil dafür eine haushaltsnahe Dienstleistung bei einem Pflegedienst abgerufen werden muss. Den Pflegediensten fehlt hierfür aber schlicht das Personal, außerdem sind sie teuer: Eine Reinigungskraft kostet hier rund 30 Euro die Stunde, das heißt, der Zuschuss würde gerade mal vier Stunden im Monat refinanzieren.
„Gut gemeint, aber schlecht gemacht“, sagt der Sozialverband VdK in seiner Mitgliederzeitung vom Februar 2018 über dieses System. Denn eine solche Bürokratie bedeutet auch, dass sie Menschen bevorzugt, die mit Formularen, Ämtern und Anträgen gut zurechtkommen.
Würde man die theoretisch zur Verfügung stehende Summe pauschal an die Pflegenden zahlen, kämen 929 Euro pro Monat zusammen. Das klingt nach viel Geld, allerdings ist das relativ: Ein ambulanter Pflegedienst wird schließlich mit 1298 Euro im Monat finanziert, ein Heimplatz kostete zwischen 3000 und 4000 Euro im Monat. Häusliche Pflege kommt die Allgemeinheit also mit Abstand am günstigsten.
Es entsteht der Eindruck, dass das System schon daraufhin kalkuliert ist, dass nicht alle Berechtigten die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen. So antwortet das Gesundheitsministerium auf eine entsprechende Anfrage des Autors vom Juli vorigen Jahres: „Eine pauschale Auszahlung hätte zur Folge, dass der Finanzrahmen der Pflegeversicherung gesprengt würde. Um das System finanzierbar zu halten, müssten Leistungen insgesamt erheblich abgesenkt oder gar gestrichen werden oder der Beitragssatz müsste erheblich angehoben werden.“
Unmissverständlich wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Pflegeversicherung nicht dafür gedacht ist, pflegebedürftige Menschen generell abzusichern, sondern dass diese Aufgabe den Angehörigen zufallen soll. So schreibt das Gesundheitsministerium weiter: „Es ist unverändert gesellschaftlicher Konsens – und dies spiegelt sich auch im Willen des Gesetzgebers wider – dass die Pflege vorrangig als Aufgabe der familiären Einstands- und Unterhaltspflichten erbracht werden soll. Danach sollen möglichst Angehörige für die Versorgung ihrer pflegebedürftigen Familienmitglieder sorgen. … Die Leistungen der Pflegeversicherung und die ggf. darüber hinaus zu gewährenden Leistungen der Sozialhilfe bei Pflegebedürftigkeit wirken insoweit ergänzend und sollen die Pflege durch Angehörige unterstützen.“
Klartext: Der Staat fühlt sich nicht dafür zuständig, die Pflege kranker und alter Menschen sicherzustellen, sondern sieht seine Aufgabe lediglich darin, für eine minimale Grundausstattung zu sorgen, falls die „Normalität“ – dass also Angehörige gratis und ohne große Entschädigung die Pflege übernehmen – einmal ausfällt. Konsequenterweise wendet Deutschland auch nur 1,4 Prozent seines Bruttosozialprodukts für die Pflege auf, die skandinavischen Länder hingegen fast vier Prozent.
Ob diese Einschätzung der Realität auch für die Zukunft noch realistisch ist, ist jedoch fraglich. Immerhin haben politische Debatten zu dem Thema inzwischen begonnen. So sieht zum Beispiel die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Grund dafür, dass so viele Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, nicht in den komplizierten Antragsverfahren, sondern in der Unkenntnis der Betroffenen. Deshalb möchte man die Informationsmöglichkeiten verstärken.
Auf professionelle Beratung setzt auch der Frankfurter Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour von Bündnis90/Die Grünen: „Pflegebedürftigen Menschen in schwierigen Versorgungssituationen (und was anderes wäre eine vielleicht sogar überraschende Pflegesituation) soll bei Bedarf ein individueller Case-Manager zur Seite gestellt, der ein passendes Versorgungssetting zusammenstellen kann.“ Nur: Diese Case-Manager müssten ja auch bezahlt werden – wäre es nicht besser, das Geld für die Pflege selbst auszugeben?
