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Sehnsucht nach heiler Welt

Im letzten Jahr flüchteten die Kinder vor dem Krieg aus der Ukraine. In der letzten Woche malten sie Bilder, die im Foyer des BTH ausgestellt wurden. Die in Zusammenarbeit des Jugendbereiches der Evangelischen Thomasgemeinde und dem Verein „jmd Migration“ erstellten Bilder zeugen nicht von Kriegserlebnisssen, sondern von der Sehnsucht nach einer heilen Welt, einer intakten Natur. Anleitung erhielten die jungen Künstler und Künstlerinnen im Rahmen des Malprojektes „Projekt mit Zukunft“ von Dagmar Bode.

Text und Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Dorothee Sölle: Den Politischen zu fromm, den Frommen zu politisch

von Kurt-Helmuth Eimuth


Volles Haus: Dorothee Sölle predigt beim Kirchentag in Rostock 1988. | Foto: Bernd Bohm, epd-Bild

Die 1929 in Köln geborene Poetin und Theologin Dorothee Sölle hatte nie einen Lehrstuhl in Deutschland inne. Trotzdem war sie eine der einflussreichsten theologischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Am 27. April jährt sich ihr Todestag zum zwanzigsten Mal.

Dorothee Sölle studierte Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, machte 1954 ihr Staatsexamen und promovierte. Die Mutter von vier Kindern habilitierte sich 1971. Sie arbeitete als Lehrerin zunächst an der Schule, dann im Hochschuldienst. Von 1975 bis 1987 lehrte sie auf einer Professur für systematische Theologie in New York. Erst 1994 erhielt sie die Ehrenprofessur der Universität Hamburg.

Schon im Elternhaus setzte sich Sölle mit Politik auseinander. In einem 1999 aufgenommenen Essay des SWR sagt sie: „Ich verdanke meinen nazikritischen Eltern viel.“ Aber doch, so erzählt sie im Rückblick, fragte sie sich, ob man nicht eine stärkere Verwurzelung benötigte, als sie der postchristliche Humanismus mit Goethe und Thomas Mann bieten könne.

In der Begegnung mit ihrer Lehrerin Marie Veit, die bei Rudolf Bultmann promoviert hatte, erschlossen sich für Sölle neue Horizonte. „Sie brachte mir bei, dass man seinen Verstand nicht an der Kirchentür abgeben musste, um naiv, geistlos und demütig Christin zu werden“. Jesus faszinierte sie. „An die Liebe glauben ist mehr als den himmlischen Knopfdrücker anzubeten.“

Die Auseinandersetzung mit einem scheinbar allmächtigen Gott ist ein Ursprung von Sölles theologischem Denken. „Omnipotenz ist nicht das höchste, was man von Gott sagen kann. Der Allmachtswahn hat in der Geschichte des Christentums vor allem Unglück erzeugt.“ Und dann kommen Sätze, die auch noch heute provozieren: „Dieser Herrschergott ist in der Tat tot.“

Sölle faszinierte der Traum eines anderen Lebens, in dem die Tränen abgewischt werden und die Ängste nicht mehr die Herrschaft über Menschen behalten. Sie liebte die Bibel und hat lange unter der Überschrift „Theologie nach dem Tode Gottes“ mit dem überkommenen Christentum gerungen. Dies war für sie, so erzählt sie rückblickend, der Widerspruch einer jungen Frau, die mit dem Horror der Nazizeit nicht so schnell fertig wurde. Die herrschende Theologie träumte weiter von der Allmacht Gottes. „Hatte denn Gott auch in Auschwitz alles so herrlich regieret?“ Hätte er eingreifen können?

Wie aktuell ihr theologisches Denken ist, zeigt ihre Auseinandersetzung mit militärischer Gewalt. „Mir war klar, wenn Hitler nicht von außen bekämpft worden wäre, hätte er Europa beherrscht und wir säßen nicht hier.“ Sicher wäre jede andere Lösung besser als militärische Gewalt. Aber: „Ich bin keine absolute Pazifistin“. Neu sei heute, dass Krieg immer auch Massenmord an der Zivilbevölkerung bedeute. Das Hauptinteresse, das Kriegsziel sei heute die Zerstörung derer, die sich nicht wehren können. Die Vision von Jesaja, sie werden den Krieg nicht mehr lernen, wäre für Sölle „schon sehr viel“. Und dann kommt in dem 1996 mit Wolfgang Niess geführten Interview der Satz: „Dass Staaten den Krieg für eine Konfliktbewältigung halten, das ist ein männliches Ideal, was wir vielleicht überwinden können.“

In den 1960er Jahren, Sölle arbeitete als Lehrerin, wurde ihr durch die Auseinandersetzung mit der Nazizeit immer deutlicher, dass das politische Bewusstsein zu fördern ist. Zentral hier der Begriff Gerechtigkeit. Eine Gruppe von katholischen und evangelischen Christ:innen fragte sich, welche Konsequenzen der Glaube haben sollte. Daraus entstand das Politische Nachtgebet. Es beruhte auf einer „Politisierung des Gewissens.“ Es wurden Fragen gestellt, die auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben: „Von wem kaufen wir unsere billigen Bananen? An wem bereichern wir uns? Wie verhält sich unser Reichtum zur Armut der Menschen? Wie verhalten wir uns zur Schöpfung und all ihren Lebewesen?“

