Ehrlichkeit tut Not: Fürs Klima müssen wir den Gürtel enger schnallen

von Kurt-Helmuth Eimuth 17. September 2019

Inzwischen rufen, so scheint es, alle relevanten Gruppen zum Klimastreik auf, und das ist auch gut so. Aber in der Diskussion um notwendige Maßnahmen braucht es auch Mut zur Ehrlichkeit: Ohne auch persönliche Einschränkungen wird es nicht gehen.

Demonstrieren für den Klimaschutz  |
Demonstrieren für den Klimaschutz | Bild: http://www.unsplash.com

Eigentlich, so dachte ich, ist mein Leben achtsam, was Natur und Klima angeht. Der Zweitwagen ist abgeschafft, in den Urlaub fliegen wir seit Jahren nicht mehr, und wir sind in eine deutlich kleinere Wohnung umgezogen. Doch beim Klimatest auf der Seite Fussabdruck.de musste ich feststellen, dass mein Lebensstil mehr als drei Erden verbraucht.

Vielen von uns ist noch gar nicht klar, wie groß die Dimension dessen ist, was passieren muss, um eine Klimakatastrophe abzuwenden. Trotz der Mahnungen von Experten ist seit vier Jahrzehnten politisch fast nichts geschehen. Dass die Jugend radikale Forderungen stellt, ist also richtig. Entweder wir nehmen die Klimakatastrophe hin, oder wir stemmen uns mit Macht dagegen.

Für Letzteres bedarf es klarer, radikaler Änderungen, die uns allen Verhaltensänderungen abverlangen. Es ist falsch zu glauben, wir könnten den Klimawandel technisch beherrschen, etwa mit der Einführung von E-Autos. Ohne spürbare Einschränkungen des privaten Konsums wird es nicht gehen. Allerdings würde wohl keine Partei die Einführung einer Klimasteuer von 25 Prozent auf Kleidung, Autos, Fleisch und Käse überleben. Trotzdem wäre genau das eigentlich nötig. Zur sozialen Abfederung müssten die Sozialleistungen entsprechend angehoben werden. Und warum nicht Inlandsflüge unter 500 Kilometer verbieten? Gerade angesichts der Prognose, dass sich der Flugverkehr in Europa in den kommenden zwanzig Jahren noch einmal verdoppeln soll?

Natürlich hilft es dem Klima wenig, wenn allein Deutschland sich radikal ändert. Angesichts der Tatsache, dass in China gerade 176 Flughäfen im Bau sind, erscheint die Lage trostlos. Aber wir haben eben zunächst einmal die Verantwortung für unser eigenes Tun. Eine Verantwortung gegenüber den nachkommenden Generationen und gegenüber Gottes Schöpfung.

Wir können die Welt nicht im Alleingang ändern, aber wir können für Veränderung eintreten. Und dafür ist es wichtig, bei sich selbst anzufangen. Dass gleichzeitig auch global gehandelt werden muss, widerspricht dem nicht. Ich jedenfalls hoffe, dass Greta und Co. in ihrem Engagement nicht nachlassen.

Ein Buch über die Skulptur der Steinbücher im Martin-Luther-Park

von Kurt-Helmuth Eimuth 16. September 2019

Vor zwei Jahren wurde im Offenbacher Martin-Luther-Park die Steinskulptur „Bücher der Weisheit“ der Künstlerin Anna-Maria Kubach-Wilmsen eingeweiht, jetzt gibt es dazu ein Buch. Unter Beteiligung jüdischer, christlicher und muslimischer Gemeinschaften wurde es am Sonntag der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die Steinbücher im Martin-Luther-Park würdigen die Weisheit der Religionen. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth
Die Steinbücher im Martin-Luther-Park würdigen die Weisheit der Religionen. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Die Buchpräsentation war direkt vor Ort: Unweit der im Buch beschriebenen Steinskulptur versammelten sich jüdische, christliche und muslimische Menschen bei der Vorstellung des Buches „Heilige Schriften – Quellen der Weisheit“. Schließlich symbolisieren die Steinbücher genau diese drei Weltreligionen.

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Färber gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich in Offenbach noch in diesem Jahr ein Rat der Religionen gründen möge. „Er sollte sich genau hier konstituieren“, empfahl Färber. Die Stadtgesellschaft solle dankbar sein, dass mit diesem Kunstwerk die Frage aufgeworfen werde, „wie wir die Botschaften dieser Bücher umsetzen können.“ Für Achim Knecht, den evangelischen Stadtdekan, ist die Vielfalt der Religionen in Offenbach eine Bereicherung: „Es ist gut, dass wir so unterschiedlich sind. Wir ergänzen uns gegenseitig.“

Im Vorwort des fünfzigseitigen, reich bebilderten Buches stellen der Musiker Jürgen Blume und Pfarrerin Ulrike Schweiger fest, dass sich in Offenbach ein weitgehend friedliches Miteinander von 160 Nationen entwickele. Dies verlange aber Verständnis für die anderen. „Einen eigenen Standpunkt haben, sich bemühen, die Gedanken der anderen zu verstehen, die Vielfalt der Kulturen und Religionen zu respektieren, darüber ins Gespräch zu kommen, ohne diese übernehmen zu müssen – das bedeutet Toleranz und ist eine Bereicherung für uns alle.“

Im Buch wird sowohl die Ideenfindung als auch die Arbeit der Künstlerin beschrieben. Zum Beispiel erfährt man, dass das Material eines jeden Stein-Buches von einem anderen Kontinent kommt. Reinhold Bernhardt, Theologieprofessor in Basel, vergleicht in seinem Essay den Umgang mit den heiligen Schriften im Islam, Judentum und Christentum.

Zur Entstehungsgeschichte der Skulptur gehört auch, dass an gleicher Stelle vorher eine aufgeschlagene Bronze-Bibel stand, als Erinnerung an den Reformator Martin Luther, nach dem der Park benannt ist und der Bibel ins Deutsche übersetzt hat. Doch zuerst stahlen Diebe das Werk, und auch eine zweite Anfertigung wurde von Materialdieben entwendet.

Deshalb entstand im evangelischen Dekanat und im Förderkreis „PraeLudium“ die Idee, an dieser Stelle die drei in Offenbach vertretenen Buchreligionen zu würdigen. Die Ausfertigung in Stein, wird hoffentlich einen weiteren Diebstahl verhindern.

