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Die Irrationalität der Welt: Schopenhauer im Historischen Museum

von Kurt-Helmuth Eimuth 6. November 2019

Ohne Zweifel ist er ein berühmter Sohn der Stadt Frankfurt: Arthur Schopenhauer wurde jetzt in das biografische Kabinett im Historischen Museum aufgenommen.

Arthur Schopenhauer zu seiner Frankfurter Zeit. Die Fotografie stammt vermutlich aus dem Jahr 1852. | Foto: Wikimedia, gemeinfrei.
Arthur Schopenhauer zu seiner Frankfurter Zeit. Die Fotografie stammt vermutlich aus dem Jahr 1852. | Foto: Wikimedia, gemeinfrei.

Auf sechs Wänden werden im neuen Schopenhauer-Kabinett des Historischen Museums Schlaglichter von Schopenhauers Wirken am Main geworfen. Der Philosoph hatte eine sehr enge Beziehung zu Frankfurt. 1833 wählte er die Stadt aus Angst vor der in Berlin grassierenden Cholera bewusst als Wohnort aus und lobte sie in den höchsten Tönen:

„Gesundes Klima. Schöne Gegend. Abwechslung großer Städte. Besseres Lesezimmer. Das Naturhistorische Museum. Besseres Schauspiel, Oper, Conzerte. Mehr Engländer. Bessere Kaffeehäuser … Die Senckenbergische Bibliothek. Du … hast die Freiheit, dir missliebigen Umhang abzuschneiden und zu meiden. Ein geschickter Zahnarzt. … das Physikalische Kabinett, notierte der damals 45-Jährige.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1860 lebte Schopenhauer in Frankfurt und widmete sich hier der Ergänzung und Verbreitung seines Werks. Sein Grab findet sich auf dem Hauptfriedhof; in der Obermainanlage, nahe dem Rechneigraben, hat man ihm ein Denkmal gesetzt.

Max Horkheimer hat über Schopenhauers Denken gesagt, es sei „unendlich aktuell“. Worin diese Aktualität besteht, erschließt sich dem unbedarften Besucher im Historischen Museum allerdings nicht so ohne weiteres. Man kann aber immerhin den Blick aus seinem Arbeitszimmer nachempfinden, der rekonstruiert wurde.

Der 1788 in Danzig geborene Philosoph stand mit seinem Denken im Widerspruch zu vielen damals vorherrschenden geistigen Strömungen. Waren diese überwiegend vom Glauben an Vernunft und Fortschritt geprägt, entwarf Schopenhauer eine Lehre, die Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik gleichermaßen umfasst. Als einer der ersten Philosophen im deutschsprachigen Raum vertrat er die Überzeugung, dass der Welt ein irrationales Prinzip zugrunde liege. Damit sah er sich jedoch keineswegs im Widerspruch zur Rationalität Immanuel Kants, sondern als dessen Schüler und Vollender.

Mit der Aufnahme in die biografische Bibliothek gibt das Museum nun einen Anstoß sich mit dem Werk Schopenhauers erneut auseinanderzusetzen.

Biografische Bibliothek im Historischen Museum Foto. Kurt-Helmuth Eimuth

Dreißig Jahre Martin-Buber-Stiftungsprofessur: Aktuell wie eh und je

von Kurt-Helmuth Eimuth 1. November 2019

Der jüdische Theologe und Philosoph Martin Buber lehrte von 1924 bis 1933 an der Frankfurter Goethe-Universität. 1989 wurde dort eine nach ihm benannte Professur für Jüdische Religionsphilosophie ins Leben gerufen, gestiftet von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie wird von wechselnden Gelehrten ausgefüllt und soll Studierenden und der interessierten Öffentlichkeit Zugänge zu Geschichte und Gegenwart des Judentums eröffnen.

Martin Buber im Jahr 1963. | Foto: Joop van Bilsen / Anefo - wikimedia.org (cc)
Martin Buber im Jahr 1963. | Foto: Joop van Bilsen / Anefo – wikimedia.org (cc)

„Wenn sie nicht schon da wäre, müsste man sie erfinden“ sagte die gastgebende Dekanin des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität, Catherina Wenzel, bei der akademischen Feier zum 30jährigen Bestehen der Martin-Buber-Stiftungsprofessur. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland sei ihre Errichtung 1989 geradezu „prophetisch“ gewesen.

Der Frankfurter Bürgermeister Uwe Becker erinnerte an den antisemitischen Anschlag auf eine Synagoge und ein Dönerrestaurant in Halle und an die Wahlerfolge der AfD zuletzt in Thüringen. „Wir stehen vor gesellschaftlichen Weichenstellungen“, sagte Becker, der auch Beauftragter der Hessischen Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus ist.

Martin Buber (1878–1965) war ein „dialogischer Denker, Theologe und Erzieher“, so die Urkunde zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1953. Von 1916 bis 1938 lebte er in Heppenheim an der Bergstraße, ab 1924 war er Professor in Frankfurt, trat aber direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland aus Protest zurück. 1938 flüchtete er aus Deutschland und übersiedelte nach Israel, wo er den Rest seines Lebens verbrachte.

