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„Es wird nie wieder normal“

Propst Oliver Albrecht. Foto: Rolf Oeser

Vor einem Jahr starb ein Achtjähriger am Frankfurter Hauptbahnhof, weil er vor einen Zug gestoßen wurde. Was kann der christliche Glaube in so einer Situation beitragen? Fragen an Propst Oliver Albrecht, der die Angehörigen begleitet hat.

err Albrecht, wir alle erinnern uns noch an das Unglück im Frankfurter Hauptbahnhof vor einem Jahr, bei dem ein Achtjähriger starb. Kann es bei solchen Schicksalsschlägen Trost für die Hinterbliebenen geben?

Trost gerät schnell zu Vertröstung. Denn es gibt Dinge, die sind so schrecklich, dass sie keiner auch nur ahnungsweise verstehen kann, der sie nicht selbst erlebt hat. Trost nach christlichem Verständnis heißt deshalb nicht: viele Worte machen, im Gegenteil. Die Tröster in der Bibel sind einfach da, hören zu, laufen nicht weg. Und ganz wichtig: Wir sollen das mit langem Atem tun. Für den, der Schreckliches erlebt hat, wird das Leben nie wieder normal. Dann ist es verletzend, wenn die anderen wieder „zur Tagesordnung“ übergehen. Am Anfang ist die Aufmerksamkeit fast zu groß. Es ist aber enorm wichtig, einen langen Weg mitzugehen.

Der Täter ist vom Gericht als nicht schuldfähig eingestuft worden. Er muss dauerhaft in die Psychiatrie. Hat er nicht Schuld auf sich geladen?

Der Täter hat Schuld auf sich geladen, das Gericht hat aber geurteilt, dass er aufgrund seiner Erkrankung nicht fähig ist, dies zu erkennen. Schuldunfähig heißt eben gerade nicht unschuldig! Die dauerhafte (!) Unterbringung in einer Klinik kann vielleicht die Chance bringen, an den Kern des Problems, eben diese Krankheit, zu gelangen. 15 Jahre in einer Justizvollzugsanstalt hätten diese Chance nicht gebracht. Manche sagen: Schuldunfähigkeit, das klingt nach einer Ausrede. Aber das Gegenteil ist richtig; dieses Urteil ist die klarere und konsequentere Lösung.

Christlicher Glaube verlangt Vergebung, und doch wollen wir, dass eine Tat gesühnt wird. Wie passt das zusammen?

Es wird uns nicht gelingen, die Verletzungen und die unfassbaren Verluste, die wir erleiden, irgendwie wieder gut zu machen. Auch keine Sühne und Strafe kann das bringen. Manchmal bindet und fixiert uns das nur noch mehr an den Schrecken der Tat. Wir kommen nicht davon los. Das tut uns nicht gut. Ein christlicher Gedanke, der helfen kann, ist: Wir geben den Täter in Gottes Hände, wir lassen ihn gehen aus unserem Leben. Gottes Gerechtigkeit übersteigt unsere Möglichkeiten in jeder Hinsicht. Gott vergisst niemals das Leid und die Tränen der Opfer. Es passiert ja unvorstellbar Grausames auf dieser Erde, das kommt hier nie vor ein Gericht. Das Jüngste Gericht ist für mich persönlich der stärkste Grund, an Gott zu glauben. Gott sieht aber auch noch einmal den Täter anders. Gott ist auch bei seiner Familie, unvorstellbar, wie es denen gerade geht. Und Gott ist bei dem Täter. Das übersteigt unsere Vorstellung, aber bei Gott ist er gut aufgehoben.

Das Gespräch führte Kurt-Helmuth Eimuth

Geschichten von Menschen auf der Straße

Franz Schubert/Wilhelm Müller/Stefan Weiler, Deutsche Winterreise. Liederzyklus mit Geschichten von Menschen im Abseits. CD mit Booklet, 82 Minuten, 16 Euro.

Mit seinem Musikprojekt „Deutsche Winterreise“ gibt Stefan Weiler authentischen Einblick in das Leben obdachloser Menschen.

weimal war Stefan Weiler mit seinem Programm „Deutsche Winterreise“ auch in Frankfurter Kirchen zu Gast. Er hat sich mit Menschen ohne festen Wohnsitz getroffen, ihre Geschichten gehört und gesammelt. Textfragmente aus diesen Gesprächen hat er dann mit dem Liederzyklus Schuberts Winterreise und mit Gedichten von Wilhelm Müller verwoben.

Herausgekommen ist eine Collage über das Leben in Obdachlosigkeit, ohne Pathos, ohne Klagen und durchaus mit Witz. Hier werden Lebensschicksale lebendig: „Ich sitze vor dem Fallmanager. Er managt wie ich falle“, erzählt einer. Weilers „Winterreise“ erzählt von verlorener Liebe, verletzten Gefühlen, von Geld, Tod, psychischer Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut. Und von einer vergleichsweise reichen Gesellschaft, die sich trotzdem Armut und Ausgrenzung leistet.