Das Buch ist während der Öffnungszeiten in der Stadtkirche in Offenbach (Herrnstraße 44) für 5 Euro erhältlich.

Von Empathie durchdrungenes, kritisches Islambuch

von Kurt-Helmuth Eimuth 10. September 2019

Monika und Udo Tworuschka ist mit ihrem Buch „Der Islam – Feind oder Freund?“ ein Werk zur Versachlichung und Relativierung der Debatte gelungen. Ein gut lesbares Buch, das die Argumente an vielen Stellen versachlicht.

Monika und Udo Tworuschka: Der Islam – Feind oder Freund? - 38 Thesen gegen eine Hysterie, Kreuz-Verlag, 142 Seiten, 15 Euro.
Monika und Udo Tworuschka: Der Islam – Feind oder Freund? – 38 Thesen gegen eine Hysterie, Kreuz-Verlag, 142 Seiten, 15 Euro.

„Noch ein Buch über den Islam“ war mein erster Impuls. Doch Autorin und Autor, seit Jahrzehnten bekannt für ihre religionswissenschaftlichen Arbeiten, machen neugierig. Keine Frage, die beiden haben einen Standpunkt. Gleich im ersten Satz verdeutlichen sie, dass sie kein islamkritisches Buch vorlegen, sondern ein kritisches Islambuch. Was keineswegs dasselbe ist. Sie wollen nicht „die Fratze“ des Islam betrachten, sondern mit Empathie einer Religion begegnen.

Zunächst gehen sie auf die gegenwärtige Wahrnehmung des Islam ein. An vielen Beispielen zeigen die Tworuschkas auf, dass die Diskussion Züge einer Verschwörungstheorie hat. So gehören in Deutschland nur knapp sechs Prozent der Bevölkerung dem Islam an. Von einer Übernahme der Gesellschaft ist man also schon zahlenmäßig bei immer noch 48 Millionen Christinnen und Christen weit entfernt. Auch die Geburtenzahl bei Muslimen befindet sich im Sinkflug. Hatten aus der Türkei nach Deutschland migrierte Familien 1970 noch 4,4 Kinder im Durchschnitt, sind es bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation noch 1,56 Kinder. „Migranten passen sich erfahrungsgemäß in vielen Lebensbereichen an ihr Umfeld an.“

Auch lässt sich nicht belegen, dass der Islam per se gewaltbereit sei. Selbst der Teil des Islam, der unter dem Begriff Islamismus zusammengefasst wird, muss unterteilt werden in die Strömungen der Salafisten, Islamisten und Djihadisten. Doch gleich welche Begründungen sich gewaltbereite Muslime zusammenbasteln, welche Verse sie aus dem Koran herauspicken, es kann nicht gesagt werden, „dass der Koran zur Gewalt aufrufe und die Lizenz zum Töten“ liefere. Das Autorenehepaar erinnert im Gegenteil an zahlreiche Gewaltvorstellungen in der Bibel.

Auch in Bezug auf die Stellung der Frauen im Islam war dessen Religionsstifter fortschrittlicher als viele meinen. So habe Mohammed verglichen mit dem vorislamischen Arabertum richtungsweisende Besserstellungen für Frauen eingeführt. Zum Beispiel wurde das übliche Aussetzen weiblicher Neugeborener untersagt. Der Koran fordert an keiner Stelle, dass sich Frauen verschleiern müssten. Allerdings hätten sich die vom Koran bekämpften Gesellschaftsstrukturen im Laufe der Jahrhunderte wieder verfestigt. So gehe es bei der Genitalverstümmelung eher um kulturelle Faktoren und um eine patriarchale Familienstruktur als um eine religiöse Lehre. „Der Koran erwähnt keine weibliche Genitalverstümmelung, geschweige denn, dass er sie gutheißt.“ Auch sexuelle Gewalt gegenüber Frauen rechtfertigen die islamischen Quellen nicht.

Bei aller Empathie verschließt das Buch aber nicht die Augen vor problematischen Tendenzen: „Blauäugig wäre es dagegen, Scharia-Auslegungen nicht zu beachten, die einen gewaltsamen Djihad gegen ‚Ungläubige‘ legitimieren, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung in Frage stellen, antijüdische Einstellungen und Handlungen rechtfertigen.“ Ferner sei die Sozialisation muslimischer Kinder offenbar stärker an Macht und Gehorsam ausgerichtet und tue sich schwer mit Freiheit, Pluralismus und Ambiguitätstoleranz. Dies ergebe sich aus erfahrener Ablehnung. Der Einzelnen fliehe dann nach Erich Fromm ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische.

Die Tworuschkas plädieren also für ein offenes, von Empathie geprägtes Miteinander. Wie dies aussehen kann, fassen sie am Beispiel in drei Sätzen zusammen: „Wir wünschen uns, dass muslimische Frauen die islamische Kleiderordnung nur aus freien Stücken befolgen. Die Realität sieht sicher oft anders aus. Aber Freiheit bedeutet, eine islamische Frau darin zu bestärken, ihrer Tradition folgen zu dürfen – sie aber auch darin zu unterstützen, wenn sie sich dagegen wehren will.“

Ein gut lesbares Buch über den Islam und über die deutsche Diskussion. Es versachlicht an vielen Stellen die Argumente, reiht sie religionswissenschaftlich und politisch ein und ist somit im besten Sinne tatsächlich ein von Empathie durchdrungenes kritisches Islambuch.

Konstantin Wecker bekam in der Paulskirche die Albert-Schweitzer-Medaille

von Kurt-Helmuth Eimuth 4. September 2019

Der Poet, Sänger und Musiker Konstantin Wecker ist der erste Preisträger der Albert-Schweitzer-Medaille, die an den Arzt, Philosophen und Theologen Albert Schweitzer (1875-1965) erinnert. Sie wurde zum 50. Jubiläum des Frankfurter Albert-Schweitzer-Zentrums gestiftet.

Marion Eimuth mit Konstatin Wecker Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Es war der Höhepunkt des diesjährigen Jubiläumsjahres zum 50-jährigen Bestehen des Albert-Schweitzer-Zentrums in Frankfurt: Mit einem Festakt in der Paulskirche wurde gestern am 3. September erstmals die Albert-Schweitzer-Medaille verliehen. Preisträger war der Sänger und Musiker Konstantin Wecker, der für sein politisches Engagement bekannt ist.