In die Frankfurter Periode seines Denkens und Schreibens fallen wesentliche Teile seines Werks, darunter die dialogische Philosophie des „Ich und Du“, seine politischen Überlegungen zum Zionismus und zu Palästina, Forschungen zur Hebräischen Bibel im Kontext der gemeinsam mit Franz Rosenzweig begonnenen „Verdeutschung“ der Schrift, sowie Überlegungen zur Gestaltung jüdischer Bildung. Buber lehrte außerdem ab 1919 am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt.

1989 stiftete die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau die Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität, 2005 übernahm das Land Hessen die Finanzierung. Professor Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden in Deutschland betonte bei der Jubiläumsfeier die Bedeutung der Begegnung mit dem Judentum. In Gesprächen mit Pfarrerinnen und Pfarrern habe er zuweilen den Eindruck gewonnen, dass man offensichtlich christliche Theologie studieren könne „ohne etwas mit dem Judentum anfangen zu können“. Das Thema sei wohl kein integraler Bestandteil des Theologiestudiums.

In seinem Festvortrag hob der derzeitige Inhaber der Professur Christian Wiese das dialogische Prinzip Bubers hervor. Dies habe er auch auf den interreligiösen Dialog angewandt und etwa 1953 geschrieben: „Ein echtes Gespräch ist eins, in dem jeder der Partner den anderen, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz zwar gewiss nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden.“

Inhaberinnen und Inhaber der Martin-Buber-Professur waren bisher Moshe Goshen-Gottstein (Jerusalem), Ithamar Gruenwald (Tel Aviv), Jacob Neusner (Tampa), Stefan Schreiner (Berlin), Susannah Heschel (Cleveland), Abraham Malamat (Jerusalem), Michael Graetz (Jerusalem), Gedaliahu G. Stroumsa (Jerusalem), Fritz A. Rothschild (New York), Eric M. Meyers (Durham), Chana Safrai (Utrecht), Albert H. Friedlander (London), Rita Thalmann (Paris), Konrad Kwiet (Sydney), Tal Ilan (Jerusalem), Michael Zank (Boston), Almut Sh. Bruckstein (Jerusalem), Yossef Schwartz (Jerusalem/Tel Aviv) und Myriam Bienenstock (Tours/Paris).

Wie viel Realität steckt im Kriminalroman?

von Kurt-Helmuth Eimuth 17. Oktober 2019

Kain erschlug Abel – das Verbrechen gehört seit biblischen Zeiten zur menschlichen Gesellschaft dazu. Nicht zufällig ist der Kriminalroman eines der beliebtesten Genres. Doch wie viel Realität steckt da drin?

Von links: Polizeipräsident Gerhard Bereswill, Nele Neuhaus, Matthias Altenburg, Moderator Manfred Köhler (FAZ) | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth
Von links: Polizeipräsident Gerhard Bereswill, Nele Neuhaus, Matthias Altenburg, Moderator Manfred Köhler (FAZ) | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Kain erschlug Abel. Ein Brudermord. Im Zorn. Ein Mord, der am Anfang eines guten Krimis stehen könnte?

Krimi-Autor Matthias Altenburg orientiert sich bei seinen Büchern gerne an realen Geschehnissen. „Ich finde lieber was, als dass ich was erfinde,“ war seine zentrale Aussage beim Bürgergespräch der FAZ in der Oper. Doch er betont, dass er keine Sachbücher schreibe. „Ich brauche die Realität als Sprungbrett für meine Phantasie“, so der Erfinder des Ermittlers Marthaler. Bücher von ehemaligen Kriminalbeamten seien hingegen immer langweilig.

Nele Neuhaus arbeitet anders. Sie beschreibt keine realen Kriminalfälle. „Ich liebe es, meine Phantasie spielen zu lassen,“ sagt die Autorin der Taunus-Krimis. Sie könne die Zeit, in der das Geschehen spiele, neu aufleben lassen. Neuhaus: „Das macht mir großen Spaß. Nur der Krimi würde für mich langweilig werden.“ Zum Genre kam sie schon sehr früh. Die Kinderbuchreihe „5 Freunde“ hat sie geliebt. Und am Anfang eines jeden Krimis stehe ja nun mal ein Rätsel, das es zu lösen gelte: Wer war es?

Der Frankfurter Polizeipräsident Gerhard Bereswill hat es in der Realität hat mit Mord und Totschlag zu tun. Zum Glück weit weniger als man meint. 300 bis 400 Morde werden in Deutschland im Jahr verübt, fast alle werden aufgeklärt. Auch im Fernsehen kommt kaum ein Mörder davon. Nur werden dort jährlich rund 12.000 Menschen ermordet – Wiederholungen nicht mitgezählt. Allerdings schaue er keine Krimis mehr, und auch in gedruckter Form mag er sie nicht. Kleine handwerkliche Fehler, die er entdecke, hielten ihn dann vom Erzählstrang ab.

Ehrlichkeit tut Not: Fürs Klima müssen wir den Gürtel enger schnallen

von Kurt-Helmuth Eimuth 17. September 2019

Inzwischen rufen, so scheint es, alle relevanten Gruppen zum Klimastreik auf, und das ist auch gut so. Aber in der Diskussion um notwendige Maßnahmen braucht es auch Mut zur Ehrlichkeit: Ohne auch persönliche Einschränkungen wird es nicht gehen.

