Prüfungsangst

6.5.2002

Fachschule für Sozialpädagogik

Andacht

L: Lasst uns von Gottes Macht singen und des Morgens rühmen seine Güte

G: Amen

Lied

455: Morgenlicht leuchtet

L: Herr, tue meine Lippen auf,

G: Dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.

L: Gott, gedenke mein nach deiner Gnade,

G: Herr, erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.

Psalm

121, Nr. 749

Lesung

Die Tageslosung steht beim Propheten Micha Kapitel 5, Vers 4:

Er wird der Friede sein

Ansprache

Den Frieden Gottes wünschen wir uns während des Gottesdienstes. Leider wird uns in den letzten Monaten bewusst, dass Friede keine Selbstverständlichkeit ist. Meine Generation, die gottlob keinen Krieg erlebte, hat schon gar keinen Gedanken mehr an Krieg verschwendet. Krieg war nur woanders. Hier lebte man in Frieden. In den letzten Monaten und Jahren ist uns bewusst geworden, dass dieses eben nicht selbstverständlich ist. Plötzlich gibt es wieder mitten in Europa Krieg und auch deutsche Soldaten sind, wenn auch im Auftrag der Weltgemeinschaft, im Einsatz.

Doch Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist auch eine Einstellung. Wir sprechen davon, dass man seinen inneren Frieden gefunden hat. Man ist dann im Reinen mit sich selbst.

Der Prophet Micha erinnert uns daran, dass man schlecht einfach so mit sich im Reinen sein kann. Micha weist uns darauf hin, dass unser Friede in Gottes Hand liegt. Wir brauchen nicht alleine für unseren Seelenfrieden zu kämpfen, nein Gott wird uns helfen. Wir können ganz darauf vertrauen.

Auch der eben gesungene 121ste Psalm berichtet von diesem Gottvertrauen. Er lässt deinen Fuß nicht wanken, er, der dich behütet, schläft und schlummert nicht. Gott ist also bei uns, auch in schwieriger Zeit.

Und wir alle sind ja heute morgen so ein wenig in schwieriger Zeit. Es stehen Prüfungen an. Die Lehrer und Lehrerinnen zittern, dass alles glatt gehen möge und die Studierenden hoffen, dass all ihr Wissen nachher in der Prüfung auch präsent ist, dass es abgerufen werden kann.

Sicher wäre es theologisch falsch, zu behaupten, dass der Ausgang der Prüfung etwas darüber Aussage, dass Gott anwesend oder abwesend ist. Nein, so lässt sich Gott nicht vereinnahmen. Das wäre ja so, als wollten wir Gott auf die Probe stellen. Klappt die Prüfung, dann gibt es ihn, versage ich, dann ist eben dieser Gott Schuld.

Nein, so einfach ist es nicht. Gottvertrauen ersetzt nicht das eigene Lernen. Aber es hilft in den Situationen, in denen ich versage. Die Gewissheit, dass auch und gerade hier Gott bei mir ist, diese Gewissheit spendet Kraft.

Nun wünsche ich uns zwar viel Gottvertrauen, aber hoffe doch auch, dass wir uns dessen nicht unbedingt bewusst werden müssen. Mögen alle in den Prüfungen ihre Ziele erreichen.

Lied:

639, Wenn das Brot das wir teilen

Lasst uns beten:

Gott, du bist die Quelle unseres Lebens

Duhast uns unsere Würde gegeben,

du liebst uns wie ein Vater,

du kümmerst dich um uns wie eine Mutter.

Manchmal spüren wir, dass wir dein Ebenbeld sind.

Du willst, dass wir Leben in Fülle haben.

Wir bitten dich um deine Kraft,

die uns ermutigt zum Leben,

die uns verbindet in Gemeinschaft untereinander

und uns freimacht für eigene Wege.

Du Gott ohne Grenzen,

vor dir wollen wir

unsere Gedanken und Träume ernst nehmen.

Mit dir sehnen wir uns nach Gerechtigkeit und Frieden für unsere Welt und für unser Zusammenleben.

Damit aus Anklagen neues Leben wachsen kann,

darum bitten wir dich.

Wenn du, Gott, uns hilfst,

dann werden wir uns nicht zerstreiten,

dann können wir als deine Töchter und Söhne

auf dieser Erde den Himmel säen.

Dann wird aus unserer Wüste ein Garten des Lebens.

Gott, lass in unserem Tun und Reden,

in unseren Träumen und in unserem alltäglichen Leben

deine Kraft wirksam sein.

Gemeinsam beten wir, wie Jesus uns gelehrt hat:

Vater unser im Himmel

geheiligt werde dein Name,

dein Reich komme,

dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

L: Lasst uns preisen den Herrn.