Die Textfragmente zeigen, wie schnell man in Obdachlosigkeit geraten kann. Mietrückstände, Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Krankheit und in Folge auch Schnaps zerstören die bürgerliche Lebensplanung. Auch Vorurteile über das Leben ohne Dach über dem Kopf werden korrigiert. „Man denkt ja immer, Weihnachten sei das mit der Obdachlosigkeit und Armut besonders schlimm. Das stimmt gar nicht. Schlimm ist es im April, wenn sich kein Mensch und keine Zeitung mehr für dich interessiert. Oder im Juli, wenn jeder denkt, wir hätten es ja jetzt hübsch warum und romantisch – so arbeitslos und lässig im Park. Im Sommer, wenn sich wirklich keiner mehr für dich interessiert, dann ist eigentlich Eiszeit.“

Ein bitter-süßer Einblick in eine fremde Welt, garniert mit sanften Klaviertönen. Die Produktion von „speak low“ wurde von hr2-Kultur ausgezeichnet. Wer einen authentischen Einblick in diese fremde Welt gewinnen will, der darf sich auch mal wieder eine CD kaufen.

kurt-Helmuth Eimuth

„Wer sich engagiert, findet Heimat“

Eberhard Pausch mit seiner Oma Elise im Jahr 1964.

Elise Raschig war in den 1970er und 1980er Jahren in Rödelheim vielfältig engagiert, auch in der Kirchengemeinde. Ihr Enkel, Pfarrer Eberhard Pausch, hat jetzt ihre Biografie geschrieben.

Herr Pausch, Sie haben ein Buch über Ihre Großmutter Elise Raschig geschrieben. Wie kam es dazu?

Als meine Großmutter im Jahr 2000 starb, hinterließ sie mir Briefe, Gedichte und ein Tagebuch der Jahre 1944 bis 1947, das sie selbst ein „Zeitdokument“ nannte. Ich war neugierig auf die Verbindung zwischen ihrem persönlichen Schicksal und der großen Zeitgeschichte, denn ich merkte: Das ist nicht nur Vergangenheit, das ist eine Botschaft für unsere Zeit. Sie lautet: Setze dich ein für unsere Gesellschaft, für unsere Demokratie! Und: Wer sich engagiert, findet Heimat!

Der Zeitraum umfasst das Ende der NS-Diktatur und die ersten Jahre der Bundesrepublik. Auch Ihre Großmutter musste „entnazifiziert“ werden.

Ja, meine Großmutter war Mitglied in der NSDAP gewesen. Sie war früh zum BdM, dem „Bund deutscher Mädchen“ gekommen und dann zur Partei. Ämter hatte sie keine, aber sie glaubte lange den Lügen der Nazis. Die Wahrheit zu erfahren, etwa über die Konzentrationslager, hat sie sehr erschüttert. Da sie persönlich nie jemandem geschadet hatte, wurde sie 1948 amnestiert.

Welchen Bezug zur Kirche hatte Ihre Großmutter?

In der NS-Zeit war sie gegen den Willen ihrer Eltern ausgetreten, wohl im Zuge der Kirchenaustrittskampagne der Nazis. 1946 trat sie dann aus Anlass der Taufe meiner Mutter wieder in die Kirche ein. Zunächst engagierte sie sich aber in anderen Bereichen wie im Sozialverband VdK, in der Gewerkschaft und im Betriebsrat. Erst in den 1970er, 1980er Jahren wurde sie ein aktives Gemeindemitglied. Dafür war vor allem die Freundschaft mit der damaligen Rödelheimer Pfarrerin Elke Klee ausschlaggebend. Später empfand sie die Kirche als ein Stück Heimat.

Elise Raschig – Portrait einer engagierten Rödelheimer Bürgerin
Elise Raschig – Portrait einer engagierten Rödelheimer Bürgerin

Wie kommt man als Pfarrer und Studienleiter an der Evangelischen Akademie dazu, Stadtteilhistoriker zu sein?

Für Geschichte habe ich mich schon als Schüler sehr interessiert. Mit diesem Projekt konnte ich gleichzeitig mein Hobby pflegen, meine Omi ehren und unserem Gemeinwesen nützen.


Eberhard Pausch: Elise Raschig – Portrait einer engagierten Rödelheimer Bürgerin, 10 Euro.

Der Vertrieb erfolgt ausschließlich über den Papierwaren- und Buchladen Pappmarché, Alexanderstraße 27, 60489 Frankfurt, Telefon 069 78 36 25.