In seiner Laudatio bezeichnete der Neurobiologe Gerald Hüther Wecker als „Suchenden, der die Herzen der Menschen öffnet“. Wecker sei ebenso wie Albert Schweitzer jemand, für den Poesie und Widerstand, Kunst und Wissenschaft zusammen gehören, betonte der Neurobiologe, der schon einige gemeinsame Veranstaltungen mit Wecker gestaltet hat.

Die Theologin Margot Käßmann wandte sich in ihrem Festvortrag gegen eine Sprache, die „inhumane Gedanken schleichend billigt“. Wer sich der Philosophie Albert Schweitzers mit ihrer zentralen Aussage der „Ehrfurcht vor dem Leben“ verbunden fühle, müsse solchen Tendenzen widersprechen. Die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und ehemalige Reformationsbotschafterin führte zahlreiche Beispiele für eine menschenverachtende Sprache an, zum Beispiel den Ausdruck „Kopftuchmädchen“. Es sei zwar richtig, dass die Burka nicht nach Deutschland gehöre, „aber Springer-Stiefel und Glatzköpfe auch nicht“. Deutschland könne stolz auf seine Integrationsleistung sein, betonte Käßmann, und verwies auf die Leistung in den Nachkriegsjahren. Heute brauche man eine postmigrantische Definition von Deutschland. Schließlich sei das ganze christliche Abendland das Ergebnis von Migration. Für Albert Schweitzer sei die atomare Bedrohung seine Hauptsorge gewesen: „Das verbindet ihn mit Konstantin Wecker und mir“, sagte Käßmann. Sicher hätte Albert Schweitzer an dem jugendlichen Protest der Fridays for Future-Bewegung seine Freude gehabt. Auch das könne man von Schweitzer lernen: „Nicht nachlassen. Er hat für seine Sache alles gegeben.“

Albert Schweitzer hatte für Sport zwar nichts übrig und konnte mit Fußball nichts anfangen. Trotzdem sprach zum Jubiläum und zur Preisverleihung auch der Präsident von Eintracht Frankfurt, Peter Fischer, wohl auch, weil der Club und sein Präsident für eine klare Haltung stehen. Sport, so Fischer, könne Werte schaffen und vermitteln. Sport müsse politisch sein. Der Sport stehe dafür, dass alle Menschen gleich sind. In der Kabine der Eintracht säßen Spieler aus 19 Nationen. Die 80.000 Mitglieder des Clubs kämen aus 100 Nationen. Fischer kritisierte auch die antisemitischen Rufe gegen den Schiedsrichter beim Spiel gegen Straßburg vor einigen Tagen.

Der Frankfurter evangelische Stadtdekan Achim Knecht würdigte die Bedeutung des Albert-Schweitzer-Zentrums mit Archiv, das heute in der Wolfgangstraße im Nordend untergebracht ist. „Die Evangelische Kirche in dieser Stadt sieht sich auch heute noch dem Erbe des bedeutenden Humanisten Albert Schweitzer verpflichtet“, hob Knecht hervor und wies auf die Aktualität der Ethik Albert Schweitzers hin: „Die Rettung von Menschen, die auf ihrer Flucht und Migration nach Europa auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, ist heute ein zeitgemäßer Ausdruck einer tatkräftigen Ehrfurcht vor dem Leben. Ich bin überzeugt, auch Albert Schweitzer hätte die Seenotrettung von Geflüchteten und Migranten aus dem Mittelmeer unterstützt!“

Oberbürgermeister Peter Feldmann erinnerte in seiner Ansprache an die besondere Verbindung Albert Schweitzers mit Frankfurt. Schweitzer hat 1928 den Goethepreis der Stadt erhalten, 1951 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, und 1959 wurde er zum Ehrenbürger Frankfurts ernannt. „Albert Schweitzer war gerne hier. Es hat ihn immer wieder in diese Stadt gezogen“, sagte Feldmann.

Der Musiker und Sänger Konstantin Wecker (links) verbindet seit vielen Jahren Kunst und Politik. Dafür wurde er in der Paulskirche mit der Albert-Schweitzer-Medaille ausgezeichnet. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth
Der Musiker und Sänger Konstantin Wecker (links) verbindet seit vielen Jahren Kunst und Politik. Dafür wurde er in der Paulskirche mit der Albert-Schweitzer-Medaille ausgezeichnet. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

„Es braucht viele Sprachrohre, damit pflegende Angehörige Unterstützung bekommen“