Die Entstehung geschah wieder einmal eher durch Zurückweisung. Die kleine Gruppe hatte sich 1968 beim Katholikentag in Essen für eine politische Gebetsliturgie zu aktuellen politischen Fragen beworben. Das Organisationskomitee wollte den Antrag nicht zurückweisen, legte den Termin aber auf eine Zeit nach 23 Uhr – und so kam es zum Nachtgebet. Diese Veranstaltungsform verband die spirituelle Sehnsucht vieler Menschen mit klaren politischen Aussagen. Es kamen, so Sölle, „Menschen, die politisch wach und geistlich frustriert waren.“ Politische Nachtgebete werden bis heute gefeiert, so auch beim kommenden Kirchentag 2023 in Nürnberg.

Apropos Evangelischer Kirchentag: Dort stieß Dorothee Sölle zunächst ebenfalls auf Ablehnung. Aber ihre Freundin Luise Schottroff nahm sie als Co-Referentin mit auf die Bühne. Über zwei Jahrzehnte füllten diese beiden Frauen bei Kirchentagen die großen Hallen. Mit dabei die Frankfurter Band Habakuk um Eugen Eckert. Schottroff und Sölle gaben – auch gemeinsam mit ihren Männern Willy Schottroff (Professor für Altes Testament in Frankfurt) und Fulbert Steffensky (Religionspädagoge in Hamburg) vielfältige Denkanstöße, etwa die materialistische Exegese, die sich auch in zahlreichen gemeinsamen Buchprojekten niederschlug.

Drei Dinge sind nach Sölles Überzeugung für die Zukunft des Glaubens zentral: „Gerechtigkeit, also eine nicht ausschließlich vom Profitinteresse gelenkte Wirtschaft, Frieden, also eine andere Art der Konfliktlösung, und die Bewahrung der Schöpfung.“ Eine Theologie nach der Schoah müsse die Sünde politisieren und die Zuschauenden als Vollstrecker:innen identifizieren. Denn es stelle sich nicht nur die Frage „Was hast Du getan?“, sondern auch: „Was hast Du nicht getan?“

Das Christentum der Zukunft wird für Sölle ökumenisch und feministisch sein und der Mystik mehr Raum geben. Die gelebte Einheit der Christ:innen sei wichtiger als eine Amtskirche, „die hinterher humpelt“. Der Ausschluss von Frauen, so ist sich Sölle sicher, wird zu Ende gehen. Die „Verweiblichung“ der Theologie sei eher eine „Vermenschlichung“ der Theologie.

Insofern war Sölle auch eine Vordenkerin der feministischen Theologie, „die darauf besteht, dass eine Theologie, die nur von der Hälfte der Menschheit formuliert wird, notwendig unzureichend bleibt.“ Bei der mystischen Dimension beruft sich Sölle auf den katholischen Theologen Karl Rahner. Die Seele jeder Religion ist die gelebte und angeeignete Erfahrung Gottes. Leider finde diese Dimension in den Kirchen derzeit wenig Raum. Jede lebendige Religion brauche das spirituelle, lebendige Element. Ohne Mystik sterbe der christliche Glaube.

Sölles theologisches Denken war geprägt von ihrer festen Überzeugung: „In allen Menschen ist etwas von Gott. Das kann man zumüllen, aber man kann es auch wieder aufwecken.“ Da folgte sie ganz der Mystik. Die Mystikerin Mechthild von Magdeburg oder auch Thomas Müntzer waren ihr darin Vorbild.

Die zierliche Frau beeindruckte die Menschen aber auch durch ihre Bescheidenheit. Eugen Eckert von der Band Habakuk erzählt von einer gemeinsamen Reise 1999 nach Kanada, wo Dorothee Sölle und Luise Schottroff bei den dreitägigen Pollock-Lectures an der Atlantic School of Theology in Halifax ihr Veranstaltungsformat vom Kirchentag vorstellten: ein faszinierender Dreiklang aus Exegese, Poesie und Musik. Sölle, die damals noch eine Vortragsreise nach New York anschloss, reiste mit leichtem, sprich Handgepäck.

Eckert erinnert sich auch an einen Sänger:innenwettstreit zu Chorälen des Gesangbuches, den er sich auf langen Autofahrten an der kanadischen Ostküste mit Sölle lieferte. Zu seiner Überraschung kannte Sölle oftmals mehr Strophen auswendig als er selbst. Und auch das Leben konnte Sölle genießen. Einen Zigarillo zu einem guten Wein und lange Gespräche verachtete sie nie. Dabei blieb sie bodenständig, sang im Kirchenchor und spielte selbst hervorragend Klavier.