Die FDP hingegen stimmt dem Vorschlag der Pauschalierung zu. „Gerade im Bereich der Pflege spielt der Zeitfaktor eine große Rolle. Je mehr bürokratische Pflichten von den Pflegenden erfüllt werden müssen, umso weniger Zeit steht für den Pflegebedürftigen zur Verfügung“, sagt der Vorsitzende der hessischen Landtagsfraktion René Rock.
Eine deutlich andere Akzentuierung als ihr Parteifreund Nouripour setzt auch Elisabeth Scharfenberg, die im vorigen Bundestag Sprecherin der Grünen für Altenpolitik und Pflege war. Sie stellt sich hinter eine Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft für Freie Wohlfahrtspflege, die gefordert hatte, „die Leistungen der Verhinderungspflege, der Kurzzeitpflege und die zusätzlichen Betreuungsleistungen … in einem so genannten Entlastungsbetrag zusammenzufassen, damit sie ganz flexibel je nach Bedarf eingesetzt und kombiniert werden können“. Damit wären die Angehörigen von vielen bürokratischen Lasten und Antragsverfahren befreit.
Dieser erste kleine Schritt der Entbürokratisierung findet sich auch im aktuellen Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU im Bund. Die neue Bundesregierung will „Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie in der Tages-und Nachtpflege, die besonders pflegende Angehörige entlasten, zu einer guten pflegerischen Infrastruktur“ zusammenfassen. Bleibt abzuwarten, wann und wie das umgesetzt wird.
Kurt-Helmuth Eimuth 12. März 2018
Wenn dich der Schlag trifft
Nach einem Schlaganfall sind viele Menschen auf intensive Pflege und gute Therapien angewiesen. Denn davon hängt ab, ob und wie sie ihren Alltag in Zukunft wieder bewältigen können. Im deutschen Pflegesystem läuft allerdings vieles nicht optimal.
Es passiert in Deutschland etwa 270 000 Mal im Jahr: Schlaganfall. Plötzlich ist alles auf den Kopf gestellt. Viele können mit den Folgen nach Reha und Therapien gut leben. Sieben Prozent sterben in den ersten zwei Wochen. Und andere sind in ihren Lebensfunktionen stark eingeschränkt. Meine Frau Marion (63), die den Schlaganfall im Sommer 2015 erlitt, gehört zur letzten Gruppe. Als der Arzt mir die Diagnose mitteilte, sprach er aus, was unser Leben von Grund auf verändern sollte: „Der Verschluss sitzt an einer strategisch ungünstigen Stelle.“ Manche Worte vergisst man nicht mehr, sie brennen sich ein. „Strategisch ungünstig.“ Nein, wir reden nicht vom Fußball. Als ich das Bild der Computertomografie sah, wusste ich, was er meinte. Große Teile des Gehirns waren betroffen.
Schnell stand die Frage nach einer Vorsorgevollmacht im Raum. Ich hatte keine. Ein Anwalt, der mich nie kennengelernt hatte, bestätigte mir zum Glück: „Herr Eimuth hat im Krankenhaus einen engagierten Eindruck hinterlassen. Er war um das Wohl seiner Ehefrau besorgt, so dass aus verfahrenspflegerischer Sicht keine Bedenken bestehen, dass er die vorläufige gesetzliche Betreuung übernimmt.“
Das Verfahren kostete eine dreistellige Summe. Danach konnte ich über Marions Verlegung in eine Reha-Klinik entscheiden, die nach den ersten zwei Wochen im Krankenhaus anstand.