Hessenschau-Moderatorin Constanze Angermann fordert mehr Unterstützung für pflegende Angehörige. |Foto: hr
Frau Angermann, was macht man als Pflegebotschafterin der Diakonie? Erst mal redet man über Pflege und bringt damit das Thema, das sich zu einem ganz großen Teil hinter verschlossenen Türen abspielt, in die Öffentlichkeit. Der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen wird zuhause von Angehörigen, von Frauen und Töchtern gepflegt. Die leisten Unglaubliches und sind oft allein mit dieser schwierigen Arbeit. Sie haben gar nicht die Zeit, jedem noch zu erzählen, was sie da leisten. Da ich mich aber mit pflegenden Angehörigen unterhalte und sie mir sagen, was sie brauchen, bin ich gerne ihr Sprachrohr. Es braucht allerdings viele Sprachrohre, damit erkannt wird, was die Pflegenden an Unterstützung brauchen. Und damit ihnen ihre Arbeit nicht noch durch Bürokratie schwerer gemacht wird. Wie kamen Sie zu dieser Aufgabe? Ich kümmere mich selbst um eine alte Frau und Freundin, die noch vieles selbst kann, aber das ändert sich ständig. Und so wachse ich gerade in eine Pflege hinein. Ich habe großen Respekt davor und werde mir so viel Hilfe wie möglich holen, einfach, damit man auch mit der Situation nicht allein ist. Dann hat die Diakonie vor einiger Zeit starke Frauen in der Pflege vorgestellt – dafür war es höchste Zeit. Denn in der Pflege wird Zukunftsweisendes geleistet. Was davon hat Modellcharakter? Das wird für uns alle immer wichtiger. Denn wir haben immer mehr zu Pflegende, aber immer weniger, die pflegen. Wie also machen wir das, wie organisieren wir das? Was sollte Ihrer Meinung nach zur Verbesserung der Pflege getan werden? Erst mal müssen wir anerkennen, was die pflegenden Angehörigen machen. Die machen das in der Regel nämlich gut und können die Signale des zu Pflegenden hören und einordnen. Sie haben einen für beide Seiten passenden Modus gefunden. Also: die sollte man unterstützen und nicht noch gängeln. Man soll ihnen Hilfe anbieten, die sie auch annehmen können. Was hat denn ein Mann vom Urlaubsangebot seiner Krankenkasse, wenn er in der Zeit keine Unterbringung für seine zu pflegende Frau hat? Es wäre sicher gut, die Maßnahmen in der Pflege zu bündeln, einen Ansprechpartner zu haben und nicht noch durch bürokratischen Wust, durch den sich der Pflegende erst mal kämpfen muss, die Situation weiter zu verschärfen. Außerdem muss die Pflege möglich gemacht werden, durch mehr Personal oder durch eine Arbeitswelt, die sich darauf einstellt, dass Angehörige gepflegt werden müssen. Welche Rolle kann die Diakonie dabei einnehmen? Es sind zu wenige Menschen auf dem Markt der Pflege, wir brauchen mehr Pflegekräfte. Von daher bin ich um jeden froh, der sich praktisch und organisatorisch damit befasst. Aber die vielen Anbieter müssen natürlich auch einem gewissen Standard genügen, und diese Qualität muss kontrolliert werden. Die Diakonie hat viele Einrichtungen und dadurch ein aussagekräftiges Bild der Pflege vor Augen. Sie weiß, was es außerdem noch braucht und kann das in die Politik bringen. Das halte ich bei den großen profilierten Einrichtungen in der Pflege für extrem wichtig. Welche persönliche Beziehung haben Sie zu Kirche und Diakonie? Ich habe eine ur-evangelische Sozialisation, ich bin gewissermaßen neben meinem Vater auf der Orgelbank der evangelischen Kirche in Götzenhain groß geworden. Also ich bin evangelisch durch Musik, wenn Sie so wollen. Und die Diakonie ist mir durch die Pflege zugewachsen. Dieses Thema liegt mir einfach am Herzen, wir können uns da nicht wegducken. Das kommt auf jeden von uns zu und wir müssen uns darum kümmern. Das Schöne ist: Man hat damit auch eine Aufgabe, die sinnvoll ist. Das macht zufrieden, wenn es gut läuft. Das ist noch ein Stück Leben, das man mit dem oder der zu Pflegenden teilen kann. Wir müssen nur dran arbeiten, dass wir dafür noch bessere Rahmenbedingungen haben. Das Gespräch führte Kurt-Helmuth Eimuth

Notfallseelsorge: Damit sich auch jemand um die Angehörigen kümmert

von Kurt-Helmuth Eimuth 31. Juli 2019

Bei grausamen Ereignissen wie diese Woche am Frankfurter Hauptbahnhof, als ein achtjähriger Junge und seine Mutter vor einen einfahrenden ICE gestoßen wurden und das Kind starb, wird auch die Notfallseelsorge gerufen. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen den Angehörigen und Betroffenen zur Seite. 278 Mal war die Frankfurter Notfallseelsorge im Jahr 2018 im Einsatz.

Blumen an Gleis 7 erinnern an den getöteten Jungen. Die Notfallseelsorge war auch diesmal im Einsatz, um den Menschen beizustehen, die die Tat miterlebt hatten. | Foto: Rolf Oeser
Blumen an Gleis 7 erinnern an den getöteten Jungen. Die Notfallseelsorge war auch diesmal im Einsatz, um den Menschen beizustehen, die die Tat miterlebt hatten. | Foto: Rolf Oeser

Polizei und Notärzte kümmern sich in Notfällen um die direkt Betroffenen, aber auch andere brauchen Hilfe. Am 29. Juli, als im Frankfurter Hauptbahnhof ein achtjähriger Junge starb, erlitten auch viele Umstehende einen Schock oder brauchten Unterstützung und ein offenes Ohr: Die Reisenden auf dem Gleis, aber auch diejenigen, die in dem Zug saßen. Die Haupt- und Ehrenamtlichen der Frankfurter Notfallseelsorge kümmerten sich in den Räumen der Bahnhofsmission um alle, die Beistand brauchten.

Dass es in Frankfurt eine Notfallseelsorge gibt, dafür war ein anderes grausames Ereignis der Auslöser: An Weihnachten 1996 wurde in der Kirche in Sindlingen ein Handgranatenanschlag verübt, bei dem drei Menschen starben und zahlreiche Gottesdienstbesucherinnen und -besucher verletzt wurden. Polizei und Notärzte kamen, aber niemand war da, um die Zurückgebliebenen, die Angehörigen, die nicht verletzten Menschen zu betreuen.

Dieses Schlüsselereignis führte in der Folge zur Gründung der Notfallseelsorge vor zwanzig Jahren. In Kooperation mit den Einsatzkräften vor Ort kümmert sie sich um die Angehörigen eines Unfalles, eines plötzlichen Todesfalles oder auch eines Suizids. Die Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger überbringen auch Todesnachrichten.

Gerufen werden die heute 38 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die Feuerwehrleitstelle. „Von Anfang an war Bedingung, dass wir an 365 Tagen im Jahr immer zwei Personen in Bereitschaft haben“, sagt Irene Derwein. Die Pfarrerin ist von Anfang an dabei, zuerst als Ehrenamtliche, dann zehn Jahre lang als Leiterin der Notfallseelsorge. Heute ist sie die zuständige Arbeitsbereichsleiterin im Diakonischen Werk für Frankfurt und Offenbach.

Unter den Ehrenamtlichen sind Pfarrerinnen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, aber auch Journalistinnen und Bankangestellte. Sie alle haben Erfahrung mit Menschen in Krisensituationen und eine 14-tägige Zusatzqualifikation absolviert. Zunächst ist ihre Aufgabe eine reine Krisenintervention, das heißt: bei den Menschen sein, mit ihnen sprechen, Hilfe durch Angehörige organisieren, wenn die Rettungskräfte abgezogen sind. Falls gewünscht, wird ein Gebet gesprochen.