Demonstrieren für den Klimaschutz  |
Demonstrieren für den Klimaschutz | Bild: http://www.unsplash.com

Eigentlich, so dachte ich, ist mein Leben achtsam, was Natur und Klima angeht. Der Zweitwagen ist abgeschafft, in den Urlaub fliegen wir seit Jahren nicht mehr, und wir sind in eine deutlich kleinere Wohnung umgezogen. Doch beim Klimatest auf der Seite Fussabdruck.de musste ich feststellen, dass mein Lebensstil mehr als drei Erden verbraucht.

Vielen von uns ist noch gar nicht klar, wie groß die Dimension dessen ist, was passieren muss, um eine Klimakatastrophe abzuwenden. Trotz der Mahnungen von Experten ist seit vier Jahrzehnten politisch fast nichts geschehen. Dass die Jugend radikale Forderungen stellt, ist also richtig. Entweder wir nehmen die Klimakatastrophe hin, oder wir stemmen uns mit Macht dagegen.

Für Letzteres bedarf es klarer, radikaler Änderungen, die uns allen Verhaltensänderungen abverlangen. Es ist falsch zu glauben, wir könnten den Klimawandel technisch beherrschen, etwa mit der Einführung von E-Autos. Ohne spürbare Einschränkungen des privaten Konsums wird es nicht gehen. Allerdings würde wohl keine Partei die Einführung einer Klimasteuer von 25 Prozent auf Kleidung, Autos, Fleisch und Käse überleben. Trotzdem wäre genau das eigentlich nötig. Zur sozialen Abfederung müssten die Sozialleistungen entsprechend angehoben werden. Und warum nicht Inlandsflüge unter 500 Kilometer verbieten? Gerade angesichts der Prognose, dass sich der Flugverkehr in Europa in den kommenden zwanzig Jahren noch einmal verdoppeln soll?

Natürlich hilft es dem Klima wenig, wenn allein Deutschland sich radikal ändert. Angesichts der Tatsache, dass in China gerade 176 Flughäfen im Bau sind, erscheint die Lage trostlos. Aber wir haben eben zunächst einmal die Verantwortung für unser eigenes Tun. Eine Verantwortung gegenüber den nachkommenden Generationen und gegenüber Gottes Schöpfung.

Wir können die Welt nicht im Alleingang ändern, aber wir können für Veränderung eintreten. Und dafür ist es wichtig, bei sich selbst anzufangen. Dass gleichzeitig auch global gehandelt werden muss, widerspricht dem nicht. Ich jedenfalls hoffe, dass Greta und Co. in ihrem Engagement nicht nachlassen.

Ein Buch über die Skulptur der Steinbücher im Martin-Luther-Park

von Kurt-Helmuth Eimuth 16. September 2019

Vor zwei Jahren wurde im Offenbacher Martin-Luther-Park die Steinskulptur „Bücher der Weisheit“ der Künstlerin Anna-Maria Kubach-Wilmsen eingeweiht, jetzt gibt es dazu ein Buch. Unter Beteiligung jüdischer, christlicher und muslimischer Gemeinschaften wurde es am Sonntag der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die Steinbücher im Martin-Luther-Park würdigen die Weisheit der Religionen. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth
Die Steinbücher im Martin-Luther-Park würdigen die Weisheit der Religionen. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Die Buchpräsentation war direkt vor Ort: Unweit der im Buch beschriebenen Steinskulptur versammelten sich jüdische, christliche und muslimische Menschen bei der Vorstellung des Buches „Heilige Schriften – Quellen der Weisheit“. Schließlich symbolisieren die Steinbücher genau diese drei Weltreligionen.

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Färber gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich in Offenbach noch in diesem Jahr ein Rat der Religionen gründen möge. „Er sollte sich genau hier konstituieren“, empfahl Färber. Die Stadtgesellschaft solle dankbar sein, dass mit diesem Kunstwerk die Frage aufgeworfen werde, „wie wir die Botschaften dieser Bücher umsetzen können.“ Für Achim Knecht, den evangelischen Stadtdekan, ist die Vielfalt der Religionen in Offenbach eine Bereicherung: „Es ist gut, dass wir so unterschiedlich sind. Wir ergänzen uns gegenseitig.“

Im Vorwort des fünfzigseitigen, reich bebilderten Buches stellen der Musiker Jürgen Blume und Pfarrerin Ulrike Schweiger fest, dass sich in Offenbach ein weitgehend friedliches Miteinander von 160 Nationen entwickele. Dies verlange aber Verständnis für die anderen. „Einen eigenen Standpunkt haben, sich bemühen, die Gedanken der anderen zu verstehen, die Vielfalt der Kulturen und Religionen zu respektieren, darüber ins Gespräch zu kommen, ohne diese übernehmen zu müssen – das bedeutet Toleranz und ist eine Bereicherung für uns alle.“

Im Buch wird sowohl die Ideenfindung als auch die Arbeit der Künstlerin beschrieben. Zum Beispiel erfährt man, dass das Material eines jeden Stein-Buches von einem anderen Kontinent kommt. Reinhold Bernhardt, Theologieprofessor in Basel, vergleicht in seinem Essay den Umgang mit den heiligen Schriften im Islam, Judentum und Christentum.