In Frankfurt gibt es keine Reha-Kliniken, offenbar ist die Stadt zu teuer. Wir entschieden uns für eine nahe gelegene. Besuch fördert schließlich die Genesung, Erreichbarkeit ist also ein nicht zu vernachlässigendes Kriterium. Wie richtig und wichtig das sein sollte, ahnte ich zu der Zeit noch nicht.
Beim Aufnahmegespräch gab es Fragen nach Krankheitsverlauf, Allergien und so weiter. Und dann die mir leise zugeraunte Frage nach dem Ziel der Rehabilitation: „Soll Ihre Frau anschließend ins Heim?“ Das saß. Dieser Gedanke lag mir so fern wie der Mond: Man weiß, dass es ihn gibt, aber mit der Möglichkeit, dorthin zu fliegen hat man sich noch nie beschäftigt.
Sogar das Schlucken muss wieder gelernt werden
Für mich war klar: Ziel der Reha soll ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung sein. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Marion zum Beispiel musste sogar das Schlucken erst wieder lernen. Man glaubt gar nicht, was es alles zum Schlucken braucht. Über hundert Muskeln muss das Gehirn dabei koordinieren. Ein wirklich komplizierter Prozess, der komplett neu erlernt werden muss. Auch das Gedächtnis für alltägliche Handlungen ist „gelöscht“. Einfache Dinge wie Zähneputzen oder Haarekämmen müssen neu gelernt und geübt werden.
Deshalb stehen jeden Tag mehrere Therapien auf dem Stundenplan: Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie und Psychologie. Dazu kommen spezielle Gruppenangebote. Man kann dankbar sein, dass unser Gesundheitswesen so hoch entwickelt ist.
Über die Pflege kann ich kaum Schlechtes sagen, es gab viele engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Allerdings hat die Familie die Pflege weitgehend selbst übernommen. Als ich nämlich einmal morgens um 8 Uhr nach meiner Frau sehen wollte, lag sie noch im Bett. Ein Therapeut kam ins Zimmer und stellte fest: „Sie sind ja noch nicht gewaschen und angezogen, da kann ich nichts machen.“ Er ging wieder. Zwar sollen Patientinnen, die früh eine Anwendung haben, zuerst gewaschen werden. Aber wegen des Personalmangels klappt das nicht immer. Gelähmte Menschen können ja zum Beispiel nicht alleine essen. Sie haben einen hohen pflegerischen Aufwand.
Therapie ist aber der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Deshalb beschloss ich, Marions Pflege morgens und abends selbst zu übernehmen. Ein gemeinsames Frühstück ist ja auch im Krankenhaus nett. Zum Mittagessen kam meine Schwester. Damit war nicht nur die Pflege abgedeckt, sondern wir wussten auch immer, was in der Klinik geschah, und mit der Zeit entwickelte sich ein recht entspanntes Verhältnis zu den Pflegekräften. Aber was ist mit Patientinnen und Patienten, die keine Angehörigen haben, die so häufig in der Reha sein können?
Am Wochenende kommt oft angelerntes Personal zum Einsatz
Es läuft nämlich häufig etwas schief. Vor allem am Wochenende, wenn angelerntes Personal und Kräfte externer Dienstleister im Einsatz sind. Da wird dann schon einmal Essen aufgetischt, auf das die Patientin eine bekannte Allergie hat. Oder es werden Medikamente verwechselt. Bei uns war der Höhepunkt eine in der Nacht neben den Weihnachtsplätzchen abgestellte Bettpfanne. Natürlich gelingt auch bei der Pflege durch Angehörige nicht alles. Schwupps machte es einmal beim Waschen, und Marion lag unter dem Waschbecken. Der Schreck war groß, das rote Seil mit der Notklingel zum Glück griffbereit. Nachdem wir sie wieder in den Rollstuhl gewuchtet hatten und feststand, dass nichts gebrochen war, kam die Frage: „Wie konnte das passieren?“ „Wir haben vergessen, die Bremsen am Rollstuhl fest zu stellen.“ „Anfängerfehler“, stellte der Pfleger verständnisvoll lächelnd fest.