G: Gott sei ewig Dank

L:Es segne und behüte uns Gott,

der Allmächtige und Barmherzige,

Vater, Sohn und Heiliger Geist.

G: Amen

Esoterik im Kinderzimmer

Kurt-Helmuth Eimuth /Evangelisches Frankfurt Mai 2002

Esoterik erreicht die Kinderzimmer

Die Esoterik ist ein wichtiger Wirtschaftszweig geworden. In Deutschland bieten über tausend Hellseherinnen und Geistheiler ihre Dienste an, 15 bis 25 Millionen Euro werden jährlich für Charakter- und Schicksalsanalysen, Tierkreisbücher, astrologische Unternehmensberatungen und ähnliches ausgegeben. Und was sich die Erwachsenen gönnen, dass erreicht inzwischen auch die Kinder. Kurt-Helmuth Eimuth beschreibt einige Beispiele.

Dass ein vierblättriges Kleeblatt Glück verspricht, das glauben 43 Prozent der Deutschen. Die Zahl 13 hingegen bereitet Kummer, deswegen wurde sie aus Flugzeugen und Hotels verbannt. Fast achtzig Prozent der Deutschen lesen regelmäßig ihr Horoskop, 18 Millionen Bundesbürger deuten ihr persönliches Schicksal nach dem Lauf der Sterne. Immer mehr Menschen sind abergläubisch, das geht aus einer aktuellen Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach hervor.
Wo Bedarf ist, entsteht auch ein Markt, man hält Ausschau nach immer neuen – und immer jüngeren – Kundinnen und Kunden. Längst hat der Esoterik-Boom auch die Kinderzimmer erobert. Ob Konzentrationsprobleme,Bettnässen oder Fehler im Diktat: Der Esoterik-Laden an der Ecke hält

Ob Bettnässen oder Fehler im Diktat …

die richtige Lösung bereit. Dem Zeitgeist entsprechend helfen schnell und sanft Bachblüte, Bio-Saft oder Hirngymnastik.
Da stellt eine Mutter nach – stundenlangem Üben für’s nächste Diktat die Bachschen Notfalltropfen neben das Bett – ihre „feinstoffliche“ Wirkung soll das bevorstehende Rechtschreib-Desaster abwenden. Die Mutter einer sechsjährigen Bettnässerin bestellt einen Fachmann zum Lokalisieren von gefürchteten Wasseradern. Das Bett steht jetzt im Flur.
Der Kinderpsychologe Heinz Zangerle hält solche Beispiele nicht für schrullige Einzelfälle: „Schulfitness-Angebote aus dem Repertoire der Esoterik liegen im Trend, die schnelle Lösung hat Konjunktur: Verbesserung der kindlichen Konzentration durch Bewegung aus der Edu-Kinestik, Legasthenikertherapie durch Bachblüten, Behandlung von Aggressionen mit Qui-Gong und Reduzierung diffuser Ängste mit Aromatherapie. Nebenbei – damit Prüfungsstress erst gar nicht aufkommt: Es liegt am Lehrer, für den Rosenquarz am Schülerpult zu sorgen und die individuell günstigste Mondphase für den Prüfungstermin zu beachten.“
Besonders im Trend ist Reiki, eine japanische Heilslehre von einer universalen Lebensenergie, die den Menschen zur „Harmonie mit sich selbst und den grundlegenden Kräften des Universums“ führen soll. „Liebe Eltern, sind auch eure Kinder total Reiki-begeistert?“ fragt etwa die Reiki-Dienstleisterin Michaela Weidner in einem Werbebrief an ihre Kundschaft und fährt fort: „Viele meiner Reiki-Schüler erzählen mir, dass ihre Kinder ohne Reiki überhaupt nicht mehr ins Bett wollen.“ Durch die Hände der geweihten Heilbehandlerin ströme Lebensenergie. Medizinische Behandlungen würden dadurch bereichert, Reiki sei zudem ein praktischer Weg zur Erleuchtung. Sozialwissenschaftler vermuten, dass die steigende Zahl von Reiki-Anhängerinnen und Anhänger sich nicht nur in der Sehnsucht nach Irrealem begründet, sondern darin, dass man hier ganz praktische Zuwendung erfährt: Etwa dreißig Minuten lang wendet sich die Reiki-Meisterin dem Ratsuchenden intensiv zu, legt die Hände über den Körper und lässt „Energie fließen“. Häufig spüren die Menschen, dass es ihnen dabei unmittelbar warm wird. Das ist nachvollziehbar und ungefährlich – aber ist es das Geld wert?
Beliebt ist auch die Verwendung von Bachblüten. „Sie eignen sich besonders gut zur Behandlung von Kindern, denn sie reagieren auf die Blüten-Essenzen noch viel unmittelbarer als Erwachsene,“ ist auf den Verpackungen zu lesen. Der englische Arzt Edward Bach entwickelte diese Methode, einzelne Blütenessenzen ordnete er bestimmten Erkrankungen zu, sie sollen bei psychosomatischen Störungen ebenso wie bei Neurodermitis oder Asthma helfen.
Gefährlich ist die Behandlung mit Bachblüten nur dann, wenn ihretwegen auf die Anwendung herkömmlicher Medizin verzichtet wird. Gerade beim Umgang mit Kindern sollte man aber auch auf die Ursachen der Krankheiten achten – psychosomatische Störungen etwa, deren Ursache ein überzogener Leistungsdruck von Eltern oder Schule ist, können Bachblüten nicht kurieren.
Der neueste Hit in der esoterischen Szene ist das so genannte