Zur Entstehungsgeschichte der Skulptur gehört auch, dass an gleicher Stelle vorher eine aufgeschlagene Bronze-Bibel stand, als Erinnerung an den Reformator Martin Luther, nach dem der Park benannt ist und der Bibel ins Deutsche übersetzt hat. Doch zuerst stahlen Diebe das Werk, und auch eine zweite Anfertigung wurde von Materialdieben entwendet.

Deshalb entstand im evangelischen Dekanat und im Förderkreis „PraeLudium“ die Idee, an dieser Stelle die drei in Offenbach vertretenen Buchreligionen zu würdigen. Die Ausfertigung in Stein, wird hoffentlich einen weiteren Diebstahl verhindern.

Das Buch ist während der Öffnungszeiten in der Stadtkirche in Offenbach (Herrnstraße 44) für 5 Euro erhältlich.

Von Empathie durchdrungenes, kritisches Islambuch

von Kurt-Helmuth Eimuth 10. September 2019

Monika und Udo Tworuschka ist mit ihrem Buch „Der Islam – Feind oder Freund?“ ein Werk zur Versachlichung und Relativierung der Debatte gelungen. Ein gut lesbares Buch, das die Argumente an vielen Stellen versachlicht.

Monika und Udo Tworuschka: Der Islam – Feind oder Freund? - 38 Thesen gegen eine Hysterie, Kreuz-Verlag, 142 Seiten, 15 Euro.
Monika und Udo Tworuschka: Der Islam – Feind oder Freund? – 38 Thesen gegen eine Hysterie, Kreuz-Verlag, 142 Seiten, 15 Euro.

„Noch ein Buch über den Islam“ war mein erster Impuls. Doch Autorin und Autor, seit Jahrzehnten bekannt für ihre religionswissenschaftlichen Arbeiten, machen neugierig. Keine Frage, die beiden haben einen Standpunkt. Gleich im ersten Satz verdeutlichen sie, dass sie kein islamkritisches Buch vorlegen, sondern ein kritisches Islambuch. Was keineswegs dasselbe ist. Sie wollen nicht „die Fratze“ des Islam betrachten, sondern mit Empathie einer Religion begegnen.

Zunächst gehen sie auf die gegenwärtige Wahrnehmung des Islam ein. An vielen Beispielen zeigen die Tworuschkas auf, dass die Diskussion Züge einer Verschwörungstheorie hat. So gehören in Deutschland nur knapp sechs Prozent der Bevölkerung dem Islam an. Von einer Übernahme der Gesellschaft ist man also schon zahlenmäßig bei immer noch 48 Millionen Christinnen und Christen weit entfernt. Auch die Geburtenzahl bei Muslimen befindet sich im Sinkflug. Hatten aus der Türkei nach Deutschland migrierte Familien 1970 noch 4,4 Kinder im Durchschnitt, sind es bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation noch 1,56 Kinder. „Migranten passen sich erfahrungsgemäß in vielen Lebensbereichen an ihr Umfeld an.“

Auch lässt sich nicht belegen, dass der Islam per se gewaltbereit sei. Selbst der Teil des Islam, der unter dem Begriff Islamismus zusammengefasst wird, muss unterteilt werden in die Strömungen der Salafisten, Islamisten und Djihadisten. Doch gleich welche Begründungen sich gewaltbereite Muslime zusammenbasteln, welche Verse sie aus dem Koran herauspicken, es kann nicht gesagt werden, „dass der Koran zur Gewalt aufrufe und die Lizenz zum Töten“ liefere. Das Autorenehepaar erinnert im Gegenteil an zahlreiche Gewaltvorstellungen in der Bibel.

Auch in Bezug auf die Stellung der Frauen im Islam war dessen Religionsstifter fortschrittlicher als viele meinen. So habe Mohammed verglichen mit dem vorislamischen Arabertum richtungsweisende Besserstellungen für Frauen eingeführt. Zum Beispiel wurde das übliche Aussetzen weiblicher Neugeborener untersagt. Der Koran fordert an keiner Stelle, dass sich Frauen verschleiern müssten. Allerdings hätten sich die vom Koran bekämpften Gesellschaftsstrukturen im Laufe der Jahrhunderte wieder verfestigt. So gehe es bei der Genitalverstümmelung eher um kulturelle Faktoren und um eine patriarchale Familienstruktur als um eine religiöse Lehre. „Der Koran erwähnt keine weibliche Genitalverstümmelung, geschweige denn, dass er sie gutheißt.“ Auch sexuelle Gewalt gegenüber Frauen rechtfertigen die islamischen Quellen nicht.

Bei aller Empathie verschließt das Buch aber nicht die Augen vor problematischen Tendenzen: „Blauäugig wäre es dagegen, Scharia-Auslegungen nicht zu beachten, die einen gewaltsamen Djihad gegen ‚Ungläubige‘ legitimieren, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung in Frage stellen, antijüdische Einstellungen und Handlungen rechtfertigen.“ Ferner sei die Sozialisation muslimischer Kinder offenbar stärker an Macht und Gehorsam ausgerichtet und tue sich schwer mit Freiheit, Pluralismus und Ambiguitätstoleranz. Dies ergebe sich aus erfahrener Ablehnung. Der Einzelnen fliehe dann nach Erich Fromm ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische.