Fulbert Steffensky beschrieb seine Frau im „Nachwort zu einem Leben“ so: „Sie konnte weder von den Frommen noch von den Politischen, weder von den Konservativen noch von den Aufklärern ganz eingefangen werden. Sie erlaubte sich, die jeweils andere zu sein – den Frommen die Politische, den Politischen die Fromme, den Bischöfen die Kirchenstörerin und den Entkirchlichten die Kirchenliebende.“

Mehr: https://www.dorothee-soelle.de/

Schärfere ethische Regeln für Geldanlagen der evangelischen Kirche

von Kurt-Helmuth Eimuth

27. Februar 2023

Die evangelische Kirche verwaltet in Deutschland ein Finanzvermögen von rund 40 Milliarden Euro, das vor allem der Finanzierung von Ruhestandsgehältern und Zusatzrenten dient. Jetzt wurden die ethischen Regeln, nach denen diese Anlagen getätigt werden, verschärft.

Foto: www.colourbox.de
Foto: www.colourbox.de

Nach welchen Kriterien legt die evangelische Kirche in Deutschland ihr Geld an? Immerhin geht es nach Angaben von Heinz Thomas Striegler, dem Vorsitzenden des Arbeitskreises Kirchlicher Investoren (AKI), um ein Volumen von rund 40 Milliarden Euro. Gebraucht wird das Geld vor allem für die Finanzierung von Ruhestandsgehältern für Pfarrer:innen und Zusatzrenten für kirchliche Mitarbeiter:innen.

Schon 2011 hat der Arbeitskreis im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Kriterien zur ethischen Geldanlage erarbeitet. Jetzt stellte er eine grundlegend überarbeitete Fassung vor.

Statt wie bisher zehn dürfen in Zukunft nur noch fünf Prozent der Einlagen bei Unternehmen investiert werden, die an der Entwicklung und Produktion von Rüstungsgütern beteiligt sind. Ganz ausgeschlossen sind Investitionen, wenn es um international geächtete Waffengattungen wie autonom gesteuerte Systeme oder Atomwaffen geht. „Als Kirchen wollen wir nicht an den Gewinnen von Rüstungskonzernen profitieren,“ sagt Striegler, „das ist mit dem christlichen Friedensauftrag nicht vereinbar. Wir legen Wert darauf, dass dies auch die Produktion autonomer Waffen umfasst.“

Aber warum nimmt die Kirche dann überhaupt einen Anteil von fünf Prozent aus der Waffenproduktion hin? Darauf antwortet AKI-Geschäftsführerin Antje Schneeweiß auf Nachfrage des EFO-Magazins: „Bei Unternehmen mit sehr geringem Rüstungsanteil kann es leicht zu Wertekonflikten kommen. So macht das Unternehmen Dräger 98 Prozent seines Umsatzes mit Produkten, die der Lebensrettung dienen – Inkubatoren für Frühchen, Ausstattungen für Feuerwehr- und Rettungswagen und so weiter. Allerdings produzieren sie auch eine Tauchausrüstung, die vor allem militärisch genutzt wird. Solche Unternehmen sollen nicht ausgeschlossen werden.“

Im Bereich der Umweltkriterien hat der AKI ebenfalls nachgeschärft. So sind zukünftig Investitionen in Atomenergie ganz ausgeschlossen. War bislang nur die Kohleförderung tabu, ist nun die ganze Bandbreite der unkonventionellen Förderung von Öl und Gas ausgenommen, etwa das Fracking. Außerdem erwarten die evangelischen Investoren, dass Unternehmen eine Policy zum Schutz der Biodiversität in den Wertschöpfungs- und Lieferketten implementiert haben. Der AKI sei diesbezüglich im Gespräch mit Aktiengesellschaften, so Striegler. Dabei habe man festgestellt, dass es durchaus hie und da kleine Veränderungen in der Geschäftspolitik gab, etwa die Einführung existenzsichernder Löhne.

Insgesamt seien die Anlagemöglichkeiten nach diesen ethischen Kriterien etwa um zwanzig Prozentpunkte geringer sind als bei großen Indizes. Die zu erwartende Rendite gab Striegler mit 3,0 bis 3,5 Prozent an. Bei langfristigen Anlagen etwa auf 20 Jahre läge sie eher bei 4,5 bis 5,5 Prozent. Damit sei man durchaus vergleichbar mit anderen Anlageformen.

Den Kriterienkatalog können auch Privatanleger:innen nutzen. Er ist zu finden unter https://www.aki-ekd.de.

Politisch, aber mit Zuversicht: die neue CD der Band Habakuk

von Kurt-Helmuth Eimuth

16. Februar 2023

Wie alle Kulturschaffenden wurde auch die Band Habakuk von der Corona-Pandemie hart getroffen, besonders von Absagen für Auftritte beim Ökumenischen Kirchentag in ihrer Heimatstadt Frankfurt. Doch Bandleader Eugen Eckert hält mit Hoffnung dagegen: Jetzt gibt es eine neue CD – „Überall“.