Kurt-Helmuth Eimuth

Kirchensteuer-Rabatt für Jüngere? Drei Gründe, warum das keine gute Idee ist.

von Kurt-Helmuth Eimuth 5. August 2020

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, schlägt vor, die Kirchensteuer für Berufseinsteiger*innen zu senken. Klingt auf den ersten Blick zwar plausibel, wird aber so nicht funktionieren.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, will jüngere Kirchenmitglieder finanziell entlasten. | Foto: BayernSPD, Flickr.com (cc by-nc-sa)
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, will jüngere Kirchenmitglieder finanziell entlasten. | Foto: BayernSPD, Flickr.com (cc by-nc-sa)

Die Evangelische Kirche in Deutschland diskutiert, ob für Berufseinsteiger die Kirchensteuer ausgesetzt oder reduziert werden soll. „Viele junge Menschen sind mit Studium und Ausbildung beschäftigt, verlieren womöglich den Kontakt zur Kirche. Und wenn sie dann ihr erstes Gehalt bekommen, fragen sie sich, warum sie Kirchensteuern zahlen sollen und treten aus“, sagte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Beford-Strohm in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“. Ziel sei es, die Gruppe der 25- bis 35-Jährigen „in möglichst hoher Zahl in der Kirche zu halten“.

Tatsächlich tritt vor allem diese Altersgruppe in sehr hohen Zahlen aus der Kirche aus, dem will man verständlicherweise entgegenwirken. Bei der ersten Lohnabrechnung stellen viele erstaunt fest, wie viele Abzüge vom Bruttogehalt es gibt, wie groß die Differenz zwischen Netto und Brutto. Die einzige Stellschraube, an der sich dann etwas ändern lässt, ist die Kirchenmitgliedschaft. Denn bei der Kirchensteuer handelt es sich nicht um eine unvermeidliche Steuer, sondern um einen Mitgliedsbeitrag – und wer nicht Mitglied ist, zahlt auch keinen Beitrag.

Das ist der Grund, warum der Ratsvorsitzende diesen Beitrag am Anfang des Berufslebens möglichst klein halten will, und damit auch die Austrittsneigung. Zumal gerade die 25- bis 35-Jährigen für Wohnungseinrichtung oder auch Familiengründung jeden Cent gebrauchen können.

Trotzdem greift die Überlegung in dreifacher Hinsicht zu kurz. Erstens: Ein Produkt, das ich nicht verwenden kann, kaufe ich nicht. Als Nichtschwimmer werde ich nicht in den Schwimmclub eintreten, egal wie hoch der Rabatt ist. Mag sein, dass mit so einer Maßnahme einige Hundert oder auch Tausende vom sofortigen Austritt aus der Kirche abgehalten werden. Aber werden sie damit auch für die Kirche gewonnen? Die mangelnde Akzeptanz dafür, eine Mitgliedsbeitrag zu zahlen, reicht tiefer, ihr Grund liegt in einer Entfremdung von Kirche und Glauben. Ein Kirchenaustritt steht meist am Ende eines langen Entfremdungsprozesse, der oftmals bereits über Generationen angedauert hat.

Zweitens: Die Rabattierung des Mitgliedsbeitrages für bestimmte Gruppen konterkariert das Prinzip des heutigen Mitgliedsbeitrages, der an die Lohn- oder Einkommenssteuer gekoppelt ist: Neun Prozent davon gehen zusätzlich an die Kirche. Indem der Kirchenmitgliedsbeitrag analog zur Einkommensteuer steigt und fällt, ist er an die wirtschaftliche Lage der Mitglieder angepasst. Wer viel verdient, zahlt auch viel Kirchensteuer, wer kein Einkommen hat, muss auch der Kirche nichts bezahlen. Das ist sozial gerecht. Außerdem ist die Kirchensteuer als Mitgliedsbeitrag für eine gemeinnützige Organisation wiederum steuerlich absetzbar, was bedeutet, dass sich die tatsächliche Belastung noch um 20 bis 48 Prozent verringert. Das ist ein kompliziertes System, aber im Ergebnis sozial ausgewogen.

Übrigens erhebt der Staat die Mitgliedsbeiträge für die Kirchen keineswegs umsonst, sondern lässt sich dafür bezahlen. Das Land Hessen zum Beispiel behält drei Prozent der erhobenen Beiträge als Verwaltungspauschale ein. Dass die Mitgliedsbeiträge der Kirchen vom Finanzamt erhoben werden ist ein historisch entstandenes Arrangement, das aber für beide Seiten Vorteile hat.

Drittens schließlich erhebt nicht die EKD, sondern die einzelnen Landeskirchen die Steuern. Bevor der Vorschlag des Ratsvorsitzenden Wirklichkeit werden kann, müssten sich also alle 20 Landeskirchen auf ein solches Vorgehen einigen. Und es ist auch eine gute Tradition, dass man sich hier ebenfalls mit der katholischen Kirche abstimmt. Das wird kein einfacher Prozess.

Klar ist: Die christlichen Kirchen in Deutschland stehen vor gewaltigen – auch finanziellen – Herausforderungen, die aktuell durch den coronabedingten Einbruch bei der Kirchensteuer noch einmal verstärkt werden. Das kirchliche Angebot und die kirchlichen Strukturen werden sich grundlegend verändern. Die Diskussion darüber wird jetzt auch öffentlich geführt.