Sollte der Leichnam noch im Haus sein, kann eine Aussegnung mit Kerzen und Gebet gemacht werden. Es geht um eine würdige Verabschiedung. Alle Ehrenamtlichen, ob Theologen oder Laien, sind darin geschult. Dies sei eine Besonderheit der Ausbildung, sagt Irene Derwein. Sie bedauert allerdings, dass es nicht gelungen ist, von Anfang an die katholische Kirche mit ins Boot zu bekommen. Unter den Ehrenamtlichen sind aber katholische Christinnen und Christen und auch Priester. Bei Bedarf vermittelt die Notfallseelsorge auch an muslimische Seelsorgerinnen.

Inzwischen hat die Notfallseelsorge eine hohe Akzeptanz. Im Jahr 2018 wurde sie 278 Mal gerufen und hat über 700 Menschen begleitet. Die Akzeptanz bei den Rettungskräften kommt nicht von ungefähr. So unterrichtet der neue Leiter der Notfallseelsorge, Conny von Schumann, die Feuerwehr in Krisenintervention und Stressbewältigung. Auch die Feuerwehrkräfte müssen mit den belastenden Ereignissen umgehen. Auch für sie ist die Notfallseelsorge Ansprechpartnerin.

Inzwischen sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger auch bei einigen Großveranstaltungen oder bei Bombenevakuierungen direkt vor Ort. „Da gibt es immer was zu tun, und zahlreiche ältere Leute erinnern sich noch an die Bombennächte von Frankfurt“, berichtet von Schumann von der letzten Entschärfung im Ostend. „Da braucht es einfach Zuhörer.“

Der Weg zur Notfallseelsorge geht immer über die Rettungs- und Einsatzkräfte, Privatleute können sich im Fall von Krisen oder Hilfsbedarf an die Telefonseelsorge wenden, die rund um die Uhr unter der kostenlosen Telefonnummer 0800/111 0 111 erreichbar ist.

Christliche Angstprediger spalten die Kirche

von Kurt-Helmuth Eimuth 30. Juli 2019

Auch in Deutschland hat sich inzwischen ein vernetztes, rechts-christliches Milieu herausgebildet, das den Kirchen zu denken geben muss. Liane Bednarz hat die inhaltlichen und organisatorischen Verflechtungen der rechten Christen und Christinnen detailliert herausgearbeitet.

Liane Bednarz: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, 256 Seiten. Droemer. Erhältlich jetzt auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung , 4,50 Euro.
Liane Bednarz: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, 256 Seiten. Droemer. Erhältlich jetzt auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung , 4,50 Euro.

Es ist ein Vorgang, der alle Christinnen und Christen, aber besonders die Kirche als Institution in Alarm versetzen müsste: „Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern“ beschreibt Liane Bednarz in ihrem Buch über „Die Angstprediger“. Die inhaltlichen und organisatorischen Verflechtungen dieser Netzwerke können der Kirche nicht gleichgültig sein. Es ist zu wünschen, dass innerhalb und außerhalb der Kirche die Sensibilität für das Erstarken der rechten Christen wächst. Auch der Bundeszentrale für politische Bildung war die Thematik so wichtig, dass sie das Buch jetzt in ihr Programm aufgenommen hat und für nur 4,50 Euro vertreibt.

Im Vorwort schreibt die Autorin, dass es in beiden christlichen Konfessionen zu einer regelrechten Spaltung gekommen sei. Auf der einen Seite die Konservativen, die katholischerseits den Zölibat befürworten und die Frauenordination ebenso wie Kritik an der Kirchenhierarchie ablehnen, sowie die so genannten „bibeltreuen“ Protestanten, die sich regional im im „Bibelgürtel“ rund um Dresden, in schwäbischen Gebieten Bayerns, in Wuppertal sowie im Siegerland und Nordhessen konzentrieren. Auch das hessische Hinterland rund um Biedenkopf ist weltanschaulich vom Siegerland geprägt, auch dort sind die geschilderten gesellschaftlichen Veränderungen in den Dörfern offensichtlich.

Wie unter einem Brennglas lasse sich hier etwas verfolgen, das auch gesamtgesellschaftlich zu beobachten ist: Aus ehemals harmlosen Konservativen werden Menschen, die schrittweise rechte Positionen übernehmen und sich nicht selten nach und nach immer weiter radikalisieren. Als Feindbilder halten die Themenkomplexe „Genderwahn“ und Homosexualität, „Islamisierung des Abendlandes“ und „GEZ-Medien“ herhalten. Überstrahlt wird alles von dem „typisch neurechten“ Zerrbild der „Überfremdung“.

Detailliert zeichnet die Autorin die Argumentationslinien der rechten Christen und Christinnen sowie ihre Verbindung zur AfD auf. So wird etwa in der evangelikalen Publikation „idea Spektrum“ in der Kontroverse um die Ehe für alle der EKD vorgeworfen, dort herrsche „die Diktatur des Zeitgeistes und nicht die Leitung durch den Heiligen Geist“.

Die Integration konservativer Christen und Christinnen sieht die Autorin als vielleicht größte Herausforderung für die evangelische Kirche. „Je mehr man konservative Stimmen in den evangelischen Gliedkirchen marginalisiert, umso mehr treibt man sie de facto in die Radikalisierung hinein und macht sie anfällig für rechtschristliche Kreise“, schreibt sie. Die Unterscheidung der Geister, die klare Trennung zwischen konservativ und rechts, wird, so Bednarz „eine ebenso große Aufgabe für die Kirchen sein wie die Integration Konservativer“. Die Kirchen seien gefordert, streng fromme konservative Positionen auszuhalten und gleichzeitig dort eine Grenze zu ziehen, wo ein Menschenbild vermittelt wird, das mit dem Evangelium nicht mehr kompatibel sei.

Zur Vorbereitung zum Diskurs mit Menschen, die konservative Positionen vertreten ist dieses Buch eine große Hilfe. Und für alle, die Verantwortung in der Kirche tragen, hilft die Analyse, zu sehen, dass sich im Nebel eines konservativen Christentums längst auch in Deutschland ein gefährliches, vernetztes, rechts-christliches Milieu gebildet hat.