D ie Erfahrungen in der Pandemie waren beängstigend: „Schwere Krankheitsverläufe, überfüllte Intensivstationen und ein herzzerreißendes Sterben ohne Chance zum persönlichen Abschied“. So düster die Erinnerungen desto heller die Hoffnung, die Texter, Musiker und Pfarrer Eugen Eckert auf der neuesten CD der Band Habakuk dagegenhält.

„Wir haben uns vorgenommen, nicht im Klagen stecken zu bleiben“, schreibt Eckert im Klappentext, „denn wunderbare Dinge sind geblieben.“ So lobt der titelgebende Song „Überall“ die Schönheit der Schöpfung Gottes. „Frisches Wasser, frische Luft, Vogelstimmen, erstes Lachen, fester Boden, Apfelduft.“

Doch vor der Wirklichkeit schließt man nicht die Augen. Im Lied „Es hat sich angekündigt“ setzt sich die Band mit dem Virus und der Zerbrechlichkeit der Welt auseinander. Besonders empathisch „Atemzug um Atemzug“, das die Situation von Menschen mit Atemnot aufgreift und dabei auch den Pflegenden dankt. „Er (der Virus) hat das auch bei mir probiert. Ich kam davon, ich blieb am Leben, weil du nie aufgabst, du mich pflegst.“ Und an die weltweiten Verflechtungen erinnert ein anderer Song mit der Textzeile: „Was wir Global anpflanzen, das ernten wir global.“

Deutlich bezieht Eckert im Lied zum Motto des Ökumenischen Kirchentages Stellung. „Schau hin“ ist das politischste Lied. Ausländerhass, die Bedrohung der Schöpfung und die Gier des Kapitals („Ein Bankhaus lügt, Cum-Ex betrügt!“) werden benannt, und es wird zum Widerstand aufgefordert. Die Musik ist bei so kraftvollen Zeilen sogar etwas zu harmonisch geraten.

Die neue CD, erschienen im 48. Jahr des Bestehens der Band, ist musikalisch reif aber keineswegs abgehangen. Sie bietet flotte, abwechslungsreiche Musik mit Texten zum Nachdenken, die trotz aller benannten Widrigkeiten Zuversicht verbreiten. So etwa im Osterlied, aber auch in den an den Psalmen angelehnten Texten.

Mein persönlicher Hit ist der einzige auf Englisch gesungene Song „Be an angel“. Bei zunächst einfacher Klavierbegleitung singt Laura Doernbach hinreißend: „Be an angel. Just be an angel. It’s the best thing you can do.“ Wäre er auf einem großen Label erschienen, hätte der Song die Chance, in die Charts zu kommen.

Die CD „Überall“ kann für 15 Euro plus 3,40 Euro Versand überwww.habakuk-musik.de bestellt werden.

Energiewende und Klimanotstand

Das Magazin, Hessisches Pfarrblatt 1/23

Energiewende und Klimanotstand: Grünes Schrumpfen als politisches Ziel

Politik & Welt

von Kurt-Helmuth Eimuth

25. Oktober 2022

Zwei aktuelle Bücher beschäftigen sich mit der Frage, wie der Wandel zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft funktionieren kann. Und sind sich einig in dem Fazit: Ohne Schrumpfen wird es nicht gehen.

Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus, Kiepenheuer und Witsch, 341 Seiten, 24 Euro. Achim Wambach: Klima muss sich lohnen, Herder, 16 Euro.
Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus, Kiepenheuer und Witsch, 341 Seiten, 24 Euro. Achim Wambach: Klima muss sich lohnen, Herder, 16 Euro.

Angesichts eines im Nachkriegsdeutschland noch nie da gewesenen Wohlstandsverlustes und einer allseits augenfälligen Klimakrise, die längst auch hierzulande durch Trockenheit, Hitze und Starkregen als Bedrohung erlebt wird, stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Das Zukunftsversprechen der Nachkriegsgeneration „Unsere Kinder sollen es besser haben“ ist für die Generationen, die nach 1980 geboren wurde, nicht mehr einlösbar.

Derzeit ist die Rede von Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft. E-Autos ersetzen die Diesel und die Gasheizung wird durch Wärmepumpen ersetzt. Und wenn das Geld nicht reicht, gibt es einen Wumms oder auch einen Doppelwumms. In dieser Situation hat die TAZ-Journalistin Ulrike Herrmann ein viel beachtetes Buch vorgelegt.

Es hilft nur Schrumpfen, schreibt sie in ihrem aktuellen Buch „Das Ende des Kapitalismus“. Dabei sieht sich Herrmann gar nicht per se als Kapitalismus-Gegnerin, schließlich habe kein anderes Wirtschaftssystem eine solche Dynamik entfaltet. Aber die Antriebsfeder des Kapitalismus ist das Wachstum. „Ohne ständige Expansion bricht der Kapitalismus zusammen. In einer endlichen Welt kann man aber nicht unendlich wachsen.“ Herrmann rechnet vor, dass schon heute der ökologische Fußabdruck in Deutschland drei Mal so groß sei, wie es für unser Ökosystem verträglich wäre, in den USA fünf Mal, in Katar 18 mal so groß.