Hinfallen geht eben schnell. Auch der Physiotherapeutin ist die Patientin einmal entglitten, in dem Fall war allerdings unklar, ob eine Verletzung vorlag. Deshalb wurde Marion zum Röntgen in ein anderes Krankenhaus gefahren. Als ich an diesem Tag in die Reha-Klinik kam, stand ich vor dem leeren Bett: Niemand hatte uns Bescheid gesagt. Ich fuhr hinterher und fand Marion ziemlich aufgelöst auf einer Bahre im Gang, auf das Röntgenergebnis wartend. Die psychische Belastung für Patientinnen, die nicht sprechen können, die also völlig ausgeliefert sind, ist enorm. Da hilft es, ein vertrautes Gesicht um sich zu haben.
Noch schwieriger ist es, wenn die Patientin einen Krankenhauskeim hat. Alle, die das Zimmer betreten, müssen sich dann mit Kittel, Haube, Mundschutz und Gummihandschuhen schützen. Auch diejenigen, die bloß schnell Tabletten bringen wollen. Man kann sich vorstellen, dass dies aufhält. Zwar ist die Pflegepauschale für solche Patientinnen höher, aber das Personal auf der Station wird ja oft nicht entsprechend aufgestockt. Die „Isolationszimmer“ sind also unbeliebt. Aber auch diese Patientinnen brauchen Therapie.
Keine Zeit, um alle Hygienevorschriften einzuhalten
Die Gewerkschaft Verdi hat voriges Jahr einen Aktionstag „Hände-Desinfektion“ durchgeführt mit der Maßgabe, dass die teilnehmenden Pflegekräfte einmal alle Hygienevorschriften auch tatsächlich einhalten sollen. Doch schon nach wenigen Stunden gaben fast alle auf: Der Personalschlüssel lässt es einfach nicht zu. Wie groß das Problem der mangelhaften Desinfektion ist, machen Zahlen des Bundesministeriums für Gesundheit deutlich: Jedes Jahr sterben in Deutschland bis zu 15 000 Menschen nach sogenannten „behandlungsassoziierten Infektionen“.
Kaffeepause: Marion und Kurt-Helmuth Eimuth an einem ihrer Lieblingsorte, der Alpha-Buchhandlung im Oeder Weg. | Foto: Rui Camilo
Inzwischen lebt Marion wieder zu Hause. Unsere alte Wohnung im Altbau mussten wir aufgeben, sie war nicht rollstuhlgerecht. Pünktlich zur Entlassung war die neue Wohnung fertig. Deutlicher kann es kaum werden, dass ein Schlaganfall alles verändert: Man verlässt die Wohnung zur Behandlung und kommt nach neun Monaten in eine neue Wohnung zurück. Wenigstens können Angehörige einiges tun, um die Patientin an den Entscheidungen zu beteiligen: Beim Aussortieren von Schuhen, Handtaschen und Büchern fotografierte ich Regal um Regal. Marion entschied dann, welche Bücher, Schuhe und Taschen wegkönnen.
Ein befreundeter Pfarrer fragte mich, ob man bei einem solchen Schicksal noch an Gott glauben könne. Zugegeben, eine schwierige Frage. Aber ich habe von Marion gelernt, was sie als Pfarrerin im Religionsunterricht ihren Oberstufenschülerinnen und -schülern immer vermittelt hatte: Gott ist nicht der, der unser Leben vorbestimmt. Gott ist vielmehr die Kraft, die uns in der Krise trägt. Ich bin mir gewiss, dass Marion auch heute noch so denkt. Auch wenn es allen Grund zum Zweifeln, sicher auch zum Verzweifeln gibt.
Kurt-Helmuth Eimuth 21. März 2018 Fotos: Rui Camilo