Die Tworuschkas plädieren also für ein offenes, von Empathie geprägtes Miteinander. Wie dies aussehen kann, fassen sie am Beispiel in drei Sätzen zusammen: „Wir wünschen uns, dass muslimische Frauen die islamische Kleiderordnung nur aus freien Stücken befolgen. Die Realität sieht sicher oft anders aus. Aber Freiheit bedeutet, eine islamische Frau darin zu bestärken, ihrer Tradition folgen zu dürfen – sie aber auch darin zu unterstützen, wenn sie sich dagegen wehren will.“

Ein gut lesbares Buch über den Islam und über die deutsche Diskussion. Es versachlicht an vielen Stellen die Argumente, reiht sie religionswissenschaftlich und politisch ein und ist somit im besten Sinne tatsächlich ein von Empathie durchdrungenes kritisches Islambuch.

Konstantin Wecker bekam in der Paulskirche die Albert-Schweitzer-Medaille

von Kurt-Helmuth Eimuth 4. September 2019

Der Poet, Sänger und Musiker Konstantin Wecker ist der erste Preisträger der Albert-Schweitzer-Medaille, die an den Arzt, Philosophen und Theologen Albert Schweitzer (1875-1965) erinnert. Sie wurde zum 50. Jubiläum des Frankfurter Albert-Schweitzer-Zentrums gestiftet.

Marion Eimuth mit Konstatin Wecker Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Es war der Höhepunkt des diesjährigen Jubiläumsjahres zum 50-jährigen Bestehen des Albert-Schweitzer-Zentrums in Frankfurt: Mit einem Festakt in der Paulskirche wurde gestern am 3. September erstmals die Albert-Schweitzer-Medaille verliehen. Preisträger war der Sänger und Musiker Konstantin Wecker, der für sein politisches Engagement bekannt ist.

In seiner Laudatio bezeichnete der Neurobiologe Gerald Hüther Wecker als „Suchenden, der die Herzen der Menschen öffnet“. Wecker sei ebenso wie Albert Schweitzer jemand, für den Poesie und Widerstand, Kunst und Wissenschaft zusammen gehören, betonte der Neurobiologe, der schon einige gemeinsame Veranstaltungen mit Wecker gestaltet hat.

Die Theologin Margot Käßmann wandte sich in ihrem Festvortrag gegen eine Sprache, die „inhumane Gedanken schleichend billigt“. Wer sich der Philosophie Albert Schweitzers mit ihrer zentralen Aussage der „Ehrfurcht vor dem Leben“ verbunden fühle, müsse solchen Tendenzen widersprechen. Die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und ehemalige Reformationsbotschafterin führte zahlreiche Beispiele für eine menschenverachtende Sprache an, zum Beispiel den Ausdruck „Kopftuchmädchen“. Es sei zwar richtig, dass die Burka nicht nach Deutschland gehöre, „aber Springer-Stiefel und Glatzköpfe auch nicht“. Deutschland könne stolz auf seine Integrationsleistung sein, betonte Käßmann, und verwies auf die Leistung in den Nachkriegsjahren. Heute brauche man eine postmigrantische Definition von Deutschland. Schließlich sei das ganze christliche Abendland das Ergebnis von Migration. Für Albert Schweitzer sei die atomare Bedrohung seine Hauptsorge gewesen: „Das verbindet ihn mit Konstantin Wecker und mir“, sagte Käßmann. Sicher hätte Albert Schweitzer an dem jugendlichen Protest der Fridays for Future-Bewegung seine Freude gehabt. Auch das könne man von Schweitzer lernen: „Nicht nachlassen. Er hat für seine Sache alles gegeben.“

Albert Schweitzer hatte für Sport zwar nichts übrig und konnte mit Fußball nichts anfangen. Trotzdem sprach zum Jubiläum und zur Preisverleihung auch der Präsident von Eintracht Frankfurt, Peter Fischer, wohl auch, weil der Club und sein Präsident für eine klare Haltung stehen. Sport, so Fischer, könne Werte schaffen und vermitteln. Sport müsse politisch sein. Der Sport stehe dafür, dass alle Menschen gleich sind. In der Kabine der Eintracht säßen Spieler aus 19 Nationen. Die 80.000 Mitglieder des Clubs kämen aus 100 Nationen. Fischer kritisierte auch die antisemitischen Rufe gegen den Schiedsrichter beim Spiel gegen Straßburg vor einigen Tagen.