Solche Energieverbräuche könnten auf ökologisch nachhaltige Weise nicht hergestellt werden, schreibt Herrmann. Grünes Wachstum, der Traum aller bürgerlichen Parteien, sei nicht erwirtschaftbar. „Diese Aussage mag zunächst überraschen, schließlich schickt die Sonne 5.000-mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten. […] Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – und dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp bleiben wird.“

In der Folge wird es laut Herrmann kein Wachstum geben. Im Gegenteil. Auch das E-Auto sei ein Irrweg. In der Zukunft müssten wir mit weniger Autos, weniger, sogar besser keinen Flügen, und weniger Quadratmetern Wohnfläche pro Person auskommen: Grünes Schrumpfen statt grünes Wachstum.

Als Referenz nennt Herrmann das Jahr 1978. Auf dieses Niveau müsse die Wirtschaftsleistung sinken, um zukunftsfähig zu sein. Es war ein Jahr, in dem die Menschen durchaus gut gelebt haben: „Seit 1978 hat sich die reale Wirtschaftsleistung in der Bundesrepublik verdoppelt, aber die Zufriedenheit ist seither nicht gestiegen. Auch früher lebte es sich gut.“

Klimaneutrales Leben könne eine hohe Qualität haben. Herrmann träumt von einer Welt, „die schöner, leiser, grüner, gesünder, stressfreier, nachhaltiger und gerechter sein wird“. Und fast theologisch fügt sie hinzu: „Der Sinn des Lebens ist nicht, ständig mehr zu konsumieren.“ Schließlich würden sich viele Deutsche von ihren Besitztümern so erdrückt fühlen, dass die Branche der Ratgeber etwa mit dem Dauerbrenner „Simplify your life“ boomt. Herrmann entwirft keine Vision von einem „grünen Bullerbü“. Technische Entwicklung soll es weiter geben. Die entscheidende Frage sei nur: Wie schaffen wir die Transformation?

Für Frankfurt, führte Ulrike Herrmann kürzlich im Haus am Dom aus, sei dies vor allem am Flughafen und in der Finanzbranche zu spüren. Denn die Folge eines solchen wirtschaftlichen Schrumpfungsprozesses sei der Verlust an Arbeitsplätzen. Arbeit beispielsweise in der ökologischen Landwirtschaft oder zum Aufforsten der Wälder sei genug da, nur eben andere und weitaus schlechter bezahlte.

Als Lösung zieht Herrmann die durch Rationierung gekennzeichnete britische Kriegswirtschaft von 1939 heran. Damals teilte die Regierung den privaten Unternehmen Rohstoffe, Kredite und Arbeitskräfte zu. Die Einwohner:innen bekamen eine feste Menge Lebensmittel, Extras wie Möbel konnten über ein persönliches „Punktebudget“ bezahlt werden. Es war ein gerechtes und darum allseits akzeptiertes System, das die Menschen im Vereinten Königreich so liebten, dass sie es noch bis 1954 beibehielten. „Der Konsum fiel damals um ein Drittel – und zwar in kürzester Zeit. Der deutsche Verbrauch muss ähnlich drastisch sinken, wenn das Klima gerettet werden soll“, ist Herrmann überzeugt.

Man mag an manchen Zahlen Zweifel anmelden, doch dass die Klimakrise ohne Verzicht nicht in Grenzen zu halten sein wird, erscheint mehr als plausibel. Die Frage, wie dieser Wohlstandsverlust politisch zu bewältigen ist, bleibt offen. Doch Ulrike Herrmann sieht durchaus die Gefahren, dass ein solcher Kurs zu größeren Gefahren am rechten Rand führt. Es bleibt zu hoffen, dass endlich ein gesellschaftlicher Diskurs über „die Grenzen des Wachstums“, wie sie der Club of Rome schon 1972 beschrieb, beginnt.

Ganz anders geht der Volkswirtschaftler Achim Wambach an das Thema heran. Sein Credo: Der Weg aus der Klimakrise muss sich lohnen, denn der Gewinn ist die Antriebskraft des Kapitalismus. Dabei will er die Marktkräfte nutzen und entfesseln. Der Weg aus der Klimakrise führt nur über eine Reduktion des CO²-Ausstoßes. Der Hochschullehrer entlarvt die Mär, dass zur Verwirklichung der Klimaziele allein das Verhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher verantwortlich sei.

Der sogenannte ökologische Fußabdruck, auf den auch Herrmann Bezug nimmt, wurde ganz bewusst von Seiten der Industrie protegiert, um von der politischen Verantwortung abzulenken. Dabei, so Wambach im Gespräch, benötigen wir eine effiziente Klimapolitik, die den Verbrauch klimaschädlicher Gase so verteuert, dass es eben für die Unternehmen billiger wird, klimaneutral zu produzieren. Dies geschieht über den Emissionshandel, der auch für Kraftstoffe und Wärme eingeführt werden sollte. Nur wird durch diese Verteuerung, die wir gerade aus Gründen des russischen Angriffskrieges erleben, auch ein massiver Wohlstandsverlust herbeigeführt. Auch hier wird es zu einem Schrumpfen kommen.