Margot Käßmann über Geschwister in der Bibel

von Kurt-Helmuth Eimuth 12. Juli 2019

Mit ihrem neuen Buch ist Margot Käßmann ein ungewöhnlicher Blick auf die Heilige Schrift gelungen: Von Geschwisterbeziehungen auszugehen eröffnet eine Perspektive, die wir tagtäglich erleben und gerade deshalb kaum wahrnehmen.

Margot Käßmann: Geschwister der Bibel. Geschichten über Zwist und Liebe. Herder Verlag 2019, 176 Seiten, 16 Euro.
Margot Käßmann: Geschwister der Bibel. Geschichten über Zwist und Liebe. Herder Verlag 2019, 176 Seiten, 16 Euro.

Beziehungen sind für Menschen überlebensnotwendig. Freundinnen und Freunde kommen und gehen, Partner und Partnerinnen auch, und in der Regel überleben Kinder ihre Eltern. Die Beziehung, die im Verlauf des Lebens am Längsten besteht, ist die zu den Geschwistern.

„Da gibt es große Liebe zueinander und große Konkurrenz, Solidarität und Abgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Auseinandersetzung“, schreibt Margot Käßmann in ihrem Vorwort. Offenbar war dies auch schon zu biblischen Zeiten so.

Allerdings waren damals die gesellschaftlichen Umstände anders. Der Wert einer Frau wurde an der Zahl ihrer Geburten (von Jungen) gemessen, Intimsphäre kam im engen Zelt kaum auf. Käßmann erzählt die alten Geschichten spannend aus heutiger Perspektive. Zum Beispiel den Streit zwischen Jakob und Esau um das Erstgeburtsrecht. Die beiden waren Zwillinge. Was bedeutete es damals für ihre Mutter Rebekka, zwei Kinder gleichzeitig zu bekommen? Anders als heute konnte sie das ja vor der Geburt nicht wissen.

Und dann bevorzugt die Mutter einen der Brüder. Für Margot Käßmann ist das nicht nachvollziehbar: „Ein Kind zum Liebling zu erklären, wird immer den Familienfrieden stören.“ Und dann eines Tages begegnen sich die Brüder wieder. Käßmann, die selbst Mutter von Zwillingen ist, vermutet, dass die Bindung der Brüder trotz allem stark war. Sie hätten gewiss oft aneinander gedacht oder voneinander geträumt. Obgleich Jakob Esau betrogen hat, liegen sie sich in den Armen. „Was für eine wunderbare Geschichte von Versöhnung ohne viel Worte, von Versöhnung, die es in Familien nach aller Auseinandersetzung und allem Streit eben auch geben kann.“

In vielen der auf wenigen Seiten beschriebenen Geschwisterbeziehungen werden Verhältnisse deutlich, die uns zunächst fremd zu sein scheinen. Doch auf dem zweiten Blick kennen wir die Probleme auch: Leihmutterschaft, die Sehnsucht nach „eigenen“ Kindern, sexuelle Gewalt. In der Bibel werden diese Probleme häufig sehr direkt, geradezu brutal erzählt. Etwa wenn Lot seine sexuell noch unerfahrenen Töchter an einen Männermob herausgeben will. Später machen dieselben Töchter ihren Vater betrunken und bringen ihn dazu, sie zu schwängern.

Margot Kässmann ist überzeugt, dass hier in Wahrheit ein klassischer Fall von häuslicher Vergewaltigung erzählt wird. „Inzest galt auch in jenen Zeiten als Tabu. Also wird erklärt: Sie haben den armen betrunkenen Vater verführt.“ Für Käßmann ist das einzig Tröstliche an dieser furchtbaren Geschichte, dass die Schwestern nicht alleine sind. Sie haben einander, und sie hatten die Kraft, ihre Söhne groß zu ziehen.

Das Buch lässt die biblischen Familienbanden, die Verzwickungen und Verflechtungen, die Abhängigkeiten und die Zuneigungen, die Sanftheit und Brutalität biblischer Geschichten vor den Augen des Lesers und der Leserin entstehen. Es liest sich Spannend wie ein Krimi, und man bekommt Lust, mehr zu erfahren. Eine empfehlenswerte Lektüre, die einen neuen Blick auf die biblische Überlieferung eröffnet.

Margot Käßmann in der Paulskirche am 3. September 2019 Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Vorwärts gelebt, rückwärts verstanden

Abschied von Steinperf

Obgleich Frankfurter kam ich 1978 in eine hessische Gegend, die mir bisher verborgen geblieben war. Ich erinnere mich noch genau. Meine damalige Freundin zeigte mir wie die Kurven sportlich zu fahren waren und ich staunte in den Sitz des Audi 50 gepresst über eine Landschaft, die mich an Österreich mit seinen Wiesen und Wäldern erinnerte. Nur die Berge waren niedriger. Und dann die Sprache. Ich lernte, dass es nicht einfach nur Hessisch gibt. Der Sprachraum in Mittelhessen, im hessischen Hinterland, ist ein ganz eigener. Die ersten drei Tage verstand ich wenig bis nichts.

Doch im Laufe der Jahrzehnte habe ich mich eingehört, verstehe 98 Prozent, Platt schwätzen heute auch nur noch die alten Leute, zu denen meine Generation gehört. Das Leben im kleinen Dorf Steinperf im Altkreis Biedenkopf habe ich lieben und schätzen gelernt. Und nun gilt es Abschied zu nehmen. Die Schwiegereltern sind lange verstorben und auch wir können das Haus, das wir zwischenzeitlich für uns ausgebaut haben, nicht mehr nutzen. Es ist nicht barrierefrei und nur mit hohem Aufwand umzubauen. Ein Ausschlusskriterium, da meine Frau, jene Dame, die mich so flott ins Hinterland beförderte, seit vier Jahren auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Hinzu kommt die medizinische Versorgung auf dem Land. Die Arztpraxen in den umliegenden Dörfern schließen nach und nach. Der öffentliche Nahverkehr findet praktisch nicht statt und von schnellem Internet darf man träumen. Alles Argumente, die uns schon vor vielen Jahren von unserem ursprünglichen Plan, im Ruhestand ganz aufs Land zu ziehen, abbrachten. Und noch eines sollten die bedenken, die für die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens verantwortlich sind. Immer nur neue Wohnungen zu bauen, obgleich die Bevölkerung schrumpft, kann nicht die einzige Antwort sein. Auch im Hinterland, gut einhundert Kilometer von Frankfurt entfernt, stehen in jedem Dorf zehn Häuser leer. Für eine Drei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt bekommt man dort fünf Häuser. Die Mieten liegen entsprechend weit unter dem, was in Frankfurt eine geförderte Wohnung kostet. Die Förderung des ländlichen Raums hätte mindestens so viel Aufmerksamkeit verdient wie die explodierenden Mieten in den Ballungszentren.