Der Frankfurter evangelische Stadtdekan Achim Knecht würdigte die Bedeutung des Albert-Schweitzer-Zentrums mit Archiv, das heute in der Wolfgangstraße im Nordend untergebracht ist. „Die Evangelische Kirche in dieser Stadt sieht sich auch heute noch dem Erbe des bedeutenden Humanisten Albert Schweitzer verpflichtet“, hob Knecht hervor und wies auf die Aktualität der Ethik Albert Schweitzers hin: „Die Rettung von Menschen, die auf ihrer Flucht und Migration nach Europa auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, ist heute ein zeitgemäßer Ausdruck einer tatkräftigen Ehrfurcht vor dem Leben. Ich bin überzeugt, auch Albert Schweitzer hätte die Seenotrettung von Geflüchteten und Migranten aus dem Mittelmeer unterstützt!“

Oberbürgermeister Peter Feldmann erinnerte in seiner Ansprache an die besondere Verbindung Albert Schweitzers mit Frankfurt. Schweitzer hat 1928 den Goethepreis der Stadt erhalten, 1951 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, und 1959 wurde er zum Ehrenbürger Frankfurts ernannt. „Albert Schweitzer war gerne hier. Es hat ihn immer wieder in diese Stadt gezogen“, sagte Feldmann.

Der Musiker und Sänger Konstantin Wecker (links) verbindet seit vielen Jahren Kunst und Politik. Dafür wurde er in der Paulskirche mit der Albert-Schweitzer-Medaille ausgezeichnet. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth
Der Musiker und Sänger Konstantin Wecker (links) verbindet seit vielen Jahren Kunst und Politik. Dafür wurde er in der Paulskirche mit der Albert-Schweitzer-Medaille ausgezeichnet. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

„Es braucht viele Sprachrohre, damit pflegende Angehörige Unterstützung bekommen“

Hessenschau-Moderatorin Constanze Angermann fordert mehr Unterstützung für pflegende Angehörige. |Foto: hr
Frau Angermann, was macht man als Pflegebotschafterin der Diakonie? Erst mal redet man über Pflege und bringt damit das Thema, das sich zu einem ganz großen Teil hinter verschlossenen Türen abspielt, in die Öffentlichkeit. Der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen wird zuhause von Angehörigen, von Frauen und Töchtern gepflegt. Die leisten Unglaubliches und sind oft allein mit dieser schwierigen Arbeit. Sie haben gar nicht die Zeit, jedem noch zu erzählen, was sie da leisten. Da ich mich aber mit pflegenden Angehörigen unterhalte und sie mir sagen, was sie brauchen, bin ich gerne ihr Sprachrohr. Es braucht allerdings viele Sprachrohre, damit erkannt wird, was die Pflegenden an Unterstützung brauchen. Und damit ihnen ihre Arbeit nicht noch durch Bürokratie schwerer gemacht wird. Wie kamen Sie zu dieser Aufgabe? Ich kümmere mich selbst um eine alte Frau und Freundin, die noch vieles selbst kann, aber das ändert sich ständig. Und so wachse ich gerade in eine Pflege hinein. Ich habe großen Respekt davor und werde mir so viel Hilfe wie möglich holen, einfach, damit man auch mit der Situation nicht allein ist. Dann hat die Diakonie vor einiger Zeit starke Frauen in der Pflege vorgestellt – dafür war es höchste Zeit. Denn in der Pflege wird Zukunftsweisendes geleistet. Was davon hat Modellcharakter? Das wird für uns alle immer wichtiger. Denn wir haben immer mehr zu Pflegende, aber immer weniger, die pflegen. Wie also machen wir das, wie organisieren wir das? Was sollte Ihrer Meinung nach zur Verbesserung der Pflege getan werden? Erst mal müssen wir anerkennen, was die pflegenden Angehörigen machen. Die machen das in der Regel nämlich gut und können die Signale des zu Pflegenden hören und einordnen. Sie haben einen für beide Seiten passenden Modus gefunden. Also: die sollte man unterstützen und nicht noch gängeln. Man soll ihnen Hilfe anbieten, die sie auch annehmen können. Was hat denn ein Mann vom Urlaubsangebot seiner Krankenkasse, wenn er in der Zeit keine Unterbringung für seine zu pflegende Frau hat? Es wäre sicher gut, die Maßnahmen in der Pflege zu bündeln, einen Ansprechpartner zu haben und nicht noch durch bürokratischen Wust, durch den sich der Pflegende erst mal kämpfen muss, die Situation weiter zu verschärfen. Außerdem muss die Pflege möglich gemacht werden, durch mehr Personal oder durch eine Arbeitswelt, die sich darauf einstellt, dass Angehörige gepflegt werden müssen. Welche Rolle kann die Diakonie dabei einnehmen? Es sind zu wenige Menschen auf dem Markt der Pflege, wir brauchen mehr Pflegekräfte. Von daher bin ich um jeden froh, der sich praktisch und organisatorisch damit befasst. Aber die vielen Anbieter müssen natürlich auch einem gewissen Standard genügen, und diese Qualität muss kontrolliert werden. Die Diakonie hat viele Einrichtungen und dadurch ein aussagekräftiges Bild der Pflege vor Augen. Sie weiß, was es außerdem noch braucht und kann das in die Politik bringen. Das halte ich bei den großen profilierten Einrichtungen in der Pflege für extrem wichtig. Welche persönliche Beziehung haben Sie zu Kirche und Diakonie? Ich habe eine ur-evangelische Sozialisation, ich bin gewissermaßen neben meinem Vater auf der Orgelbank der evangelischen Kirche in Götzenhain groß geworden. Also ich bin evangelisch durch Musik, wenn Sie so wollen. Und die Diakonie ist mir durch die Pflege zugewachsen. Dieses Thema liegt mir einfach am Herzen, wir können uns da nicht wegducken. Das kommt auf jeden von uns zu und wir müssen uns darum kümmern. Das Schöne ist: Man hat damit auch eine Aufgabe, die sinnvoll ist. Das macht zufrieden, wenn es gut läuft. Das ist noch ein Stück Leben, das man mit dem oder der zu Pflegenden teilen kann. Wir müssen nur dran arbeiten, dass wir dafür noch bessere Rahmenbedingungen haben. Das Gespräch führte Kurt-Helmuth Eimuth