Freizeitheim „Haus Heliand“ vor der Insolvenz gerettet

von Kurt-Helmuth Eimuth

29. August 2022

In nur einem halben Jahr hat das Evangelische Jugendwerk knapp 157.000 Euro an Spenden eingeworben und so sein Freizeitheim Haus Heliand in Oberursel-Oberstedten vor dem Aus bewahrt. Und es wird weiter gesammelt, etwa bei einem Benefiz-Konzert von „Duo Camillo“ am 15. Oktober in Frankfurt-Eschersheim.

Haus Heliand in Oberursel ist seit Generationen ein Freizeitheim für die evangelische Jugend in Rhein-Main. | Foto: Ralf Dreher

Haus Heliand ist für viele Menschen aus der evangelischen Kirche eine „Marke“ mit vielen Erinnerungen. Es ist ein Ort, an dem Jugendliche seit Generationen besondere Ferien, Fortbildungen, Spiel und Spaß erlebten. Getragen wird das Haus vom Evangelischen Jugendwerk.

Das Freizeitzentrum, in dem etwa 65 Prozent aller Belegungen von kirchlichen Gruppen gebucht werden, war vor einigen Monaten in seiner Existenz gefährdet. Corona steht als Ursache hier an erster Stelle. Aufgrund der Lockdown-Vorgaben musste Haus Heliand knapp zwölf Monate geschlossen bleiben. Zusätzlich brachten neue Brandschutzauflagen und die dringend notwendige Erneuerung der defekten Heizung das Freizeitzentrum ins Schlingern. Doch die Leitung des Hauses konnte sich über eine äußerst flexible Reaktion und schnelle Hilfe freuen.

Ehemalige Mitarbeiter:innen, die längst dem Jugendalter entwachsen und in alle Himmelsrichtungen verstreut sind, wurden von vier früheren EJW-Verantwortlichen nach mühseliger Adresssuche angeschrieben. Bei der ausgerufenen „Aktion 1000“ wurden 100 Spender:innen gesucht, die jeweils 1000 Euro für Haus Heliand zur Verfügung stellen sollten, aber auch kleinere Spenden waren willkommen. Ergebnis: 156.810 Euro von 282 Spender:innen wurden im Zeitraum vom 1. September 2020 bis 28. Februar 2021 eingeworben. Davon allein von EJW-Ehemaligen und -Freund:innen etwa 135.000 Euro. Die restliche Summe kam von Kirche, Kommunen, Banken, Stiftungen und Sportlern.

Harald Stenger, über zwei Jahrzehnte in der Frankfurter Kirche aktiv, als Kirchenvorsteher, ehrenamtlicher EJW-Mitarbeiter und auch als Redakteur des „Evangelischen Frankfurt“, war in seinen beruflichen Stationen als FR-Sportjournalist und danach als Pressesprecher der Fußball-Nationalmannschaft immer auch ein Gesicht der Kirche. Und so war er ansprechbar und einer der Ideengeber für die Spendenaktion. Stenger freut sich über den Erfolg: „Aktuell waren die von uns in dieser Höhe nicht erwarteten Ehemaligen- und Freundes-Spenden enorm wichtig, um die kurzfristig gefährdete Liquidität zu sichern und die drohende Insolvenz abzuwenden. Staatliche Zuschüsse haben uns dabei ebenfalls geholfen.“ Eine weitere wichtige Einnahmequelle in den Stunden der Krise: Ein Kindergarten, dessen Räume umgebaut wurden, wurde kontaktiert und mietete Haus Heliand daraufhin im Jahr 2021 für acht Monate..

Doch trotz aller Aufbruchstimmung durch die finanzielle und ideelle Unterstützung vieler Ehemaliger, bewegt sich das Freizeitheim des EJW, das zuletzt auch Ukraine-Flüchtlingen eine vorübergehende Heimat bot, weiterhin in einem schwierigen Umfeld. Und damit sind nicht nur die Inflation und die Energiekostenexplosion gemeint.

Das Reiseverhalten hat sich verändert, auch unabhängig von Corona. Waren in den 1970er- und 1980er-Jahren Urlaub und kirchliche Freizeiten für Kinder- und Jugendgruppen im Ausland etwas Besonderes, so sind sie heute eine Selbstverständlichkeit. Auch die Klassenfahrten der Abiturjahrgänge gehen eher nach Spanien, als ins Allgäu oder gar in den Taunus.