Der Sponsor wechselt, die Kapelle bleibt

von Kurt-Helmuth Eimuth 1. Juli 2020

Kirche im Stadion, Kirche in der Arena, Kirche im Park? Nicht nur das Stadion im Frankfurter Stadtwald wechselt seinen Namen, sondern auch die Kapelle darin.

Aus dem Waldstadion wurde die Commerzbank-Arena wurde der Deutsche Bank Park. | Foto: Jeanne Menjoulet (CC BY-ND 2.0)
Aus dem Waldstadion wurde die Commerzbank-Arena wurde der Deutsche Bank Park. | Foto: Jeanne Menjoulet (CC BY-ND 2.0)

Die Kirche will gerne überall mitspielen. Vor allem dort, wo wirklich gespielt wird. Da ist sie mittendrin und nicht nur dabei. Seit 2007 gibt es deshalb auch eine kleine ökumenische Kapelle im…

Ja, an dieser Stelle wird es schwierig. Denn wo? Im Waldstadion, in der Commerzbank-Arena oder, so ab heute der offizielle Name, im Deutsche Bank Park? Auf der Facebook-Seite wurde schon gestern aus der „Kirche in der Commerzbank-Arena“ die „Kirche im Deutsche Bank Park“. Das Icon spricht allerdings noch von der Kirche in der Arena, und die Internetadresse lautet @KircheImStadion. Alles nicht so einfach.

Aber ehrlich: „Kirche im Deutsche Bank Park“? Gut, Eintracht Frankfurt kann den zweistelligen Millionenbetrag für den Verkauf der Namensrechte gebrauchen. Aber muss die Kirche da mitziehen? Selbst Propst Oliver Albrecht reagierte spontan und schrieb auf Facebook, dass man doch „mutig“ den Namen in „Kapelle im Waldstadion“ hätte ändern können. Fraglich ist aber, ob die Verträge das zulassen. Die Nutzungsrechte schreiben wohl vor, dass der Namenssponsor auch von der Kirche genannt wird.

Die Sponsoren haben es aber auch schwer. Ich jedenfalls bin die letzten 15 Jahre immer ins „Waldstadion“ gegangen und habe auch sonst niemanden getroffen, der in die Commerzbank-Arena fuhr. Im Herzen eines jeden Frankfurters und jeder Frankfurterin bleibt das Stadion im Stadtwald eben doch es „unser Waldstadion“, ganz egal was sie in meterhohen Lettern oben auf das Dach schreiben.

Ein halbes Jahrhundert Gethsemanekirche im Nordend

von Kurt-Helmuth Eimuth 30. Juni 2020

Vor fünfzig Jahren wurde die Gethsemanekirche im Frankfurter Nordend eingeweiht. Das Konzept mit einem Kirchenraum im ersten Stock und Gemeinderäumen und Büros im Erdgeschoss bewährt sich bis heute. Auch den Glockenturm gibt es noch, aber das war haarscharf: Mitte der 1990er Jahre wäre er beinahe abgerissen worden.

Außergewöhnlich: Der acht Meter hohe Kirchraum im ersten Stock hat fast keine Fenster. | Foto: Rui Camilo
Außergewöhnlich: Der acht Meter hohe Kirchraum im ersten Stock hat fast keine Fenster. | Foto: Rui Camilo

Angesichts aktueller Zahlen zum Mitgliederrückgang der Kirchen mag manchem die Zeit von vor fünfzig Jahren geradezu rosig erscheinen. Doch schon 1970, als die Gethsemanekirche an der Eckenheimer Landstraße im Frankfurter Nordend eingeweiht wurde, mischten sich skeptische Töne in die Feierlichkeiten: „Wie könnte es uns gleichgültig sein, wenn die Öffentlichkeit die Bautätigkeit unserer Gemeinde (und der ganzen Kirche!) zunehmend kritisch beurteilt?“ fragte der damalige Pfarrer Hermann Strohmeier. Und der Hochschullehrer Dieter Stoodt spitzte die Frage in seinem Grußwort zur Einweihung noch einmal zu: „Der Gottesdienst hat zweifellos im Ganzen gesehen an Bedeutung verloren. Viele zweifeln nicht daran, dass er weiterhin an Bedeutung verlieren wird.“

Trotzdem freute sich die junge Gemeinde natürlich über ihre Kirche. Die Gemeinde war 1964 als Ausgründung aus der Petersgemeinde entstanden und hatte damals 6000 Mitglieder. Heute sind es noch 1400. Trotzdem beantwortet auch der heutige Pfarrer Thorsten Peters die Frage nach der Notwendigkeit eines Kirchenbaus ähnlich wie die Vorgängergeneration: „Es braucht einen liturgischen Raum. Ich bejahe, dass es diese Kirche gibt“. Auch wenn heute nur noch drei Prozent der Kirchenmitglieder Gottesdienste besuchen – für Peters sind drei Prozent eine Größe, mit der man gut singen, beten und Abendmahl feiern kann.