Aber wir können nicht mehr so lange warten bis die Politik den Trend wendet. Das Haus muss geräumt werden. Jedes Buch, jeder Schrank hat seine Geschichte. So wie das Gebäude selbst. Meine Schwiegermutter hatte es per Los zugesprochen bekommen. So wie man sich das vorstellt: Mit langen und kurzen Streichhölzern. Sie zog das Lange und ihre Brüder hatten das Nachsehen. Das 1900 erbaute Fachwerkhaus fiel ihr zu und die Brüder mussten ausgezahlt werden. Das war Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ein Drittel des Hauses war Scheune, im Keller war ein kleiner Stall in dem eine Kuh gehalten wurde. Gemeinsam mit der Bewirtschaftung eines Ackers und eines Gartens trug diese Mini-Nebenerwerbs-landwirtschaft erheblich zum Unterhalt der Familie bei. Auch ich Stadtkind half dann später bei der Kartoffelernte und durfte auch mal Traktor fahren. Schönes Landleben, wenn auch der Rücken schmerzte.

Vor diesem Hintergrund kann man den Stolz nachvollziehen, wenn die Schwiegermutter vom Kauf des Küchenbuffet erzählt. Lange hatten sie sparen müssen. Der Dorfschreiner hat es in Handarbeit hergestellt. Die Schütten für Mehl und Zucker sind noch vorhanden. Dank der liebevollen Behandlung mit Möbelpolitur ist der Schrank noch gut erhalten. Längst ist er in den Keller gewandert. Fristete dort ein vernachlässigtes Dasein, wurde zweckentfremdet zur Aufbewahrung von Bastelmaterialien und ja, nicht verbrauchte Spielzeugeisenbahnutensilien hatte ich dort gelagert. Jetzt muss auch dieser Schrank entsorgt werden. Gut, dass die Schwiegermutter dies nicht mehr miterlebt.

Ein Freund kam während des Räumens vorbei und meinte. Auch er müsse mal mit seiner Frau das Haus räumen. Schließlich könne man das nicht den Kindern überlassen. Aber vom Gefühl könne er sich nicht vorstellen, alles wegzuwerfen. Mein Rat: „Tu dir das nicht an. Vererbe etwas Geld mit dem die Kinder den Entrümpler bezahlen können. Dann ist alles gut.“

Verschwiegen habe ich, dass das Wegwerfen nicht das Problem ist. Das Aussortieren ist das Problem. Welche Erinnerungsstücke möchte ich noch behalten. Wo habe ich Erinnerungen, was hat für mich einen ideellen Wert? Klar, Fotos wirft man nicht weg. Die Fotoalben finden sicher irgendwo einen neuen Platz. Auch die kleine Plastiktüte mit Bildern aus dem Krieg, die noch im Wohnzimmerschrank lag. Mein Schwiegervater stolz in Uniform. Er, den ich nur als eingefleischten Sozialdemokraten kannte. Brief-markengroße Bilder von fremden Landschaften, vermutlich Frankreich. Und Gruppenbilder wie wir sie heute auch machen. Nur eben eine Gruppe Soldaten. Auch das alte Soldbuch fand sich noch. Mit deutscher Gründlichkeit ist alles festgehalten, etwa auch ob Feldmütze, Drillichzeug, Unterhose oder Mantel an den Gefreiten ausgegeben wurde. Genau Buch geführt wurde auch über das Aushändigen einer Gasmaske. Und schließlich die Eintragungen des Lazaretts im Jahre 1944. Wie so viele seiner Generation sprach auch mein Schwiegervater nicht über seine Kriegserlebnisse. Wir hatten es gelegentlich versucht. Lungensteckschuss, Lazarett, Kriegsgefangen-schaft. Alles kein Zuckerschlecken. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Und dann nach dem Krieg Schleifarbeiten im Metallgewerbe. Ergebnis Staublunge. Bei allem, was die EU kritikwürdig macht, sind über sieben Jahrzehnte Frieden ein Geschenk für unsere Generation.

Zu den schöneren Funden gehört ein grauer Karton mit Briefen. Vor allem die Glückwünsche zu unserer Hochzeit vor 38 Jahren, aber auch einige Briefe, die wir uns geschrieben haben. Vergessen, verstaut im Trempel des Dachgeschosses. Viele, von denen, die uns gratulierten, sind nicht mehr unter uns. Es gilt der Satz von Sören Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

Jeder Haushalt hat Geschirr. Die beiden Haushalte, unserer und der der Schwiegereltern, hatten unvorstellbare Mengen von Geschirr. Schließlich brauchte man auch für Geburtstagsfeiern jede Menge. Normale Geburtstage, keine Runden. Da wurde schon drei Tage vorher mit dem Backen begonnen, Tische und Stühle wurden herbeigeschleppt, das Wohnzimmer umgeräumt. Meine ungläubige Frage, wer denn alles eingeladen sei, entgegnete man mit einem unverständlichen Schweigen. Also schleppte ich mit, deckte Tische. So dreißig Personen waren unterzubringen. Und tatsächlich. Pünktlich um 15 Uhr war das Wohnzimmer mit Nachbarn, Freundinnen und Freunde und Verwandtschaft gefüllt. Auf jedem Tisch standen drei Torten und den Kaffee durften wir Kinder einschenken. Bedienung gehörte dazu. Kein Wunder also, dass hier Ess- und Kaffeeservices jeweils für 18 Personen in den Schränken gestapelt waren. Hinzu die zahllosen Kuchenplatten aus Bleikristall oder auch einfach Tupper für den Transport, denn schließlich bekam jede Familie noch etwas vom Geburtstagskuchen mit nach Hause.

Jetzt will niemand das Geschirr mehr haben. Selbst auf eBay erzielt es keine nennenswerte Nachfrage mehr. Man merkt, wir sind die Generation der Erben. Demografischer Wandel einmal ganz praktisch. So bleibt für Vieles nur noch der Restmüllcontainer.