Längst hat die Kirche ihre Tagungs- und Freizeitheime der geringen Nachfrage angepasst. So hat der Evangelische Regionalverband vor vielen Jahren seine Häuser im Taunus und im Spessart aufgegeben. Einzig das Frankfurter Haus auf Spiekeroog blieb erhalten. Und auch die hessen-nassauische Landeskirche hat im vergangenen Herbst aus finanziellen Gründen die Aufgabe der Jugendburg Hohensolms bei Wetzlar und die Umwandlung der Jugendbildungsstätte in Höchst im Odenwald beschlossen, nachdem sie schon lange stark bezuschusst worden waren. Als Grund werden die mangelnde Auslastung und anstehende kostenintensive Sanierungsmaßnahmen angegeben. Hinzu komme der demografische Wandel: Weniger Jugendliche benötigen eben eine geringere Kapazität an Jugendfreizeitheimen.

Das Haus Heliand soll diesem Trend jedoch nicht zum Opfer fallen. Das als eigenständiger Verein organisierte Evangelische Jugendwerk, das in zahlreichen Kirchengemeinden im Rhein-Main-Gebiet evangelische Jugendarbeit verantwortet und in diesem Sommer für 415 Kinder und Jugendliche mit 125 ehrenamtlichen Teamer:innen Freizeiten quer durch Deutschland und Europa veranstaltete, hat ganz bewusst nach den Corona-Herausforderungen als Motto ausgegeben: „Haus Heliand hat eine Zukunft!“ Pfarrer Manfred Senft, einer der Ehemaligen, die die „Aktion 1000“ mitinitiierten, stellt dazu fest: „Kinder und Jugendliche brauchen einen Ort, wo sie Gemeinschaft erleben und sich gut aufgehoben fühlen, Für das EJW ist Haus Heliand in diesem Sinne immer ein Ort des Segens gewesen, und das soll so bleiben.“

Tatsächlich sind 2022 die Buchungen und Reservierungen in einer Gesamthöhe von 14.571 Gästen fast wieder auf dem Vor-Corona-Niveau angelangt. Ob für die Schulungen und Treffen des Werkes, für Freizeiten von Konfirmandengruppen und Schulklassen – das in unmittelbarer Nähe von Frankfurt und doch in der Natur gelegene Haus Heliand soll weiterhin eine attraktive Adresse für alle sein. Zumal die Preise in dem traditionsreichen und doch modern gebliebenen Haus moderat sind. So kostet die Übernachtung für jede Gruppe bei Vollverpflegung je nach Alter zwischen 38,50 Euro und 47,20 Euro.

Zufrieden stellt Detlev von Ramm, seit Juni der neue Vorsitzende des als Trägerverein von Haus Heliand aktiven Freundeskreises der Evangelischen Jugend, fest: „Die finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind wieder stabil, bisher wird der ausgeglichene Etatplan für 2022 eingehalten.“

Erste Amtshandlung des neuen Vorstands war im Blick auf die Energiekrise der Beschluss zur Anschaffung einer Photovoltaik-Anlage. Aber solche Investitionen sind nur mit weiteren Spenden zu machen. Einnahmen erhofft man sich auch aus dem Benefizkonzert des Duo Camillo am 15. Oktober, 19.30 Uhr, in der Andreasgemeinde in Eschersheim, Kirchhainer Straße 12. Eintritt 15 Euro. Spenden für das Haus Heliand sind möglich an den Freundeskreis Evangelischer Jugend DE17 5206 0410 0604 1024 10.

Der Podcast als Gegenstand der Berichterstattung

Die Evangelische Zeitung berichtete am 31. Juni 2022

Conny und Kurt“ im Gespräch mit Margot Käßmann

Aktuelles

von Redaktion

3. Juni 2022

Zwei frühere Mitarbeiter der Frankfurter evangelischen Kirche haben im Ruhestand einen Podcast gestartet. Unter dem Titel „Conny & Kurt“ sprechen Conny von Schumann (zuletzt Leiter der Notfallseelsorge) und Kurt-Helmuth Eimuth (zuletzt Leiter des Arbeitsbereichs Kindertagesstätten und langjähriges Redaktionsmitglied des EFO-Magazins) jeden Donnerstag über sozialethische Themen. In der aktuellen Folge ist die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann zu Gast.

Conny von Schumann und Kurt-Helmuth Eimuth sprechen jeden Donnerstag in ihrem Podcast über sozialethische Themen.
Conny von Schumann und Kurt-Helmuth Eimuth sprechen jeden Donnerstag in ihrem Podcast über sozialethische Themen.

Thema ist die aktuell so brennende Frage nach einer christlichen Friedensethik angesichts des Krieges in der Ukraine. Alt-Bischöfin Margot Käßmann erzählt, warum sie Pazifistin ist und bleibt und warum der Kontakt zur russischen Zivilgesellschaft notwendig ist. Es gebe Kontakte, auch zu Priestern der russisch-orthodoxen Kirche, die sich gegen den Krieg wendeten, so Käßmann. Ob Menschenrechtsgruppen oder junge Leute, die bei einem Rockkonzert in Sprechchören den Krieg verurteilten: „Zu dieser Zivilgesellschaft brauchen wir den Kontakt“, betont Käßmann. Deshalb sei sie auch dagegen, Städtepartnerschaften und Universitätspartnerschaften jetzt aufzukündigen. Man müsse so viel wie möglich auch an Informationen auf diesem Wege vermitteln.