Die nach Entwürfen des Architekten Hans-Georg Heimel gebaute Kirche hat so manche Besonderheit. Der Kirchraum liegt im ersten Stock und ist barrierefrei mit einem Aufzug erreichbar. Im Erdgeschoss ist ein Gemeinderaum mit Küche sowie Gemeinde- und Pfarrbüro eingerichtet. Bei einem Umbau im Jahr 2013 wurden diese Räumlichkeiten modernisiert und erweitert. Dort, im Erdgeschoss, findet – wenn nicht gerade Coronakrise ist – auch jeden Sonntag ein Kirchencafé statt. Nach der Abgabe des alten Gemeindehauses wird heute auch die Kirche nicht mehr nur für Gottesdienste, sondern immer stärker auch für Gemeindeveranstaltungen aller Art genutzt.

Der innere Grundriss des Kirchenraums ist fast quadratisch und verfügt über eine Empore. Der Kirchenraum wird von nahezu geschlossenen Wandflächen bestimmt. Tageslicht tritt im Altarbereich indirekt aus der Dachzone ein. Auch Altar, Altarkreuz, Altarleuchter und die Deckenlampen als moderne Kronleuchter wurden nach den Entwürfen von Hans-Georg Heimel gestaltet. Lediglich drei kleine Fenster unter der Empore, seitlich der Kanzel und im Turmbereich mit farbigen Glascollagen setzen noch einen Akzent. Dominiert wird der acht Meter hohe Kirchenraum von den Klinkerwänden und einer stilisierten Dornenkrone über dem Altar. Die Eisenplastik hat Hermann Tomada geschaffen.

Der Turm der Gethsemanekirche ist im Nordend weithin sichtbar. | Foto: Rui Camilo
Der Turm der Gethsemanekirche ist im Nordend weithin sichtbar. | Foto: Rui Camilo

Der gut sichtbare Glockenturm an der Eckenheimer Landstraße verkörpert das, was sich Pfarrer Peters wünscht: Ein Kirchengebäude als „öffentliches Zeichen“. Mitte der 1990er Jahre gab es Überlegungen, den sanierungsbedürftigen Kirchturm abzureißen, doch die Gethsemanegemeinde kämpfte mit dem damaligen Pfarrer Martin Zentgraf erfolgreich für dessen Erhalt und hat dann auch die Sanierung mitfinanziert.

Heute steht die Gemeinde wieder vor einem großen Bauprojekt: Das benachbarte alte Gemeindehaus wird abgerissen, an der Stelle wird ein Investor Wohngebäude errichten sowie neue Räume für den Kindergarten schaffen, der erweitert wird.

Trotz aller vor einem halben Jahrhundert schon bestehenden Skepsis kann Pfarrer Peters garantieren: „Die Kirche ist bis heute in Gebrauch.“ Künftig will man durch eine verstärkte pfarramtliche Zusammenarbeit mit den umliegenden Gemeinden den zurückgehenden Mitgliederzahlen entgegenwirken. An Gemeindefusionen ist allerdings nicht gedacht. Denn die Identität der Gemeinde soll erhalten bleiben, sagt Peters.

Kirchlicher Mitgliederschwund: Es gibt kein Patentrezept dagegen

von Kurt-Helmuth Eimuth 30. Juni 2020

Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Allein 540.000 Mitglieder haben die beiden großen christlichen Konfessionen in Deutschland im vorigen Jahr verloren. So richtig viel können die Kirchen nicht gegen diesen Trend tun. Denn Glaube wird in allererster Linie in den Familien weitergegeben. Oder eben auch nicht.

Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins.  |  Foto: Tamara Jung
Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins. | Foto: Tamara Jung

Die Bekanntgabe ihrer Mitgliederzahlen ist für die evangelische und katholische Kirche alljährlich ein unangenehmer Termin: Seit Jahren ist der Trend nach unten ungebrochen. Der Mitgliederschwund durch Austritte schmerzt. Mehr als 540.000 Menschen haben die beiden großen Konfessionen im vergangenen Jahr verlassen. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl von Nürnberg oder Dresden. Manch Kommentator spricht von einem „Massenexodus“.

Was tun? Die Evangelische Kirche Hessen und Nassau (EKHN) betont zunächst einmal die positiven Seiten der Statistik: Die Konfirmationen blieben der Eckpfeiler der Kirche für junge Menschen, denn immerhin ließen sich 87 Prozent eines evangelischen Jahrgangs in der Landeskirche konfirmieren. Auch die Zahl der Taufen bliebe stabil. Die Zahl derjenigen, die in die Kirche eingetreten sind, hat leicht zugenommen, es waren voriges Jahr 2812 Personen. Demgegenüber sind allerdings 21.071 ausgetreten. Dazu kommen noch Sterbefälle und Zu- und Wegzüge. Im Saldo ist die Zahl der Mitglieder im Kirchengebiet um 2,2 Prozent gesunken. Damit wird der langfristige bundesweite Trend bestätigt. Bis 2060, so die Prognose, wird sich die Zahl der Mitglieder aller Wahrscheinlichkeit nach halbiert haben.