Notfallseelsorge: Damit sich auch jemand um die Angehörigen kümmert

von Kurt-Helmuth Eimuth 31. Juli 2019

Bei grausamen Ereignissen wie diese Woche am Frankfurter Hauptbahnhof, als ein achtjähriger Junge und seine Mutter vor einen einfahrenden ICE gestoßen wurden und das Kind starb, wird auch die Notfallseelsorge gerufen. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen den Angehörigen und Betroffenen zur Seite. 278 Mal war die Frankfurter Notfallseelsorge im Jahr 2018 im Einsatz.

Blumen an Gleis 7 erinnern an den getöteten Jungen. Die Notfallseelsorge war auch diesmal im Einsatz, um den Menschen beizustehen, die die Tat miterlebt hatten. | Foto: Rolf Oeser
Blumen an Gleis 7 erinnern an den getöteten Jungen. Die Notfallseelsorge war auch diesmal im Einsatz, um den Menschen beizustehen, die die Tat miterlebt hatten. | Foto: Rolf Oeser

Polizei und Notärzte kümmern sich in Notfällen um die direkt Betroffenen, aber auch andere brauchen Hilfe. Am 29. Juli, als im Frankfurter Hauptbahnhof ein achtjähriger Junge starb, erlitten auch viele Umstehende einen Schock oder brauchten Unterstützung und ein offenes Ohr: Die Reisenden auf dem Gleis, aber auch diejenigen, die in dem Zug saßen. Die Haupt- und Ehrenamtlichen der Frankfurter Notfallseelsorge kümmerten sich in den Räumen der Bahnhofsmission um alle, die Beistand brauchten.

Dass es in Frankfurt eine Notfallseelsorge gibt, dafür war ein anderes grausames Ereignis der Auslöser: An Weihnachten 1996 wurde in der Kirche in Sindlingen ein Handgranatenanschlag verübt, bei dem drei Menschen starben und zahlreiche Gottesdienstbesucherinnen und -besucher verletzt wurden. Polizei und Notärzte kamen, aber niemand war da, um die Zurückgebliebenen, die Angehörigen, die nicht verletzten Menschen zu betreuen.

Dieses Schlüsselereignis führte in der Folge zur Gründung der Notfallseelsorge vor zwanzig Jahren. In Kooperation mit den Einsatzkräften vor Ort kümmert sie sich um die Angehörigen eines Unfalles, eines plötzlichen Todesfalles oder auch eines Suizids. Die Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger überbringen auch Todesnachrichten.

Gerufen werden die heute 38 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die Feuerwehrleitstelle. „Von Anfang an war Bedingung, dass wir an 365 Tagen im Jahr immer zwei Personen in Bereitschaft haben“, sagt Irene Derwein. Die Pfarrerin ist von Anfang an dabei, zuerst als Ehrenamtliche, dann zehn Jahre lang als Leiterin der Notfallseelsorge. Heute ist sie die zuständige Arbeitsbereichsleiterin im Diakonischen Werk für Frankfurt und Offenbach.

Unter den Ehrenamtlichen sind Pfarrerinnen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, aber auch Journalistinnen und Bankangestellte. Sie alle haben Erfahrung mit Menschen in Krisensituationen und eine 14-tägige Zusatzqualifikation absolviert. Zunächst ist ihre Aufgabe eine reine Krisenintervention, das heißt: bei den Menschen sein, mit ihnen sprechen, Hilfe durch Angehörige organisieren, wenn die Rettungskräfte abgezogen sind. Falls gewünscht, wird ein Gebet gesprochen.

Sollte der Leichnam noch im Haus sein, kann eine Aussegnung mit Kerzen und Gebet gemacht werden. Es geht um eine würdige Verabschiedung. Alle Ehrenamtlichen, ob Theologen oder Laien, sind darin geschult. Dies sei eine Besonderheit der Ausbildung, sagt Irene Derwein. Sie bedauert allerdings, dass es nicht gelungen ist, von Anfang an die katholische Kirche mit ins Boot zu bekommen. Unter den Ehrenamtlichen sind aber katholische Christinnen und Christen und auch Priester. Bei Bedarf vermittelt die Notfallseelsorge auch an muslimische Seelsorgerinnen.

Inzwischen hat die Notfallseelsorge eine hohe Akzeptanz. Im Jahr 2018 wurde sie 278 Mal gerufen und hat über 700 Menschen begleitet. Die Akzeptanz bei den Rettungskräften kommt nicht von ungefähr. So unterrichtet der neue Leiter der Notfallseelsorge, Conny von Schumann, die Feuerwehr in Krisenintervention und Stressbewältigung. Auch die Feuerwehrkräfte müssen mit den belastenden Ereignissen umgehen. Auch für sie ist die Notfallseelsorge Ansprechpartnerin.