Käßmann wendet sich auch gegen den Ausschluss der russisch-orthodoxen Kirche aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) – auch wenn der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche ein „absoluter Nationalist“ sei. Noch gut ist der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland in Erinnerung, dass der Patriarch die Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche Deutschlands aufkündigte, weil er der Auffassung war, mit der Wahl einer Frau habe sich die Kirche von der christlichen Moral gelöst.

Ebenso lehnt die Theologin die 100 Milliarden Euro teure Aufrüstung ab. „Ich habe sieben Enkelkinder, ich denke, dass in ihre Zukunft nicht durch mehr Rüstung investiert wird, sondern durch mehr Geld für unsere Schulen für unser Bildungssystem, für Entwicklung und zur Bekämpfung des Klimawandels.“

Der Podcast „Conny & Kurt“ erscheint jeden Donnerstag zu einer sozial-ethischen Frage. Es gibt ihn bei Spotify, auf der eigenen Hompage und als Video

Wer nicht warten kann, verliert das Gespür fürs Besondere

von Kurt-Helmuth Eimuth 12. November 2021

Weihnachtskitsch schon Mitte November? Pandemiebedingt beginnen die Adventsmärkte in diesem Jahr teilweise schon Mitte November. Dabei kommt nicht nur das Gedenken am Totensonntag unter dir Räder. Es macht die Märkte auch beliebig.

Lydia Hinton/Unsplash.com
Lydia Hinton/Unsplash.com

Warten, Abwarten ist eine Tugend. Zumindest in England. Bei uns herrscht eher das Gedrängel im Gedrängel. Und klar, an der Kasse nebenan geht es doch schneller.

Uff, und da kommt der Advent daher. Diesmal kalendarisch bedingt schon sehr früh. Am 28. November ist schon der 1. Advent. Der Beginn der Ankunftszeit, sozusagen die letzten vier Wochen der Schwangerschaft. Man fiebert der Geburt entgegen. In diesem Jahr haben wir beim Holzkünstler eine schwangere Maria bestellt. Dass wir all die Jahre darauf nicht kamen? Warten auf das Kind, das noch im Bauch der Mutter ist.

Dieses Warten drücken auch die vier Adventskerzen aus. Ursprünglich hatte Johann Hinrich Wichern 24 Kerzen auf ein großes Wagenrad geklemmt. Man schrieb das Jahr 1839. Für die Kinder im Rauhen Haus in Hamburg, ein Kinderheim, sollte so das Warten erträglicher werden. Den Kranz hängte Wichern im Betsaal des Waisenhauses auf. Er hatte 19 kleine rote und vier dicke weiße Kerzen. Jeden Tag wurde eine neue Kerze angezündet – eine kleine für die Werktage, eine große für die Advents-Sonntage. Die Kinder wussten also immer, wie viele Tage es noch bis Weihnachten sind. Einen netten Nebeneffekt hatte der Kranz auch: Die Kinder lernten wie nebenbei das Zählen.

Die Idee ist so einfach wie genial und eroberte deshalb schnell die Welt. Nur das mit dem Wagenrad war in kleinen Wohnungen doch eher unpraktisch. Vier Adventskerzen für die Sonntage ist schon lange die bei uns übliche Sparversion.

Warten können wir aber trotzdem nicht. Überall müssen viele Lichter her, hoffentlich dem Klima zuliebe in LED-Technik. Und weil uns das Warten so schwerfällt, sollen auch die Weihnachtsmärkte möglichst früh aufmachen. Also zumindest vor dem 1. Advent. In Frankfurt will man immerhin noch den Totensonntag, den Ewigkeitssonntag abwarten, dieses Jahr am 21. November. Doch dann soll es gleich am Montag losgehen. Früher wartete man wenigstens bis zum Mittwoch, denn eigentlich soll die Woche nach dem Totensonntag dem Gedenken gewidmet sein. Aber nach all dem wirtschaftlichen Stillstand wegen der Pandemie soll es möglichst schnell losgehen mit dem Verkauf von Glühwein und Bratwurst, von Engeln und Zuckerwatte.

Während Frankfurt noch halbwegs am christlichen Jahreskreis festhält, ist man in anderen Städten noch forscher. In Offenbach und Darmstadt sollen die Weihnachtsmärkte schon am 15. November öffen, in Gießen am 18. November. Hoffentlich hilft es wenigstens der notleidenden Schausteller-Branche.

Aber es geht eben auch etwas verloren. Wer das Besondere, den Festtag, zum Alltäglichen macht, spürt nicht mehr die Freude auf diesen einen Tag. Dann wird eben auch der Weihnachtsmarkt nur noch ein Markt neben vielen anderen Märkten sein. Das Besondere braucht die Einzigartigkeit, auf die man sich beim Warten freuen kann. Das ist immer so, egal ob es aus religiösen oder traditionellen Gründen geschieht.