Nicht alles von dieser Entwicklung liegt speziell an den christlichen Kirchen. Manches ist einfach ein gesellschaftlicher Trend. Auch andere große Institutionen wie die Parteien und die Gewerkschaften haben ihre Bindungsfähigkeit verloren. Anderes sind hausgemachte Fehler, wie zum Beispiel Versäumnisse bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen.

Was aber wirklich an den Kern geht, ist etwas anderes: Schaut man sich die Ergebnisse der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) aus dem Jahr 2018 an, so wird klar, dass der Glaube an Gott bei vielen Menschen schwindet. Nur noch 44 Prozent der Befragten gaben an, im weitesten Sinne an Gott zu glauben. Zwar kommen noch einmal 20,8 Prozent hinzu, die die Antwort gaben: „Ich glaube nicht an einen leibhaftigen Gott, aber ich glaube, dass es irgendeine höhere geistige Macht gibt.“ Es sind also noch fast zwei Drittel der Menschen in Deutschland, die eine überirdische Macht für möglich halten. Allerdings ist auch hier ist die Tendenz seit Jahren fallend.

ALLBUS bestätigt in Zahlen, was schon vielfach erhoben wurde und sich auch im Alltag leicht beobachten lässt: Der Glaube – und auch das Wissen vom Glauben – schwindet stetig. Aber warum?

Nicht, wie man vielleicht meinen könnte, weil die Pfarrerinnen und Religionslehrer schlechte Arbeit machen. Denn wesentlich für die Glaubensvermittlung sind nicht die Kirchen und ihr Personal. Die Grundlage für Gottvertrauen wird in jungen Jahren in den Familien gelegt. Hier werden religiöse Traditionen weitergegeben, gebetet und aus der Kinderbibel vorgelesen – oder eben auch nicht. Und es sind ganz konkret meist die Großmütter, die kleinen Kindern im Herzen etwas vom Glauben weitergeben.

Fehlende religiöse Sozialisation im Kindesalter, in den Familien, können Kirchengemeinden nicht kompensieren. Pfarrer, Gemeindepädagoginnen, Bibelkurse und gute kirchliche Angebote können Eltern und Großeltern darin unterstützen. Auch christliche Kindertagesstätten können in Familien hineinwirken. Aber das alles kann die Familie in der religiösen Erziehung nicht ersetzen.

Die moderne Gesellschaft mit ihren Leistungsanforderungen, ihrer Individualisierung und auch der Institutionalisierung von Erziehung verstärkt den Trend von Generation zu Generation. Für die Kirchen bedeutet das, dass ein „Weiter so“ keine Option ist. Schon allein die knapper werdenden Finanzen fordern zum Handeln auf. Und Corona verstärkt den Druck: Allein die EKHN erwartet in diesem Jahr Mindereinnahmen von 50 Millionen Euro.

Zwei Strategien stehen im Raum und werden derzeit diskutiert: Entweder kann sich die Kirche auf ihr „Kerngeschäft“ zurückziehen, sich darauf beschränken, gute Gottesdienste, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen abzuhalten. Doch damit würde sie ihren Anspruch, in die Gesellschaft hineinwirken zu wollen, aufgeben. Sie verzwergt. Das andere Extrem wäre ein weiter gesteigertes Engagement für die Schwächsten, für Verfolgte und Abgehängte, ohne dabei allzu sehr von Bibel und Co. zu sprechen. Dann würde aus der Kirche so etwas wie ein Wohlfahrtsverband mit angeschlossener spiritueller Abteilung. Auch keine Lösung.

Ein Patentrezept gibt es wahrscheinlich nicht. Irgendwo zwischen diesen beiden Optionen wird sich der künftige Weg finden. Immerhin wurde in der Zeit der Corona-Krise deutlich, dass die Organisation Kirche durchaus kreatives Potenzial hat und sich auf Veränderungen einstellen kann.

Der „Nicht ganz Ruheständler“

von Bettina Behler 25. Juni 2020

Der Pädagoge und Publizist Kurt-Helmuth Eimuth verabschiedet sich aus dem hauptamtlichen Dienst, vielfältig engagiert wird er bleiben.