Inzwischen sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger auch bei einigen Großveranstaltungen oder bei Bombenevakuierungen direkt vor Ort. „Da gibt es immer was zu tun, und zahlreiche ältere Leute erinnern sich noch an die Bombennächte von Frankfurt“, berichtet von Schumann von der letzten Entschärfung im Ostend. „Da braucht es einfach Zuhörer.“

Der Weg zur Notfallseelsorge geht immer über die Rettungs- und Einsatzkräfte, Privatleute können sich im Fall von Krisen oder Hilfsbedarf an die Telefonseelsorge wenden, die rund um die Uhr unter der kostenlosen Telefonnummer 0800/111 0 111 erreichbar ist.

Christliche Angstprediger spalten die Kirche

von Kurt-Helmuth Eimuth 30. Juli 2019

Auch in Deutschland hat sich inzwischen ein vernetztes, rechts-christliches Milieu herausgebildet, das den Kirchen zu denken geben muss. Liane Bednarz hat die inhaltlichen und organisatorischen Verflechtungen der rechten Christen und Christinnen detailliert herausgearbeitet.

Liane Bednarz: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, 256 Seiten. Droemer. Erhältlich jetzt auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung , 4,50 Euro.
Liane Bednarz: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, 256 Seiten. Droemer. Erhältlich jetzt auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung , 4,50 Euro.

Es ist ein Vorgang, der alle Christinnen und Christen, aber besonders die Kirche als Institution in Alarm versetzen müsste: „Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern“ beschreibt Liane Bednarz in ihrem Buch über „Die Angstprediger“. Die inhaltlichen und organisatorischen Verflechtungen dieser Netzwerke können der Kirche nicht gleichgültig sein. Es ist zu wünschen, dass innerhalb und außerhalb der Kirche die Sensibilität für das Erstarken der rechten Christen wächst. Auch der Bundeszentrale für politische Bildung war die Thematik so wichtig, dass sie das Buch jetzt in ihr Programm aufgenommen hat und für nur 4,50 Euro vertreibt.

Im Vorwort schreibt die Autorin, dass es in beiden christlichen Konfessionen zu einer regelrechten Spaltung gekommen sei. Auf der einen Seite die Konservativen, die katholischerseits den Zölibat befürworten und die Frauenordination ebenso wie Kritik an der Kirchenhierarchie ablehnen, sowie die so genannten „bibeltreuen“ Protestanten, die sich regional im im „Bibelgürtel“ rund um Dresden, in schwäbischen Gebieten Bayerns, in Wuppertal sowie im Siegerland und Nordhessen konzentrieren. Auch das hessische Hinterland rund um Biedenkopf ist weltanschaulich vom Siegerland geprägt, auch dort sind die geschilderten gesellschaftlichen Veränderungen in den Dörfern offensichtlich.

Wie unter einem Brennglas lasse sich hier etwas verfolgen, das auch gesamtgesellschaftlich zu beobachten ist: Aus ehemals harmlosen Konservativen werden Menschen, die schrittweise rechte Positionen übernehmen und sich nicht selten nach und nach immer weiter radikalisieren. Als Feindbilder halten die Themenkomplexe „Genderwahn“ und Homosexualität, „Islamisierung des Abendlandes“ und „GEZ-Medien“ herhalten. Überstrahlt wird alles von dem „typisch neurechten“ Zerrbild der „Überfremdung“.

Detailliert zeichnet die Autorin die Argumentationslinien der rechten Christen und Christinnen sowie ihre Verbindung zur AfD auf. So wird etwa in der evangelikalen Publikation „idea Spektrum“ in der Kontroverse um die Ehe für alle der EKD vorgeworfen, dort herrsche „die Diktatur des Zeitgeistes und nicht die Leitung durch den Heiligen Geist“.

Die Integration konservativer Christen und Christinnen sieht die Autorin als vielleicht größte Herausforderung für die evangelische Kirche. „Je mehr man konservative Stimmen in den evangelischen Gliedkirchen marginalisiert, umso mehr treibt man sie de facto in die Radikalisierung hinein und macht sie anfällig für rechtschristliche Kreise“, schreibt sie. Die Unterscheidung der Geister, die klare Trennung zwischen konservativ und rechts, wird, so Bednarz „eine ebenso große Aufgabe für die Kirchen sein wie die Integration Konservativer“. Die Kirchen seien gefordert, streng fromme konservative Positionen auszuhalten und gleichzeitig dort eine Grenze zu ziehen, wo ein Menschenbild vermittelt wird, das mit dem Evangelium nicht mehr kompatibel sei.

Zur Vorbereitung zum Diskurs mit Menschen, die konservative Positionen vertreten ist dieses Buch eine große Hilfe. Und für alle, die Verantwortung in der Kirche tragen, hilft die Analyse, zu sehen, dass sich im Nebel eines konservativen Christentums längst auch in Deutschland ein gefährliches, vernetztes, rechts-christliches Milieu gebildet hat.