Nachbarschaft ist auf den Dörfern etwas Besonderes. Es sind nicht nur Nachbarn, die sich Jahrzehnte kennen. Sondern auch die Generation davor und die Generation danach leben in der Dorfgemeinschaft. Man besucht sich, nimmt Anteil und übt natürlich auch soziale Kontrolle aus. „Du musst die Vorhänge waschen, man spricht schon darüber“, war der in einem Brief gefundene Ratschlag meiner Schwiegermutter.

Damit doch noch etwas Nachhaltigkeit erzielt wird, haben wir einen Hausflohmarkt veranstaltet. Mit mäßigem Erfolg. Auch da zeigt sich das Landleben negativ. Vieles hätte in Frankfurt seinen Abnehmer gefunden, doch wer will schon für gebrauchte Möbel, Geschirr und Haushaltsutensilien viele Kilometer fahren? Und die Zeitgenossen, die dann anrufen und fragen, ob man die geschenkte Couch nicht doch vorbeibringen könne, sind leider gar nicht so selten. Die, die flehentlich um die Reservierung des Tisches oder der Bank gebeten haben, erscheinen dann häufig nicht. Verbindlichkeit fehl am Platze.

Zu den ideellen Werten gehören immer Dinge, die selbst hergestellt wurden. Da sind die Intarsienarbeiten des Schwiegervaters, ob als Bild oder als Verschönerung der Möbeltüren. Oder die Kommode, die er für seine Enkelin in der Tradition naiver Bauernmalerei gestaltet hat. Natürlich werden solche Objekte sorgfältig verpackt und eingelagert. Auch die alte Bandonika, eine Art Akkordeon, gehört dazu. Überhaupt war der Schwiegervater ein begabter Künstler. Musik und Malerei waren seine Passion.

Bücher sind der Schreck eines jeden Möbelträgers. Wohin? Und warum nicht aufheben? Diesen Krimi wollte auch ich noch lesen und der Band über Masuren diente immerhin zur Vorbereitung einer wunderbaren Fahrradtour. Und was mache ich mit den Fachbüchern? Brauche ich sie trotz Internet nicht doch noch einmal zum Nachschlagen? Es hilft nichts. Für die allermeisten bleibt nur die Papiertonne.

Und wie überall wurde am Haus ständig gewerkelt. Den Einbau einer Zentralheizung, den Bau eines Zimmers in die Scheune, den Bau einer Garage waren die kleinen Projekte. Beim Bau der Garage konnte ich dem 1991 verstorbenen Schwiegervater helfen. Ob Maurerkellen oder Zollstocksammlung, alles von Schwiegervater Otto. Immer wieder erschall beim Ausräumen der Ruf: „Oh, das ist noch von Otto“. Schließlich die Frage eines helfenden Freundes: „Wer war denn dieser Otto?“ In der Erinnerung leben wir weiter. Und das ist doch schön.

Kurt-Helmuth Eimuth, Juni 2019

Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Darauf haben nur die Religionen eine Antwort.

Die christlichen Kirchen in Deutschland verlieren Mitglieder. Bis zum Jahr 2060 wird sich ihre Zahl voraussichtlich halbieren, wie eine aktuelle Studie der Universität Freiburg ergeben hat. Für Frankfurt und Offenbach heißt das, dass in vierzig Jahren wohl weniger als ein Viertel der Bevölkerung der Kirche angehören wird.

er absehbare Rückgang der Kirchenmitglieder ist nur zum Teil mit der Demografie zu erklären, also damit, dass mehr Kirchenmitglieder sterben als geboren werden. Der Hauptgrund ist, dass sich viele aus der Generation um die Dreißig von der Kirche abwenden: Rund ein Drittel aller Getauften tritt bis zum Alter von 35 Jahren aus.

Der Mitgliederschwund der Kirchen vollzieht sich also im dritten und vierten Lebensjahrzehnt, in der sogenannten „Rushhour“ des Lebens. In der Zeit, in der Menschen ins Erwerbsleben eintreten, die ersten Kirchensteuern zahlen müssen, Familien gründen und Kinder bekommen.

Die heute um die Dreißigjährigen werden in zehn oder fünfzehn Jahren die Entscheidungsträger und -trägerinnen der Gesellschaft sein. Kann die Kirche ihnen dann noch vermitteln, warum ihre besondere Stellung nötig ist? Auf einem Plakat der atheistischen Giordano-Bruno-Stiftung ist eine junge Frau zu sehen, die in einer SMS schreibt: „Hallo Kirche, wir sind seit 100 Jahren getrennt, aber du liegst mir noch auf der Tasche. Es reicht!“ Die Deutsche Bahn lehnte das Anbringen des Plakats mit Verweis auf „fehlende Neutralität“ ab. Ob die Verantwortlichen in zwanzig Jahren noch so entscheiden würden, ist fraglich.

Die Kirchen steuern auf eine Legitimationskrise zu. Sie können ihr nur begegnen, wenn sie die 25- bis 40-Jährigen ansprechen. Kontakt zu dieser Altersgruppe haben sie, zum Beispiel in Kindergärten und Krabbelstuben, aber auch im Religionsunterricht. Dort erreichen sie noch alle Familien, dort sind sie noch Volkskirche.

Die Kirchen müssen ihr Anliegen und eine christliche Haltung aber auch vermitteln. Das bedeutet nicht Mission, sondern Kommunikation. So ist Respekt gegenüber allen Menschen sicher eine gute ethische Haltung, aber ihr Ursprung liegt darin, dass Gott alle Menschen geschaffen hat. Klimaschutz ist überlebensnotwendig, aber er begründet sich christlich in der Bewahrung der Schöpfung. Die Kirchen sind von der Überzeugung geprägt, dass der Mensch nicht zerstören darf, was Gott geschaffen hat. Das gilt im Umgang miteinander ebenso wie im Umgang mit der Umwelt. Man darf ruhig etwas von dem Geist Gottes im Alltag spüren. Denn nur die Religionen haben eine Antwort auf die Frage, woher der Mensch kommt und wohin er geht.

Ihrer Legitimationskrise können die Kirchen nur mit Offenheit und dem Hinweis auf ihr Fundament begegnen.

Kurt-Helmuth Eimuth, 3.6.2019

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