Kurth-Helmuth Eimuth verabschiedet sich fürs Erste digital I Foto: privat
Kurth-Helmuth Eimuth verabschiedet sich fürs Erste digital I Foto: privat

„Sich einzumischen“, ob im Abschiedsvideo, aufgenommen anlässlich des Beginns seines Ruhestandes am 1. Juli, oder im Gespräch: Kurt-Helmuth Eimuth gebraucht diesen Begriff wiederholt, wenn es darum geht zu beschreiben, was ihm in seinen 40 Jahren als Hauptamtlicher des Evangelischen Regionalverbandes wichtig war. Zuletzt leitete der 66-Jährige den Arbeitsbereich Kindertagesstätten des Diakonischen Werks für Frankfurt und Offenbach, die Leitung der Erzieherinnenschule der Diakonissen im Holzhausenviertel war eine Station davor, auch der hiesigen Evangelischen Öffentlichkeitsarbeit stand der waschechte Frankfurter, aufgewachsen im Stadtteil Bockenheim, schon vor. Pädagoge und Publizist – beides prägt sein Schaffen.

Viele kennen Kurt-Helmuth Eimuth auch als „Sekten-Eimuth“, wie er selbstironisch sagt. Der Evangelische Regionalverband beauftragte ihn mit der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen, zusammen mit seinem katholischen Kollegen Lutz Lemhöfer sorgte er in den 1980er und 1990er Jahren in Frankfurt für Aufklärung, wenn es um spirituelle Splittergruppen unterschiedlicher Couleur ging. Und nicht nur in der Region, bundesweit wurde Eimuth als Experte gefragt, wenn Informationen zu sektiererischen Seelenfängern gefragt waren. Eimuths Wissen – auch zu dem Thema – ist enorm. Besorgte Eltern, Institutionen, Medien ließ er an seinen Kenntnissen teilhaben.

In seinem Abschiedsvideo, anzuschauen auf www.eimuth.de, tauchen Beispiele seiner TV-Auftritte auf. Er war bei allen Talk-Sendungen jener Zeit Gast. Ob im Sat.1 Talk oder mit hr-Urgestein Holger Weinert: Eimuth zeigt wechselnde Brillen, mal rundgefasst, mal dick gerahmt, mal Glas und Draht pur, „immer vom selben Optiker“. Sein Ansatz blieb über die Jahre Haltung zeigen – und Engagement für die Menschen. Aufgrund der Corona-Krise fällt der Abschiedsempfang für Eimuth aus, ansonsten wäre von beidem sicher in mancherlei Ansprache die Rede gewesen. So berichtet er per Handyaufnahme von seiner Berufsvita. Zu Hause hat er sie aufgenommen. Das Bücherregal quillt über, CDs reihen sich ein, dazwischen sitzt aus Plüsch die Maus, bekannt aus der nach ihr benannten Sendung. Passt alles.

Eine wilde Lockenpracht trug Kurt-Helmuth Eimuth zu den Zeiten, als er nach dem Zivildienst in der Evangelischen Kirchengemeinde Cantate Domino vom Frankfurter Stadtjugendpfarrer Martin Jürges gewonnen wurde. 1976, schon vor dem Pädagogik-Diplom, das er 1982 ablegte, begann Kurt-Helmuth Eimuth sich vom Nordend aus einzumischen „für Kinderrechte, für Jugendliche“. Eher im Alternativmilieu sei er angesiedelt gewesen, die Rockergangs, auf die er im Umfeld von Cantate Domino stieß, seien nicht so seins gewesen, bekennt er offen.

Kurz bevor er 2001 zur Erzieherinnenschule wechselte, betreute Eimuth noch seitens der Evangelischen Öffentlichkeitsarbeit Frankfurt einen Auftritt beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, der damals ebenfalls am Main stattfand. Gerne erinnert er sich an das Bühnenprogramm an der Hauptwache „und als Highlight eine Oldtimer Straßenbahn, die wir extra haben umspritzen lassen und mit der wir moderierte Stadtrundfahrten zwischen Messegelände und Zoo machten“. Neu zu denken, das hilft ihm bis heute.

Seine Frau Marion, eine Theologin, mit der Eimuth seit 39 Jahren verheiratet ist, erlitt vor fünf Jahren einen Schlaganfall. Beider Bereitschaft die Welt neu zu gestalten, andere Wege einzuschlagen, sich nicht zurückzuziehen, kam ihnen in den vergangenen Jahren zugute. Ihr gemeinsames Ziel: Die „Kommunikation mit dem Evangelium ermöglichen, Glauben erfahrbar zu machen“.

Gemeinsam haben die zwei einige Pläne, wenn der offizielle Dienst jetzt endet. Aber auch die Evangelische Kirche in Frankfurt und Offenbach muss nicht ganz auf Kurt-Helmuth Eimuth verzichten: neben Lehraufträgen in der Erzieherinnenausbildung sowie an der Hochschule und Ehrenämtern, zum Beispiel im Vorstand des Institutes für Medienpädagogik und Kommunikation Hessen e.V., wird er der Mitgliederzeitung der hiesigen Kirche, dem Evangelischen Frankfurt und Offenbach, kurz EFO-Magazin, als Redakteur erhalten bleiben. Und sich gewiss weiter mit Geschichten und Kommentaren einmischen.

Öffentlichkeitsarbeiter, Sektenbeauftragter, Schulleiter und Kita-Manager

Vier Jahrzehnte im kirchlichen Dienst in 16 Minuten schlaglichtartig erzählt mit überraschenden Bildern

Nein, Frau Käßmann!

von Kurt-Helmuth Eimuth 2. Juni 2020

Die bekannte evangelische Theologin Margot Käßmann fordert die Älteren auf zugunsten der Jungen zu verzichten. Schließlich gehörten die über Sechzigjährigen einer Luxusgeneration an. Solidarität muss anders aussehen, meint unser Autor.

Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins.  |  Foto: Tamara Jung
Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins. | Foto: Tamara Jung

Ältere Menschen sollten in der Corona-Pandemie zugunsten der Kinder und der Jüngeren zu Hause bleiben, sagte kürzlich die evangelische Theologin Margot Käßmann mit Blick auf die weiter eingeschränkten Kita- und Schulangebote dem Straßenmagazin „Asphalt“ in Hannover. Im Interview hatte Käßmann geäußert, die Älteren hätten ein gutes Leben gelebt. Deshalb sei es angesichts der Bedrohung durch Covid-19 jetzt an ihnen, zugunsten der Kinder zu verzichten: „Wenn ich wüsste, dass die Kleinen und Jüngeren wieder rauskönnen, wenn wir, die über Sechzigjährigen, die Risikogruppen, zu Hause blieben, wenn das der Deal wäre, dann würde ich mich darauf einlassen“, sagte die streitbare frühere Bischöfin und Ratsvorsitzende der EKD und forderte zugleich eine zügige Öffnung von Kitas und Schulen. Gerade die Älteren seien „mehrheitlich die Luxusgeneration, die es so gut hatte wie keine Generation vorher und keine danach“. Keine Generation sei weniger von den wirtschaftlichen Folgen der Krise betroffen.

Es ist ein feiner Zug von Käßmann, dass sie persönlich verzichten will. Gut so. Dies kann und soll sie. Nur darf sie ihr Verhalten nicht zum moralischen Imperativ erheben. Denn die Gesellschaft braucht Solidarität, nicht Spaltung. Es ist die Stärke der Gemeinschaft, dass die Stärkeren für die Schwachen einstehen. Darauf fußt an vielen Stellen unsere Gesellschaft. Der chronisch Kranke zahlt den gleichen Beitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung wie der durch und durch Gesunde, und selbst das Steuerrecht erhebt den Anspruch, dass starke Schultern mehr tragen können. Vom ethischen Standpunkt aus betrachtet irrt die prominente Theologin.

Aber auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive hilft der Vorschlag, alle über Sechzigjährigen in Quarantäne zu schicken, nicht weiter. Die sozialen Folgen, die eine solche Kontaktsperre in Altenheimen verursachen würde, wären enorm. Mancherorts fühlte sich dies während des Lockdowns eher wie Einzelhaft an. Und bedenkt man die Zahl der Menschen mit Vorerkrankungen, die alle zur Risikogruppe gehören, so müsste man eben nicht nur jene 13 Millionen isolieren, die älter als 70 Jahre sind, sondern auch die chronisch Kranken. Darunter wäre dann auch die 16-jährige Diabetikerin und der 30-jährige Asthmatiker. In Deutschland sind 8 Millionen Menschen an Asthma erkrankt, 7,8 Millionen sind schwerbehindert und 1,7 Millionen leiden an einer Herzkrankheit, die eine klinische Behandlung im vergangenen Jahr erforderte.

Nein, das Choronavirus ist eben nicht nur für alte Menschen gefährlich. Vermutlich gehören 20 bis 30 Millionen zur Risikogruppe, bei 83 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Die können sich unmöglich alle freiwillig isolieren.

Es ist sicher hilfreich, wenn Margot Käßmann auf soziale Kontakte verzichtet. Das ist der beste Schutz für sie selbst und trägt auch zur Eindämmung der Epidemie bei. Aber zur Handlungsmaxime für alle kann ein solches Verhalten auf Dauer nicht gemacht werden. Sondern es gilt, die neue Normalität so auszutaxieren, dass das Virus unter Kontrolle ist. Die Zahl der Neuerkrankungen muss so niedrig bleiben, dass jede Infizierung schnell und konsequent nachverfolgt werden kann.

Leider ist zu befürchten, dass im Wettlauf der Lockerungen die gebotene Vorsicht verloren geht. Schon jetzt ist zu beobachten, dass die Gefahr durch das Virus zunehmend unterschätzt wird, denn es ist ja bisher alles gut gegangen. Dagegen gilt es die Stimme zu erheben. Wir alle, ob Jung oder Alt, müssen vorsichtig bleiben.