… Reiki & Co versprechen Abhile

„Indigo Kind“. Gemeint sind die sprichwörtlichen „Zappelphilippe“,also Kinder, die nicht stillsitzen können, die am „Hyperaktivitätssyndrom“ leiden, wie das Phänomen heute medizinisch genannt wird. Immer öfter werden solche Kinder mit Ritalin, einer Art Beruhigungsmittel, behandelt. Besorgte Eltern lassen sich von Ärzten das Medikament offenbar allzu leichtfertig verschreiben. Das berechtigte Misstrauen gegen den hohen Medikamentenkonsum, der hyperaktive Kinder „ruhig“ stellen soll, wird in esoterischen Kreisen neuerdings in eine abenteuerliche paranormale Legende umgedeutet: In Wahrheit handele es sich bei solchen Kindern um Wesen mit übernatürlichen Eigenschaften. Diese „neuen Kinder“ sind „Indigokinder der neuen Zeit“, da in ihrer Aura verstärkt die Farbe Indigoblau vorkommt.
Die besondere Begabung der Indigo-Kinder werde von der Außenwelt nicht erkannt, deshalb seien sie frustriert über festge- fahrene Systeme, die keine kreativen Gedanken zulassen. In der Schule hätten sie oft Schwierig- kei- ten im sozialen Miteinander. Beispielhaft werden die Fähigkeiten dieser Kinder auf dem Buchdeckel eines esoterischen Bestsellers so beschrieben: „Der 13jährige Lorenz sieht seinen verstorbenen Großvater, spricht mit ihm und gibt dessen Hinweise aus dem Jenseits an andere weiter. Kevin kommt ins Bett der Eltern gekrochen – und erzählt, dass der große Engel – wieder am Bett stand. Peter ist neun und kann nicht nur die Aura um Lebewesen sehen, sondern auch Gedanken anderer Menschen lesen. Ina liest aus – verschlossenen Büchern, und Matthias verbiegt Löffel durch – Gedankenkraft.“
Ungeklärt bleibt die Frage, welchen psychischen Schaden Kinder nehmen können, denen solche Fähigkeiten zugesprochen werden. Denn wer kann solche, mit vermeintlich göttlichen Fähigkeiten ausgestattete Kinder denn noch erziehen, wer setzt ihnen Grenzen? Die „neuen Kinder“ sind vermutlich einfach Kinder, die um ihre ungezwungene Kindheit betrogen werden. Denn elterliche Zuwendung und Erziehung lassen sich nicht ersetzen: Durch Medikamente nicht, und auch nicht durch esoterische Heilswege.

Kurt-Helmuth Eimuth /Evangelisches Frankfurt Mai 2002

Religiös motivierter Terror (10.02.2002)

von Kurt-Helmuth Eimuth, Erschienen im FORUM

Nichts ist so wie es einmal war. Nach dem 11. September 2001 hat die Welt sich verändert. Ohne Zweifel. Der so überraschende und in seiner Perfektion und Wirkung so kaltblütig vorbereitete und durchgeführte Terroranschalg in den USA ist unvergleichbar. Doch leider gab es schon häufiger Anlaß zu der Frage: was geht in einem Menschen vor, der sich und andere einem vermeintlich höherem Ziel wegen umbringt? 

Massen(selbst)mord im Urwald

Das Recht, anderen Menschen die Existenzberechtigung zu- und abzuerkennen, nehmen sich Sektenführer auch in bezug auf ihre eigene Gefolgschaft. Die großen Sektenkatastrophen in den letzten drei Jahrzehnten belegen diesen grausamen Umstand.

Im November 1978 war die Welt geschockt.[1] Auf Befehl ihres Führers Jim Jones hatten 914 Mitglieder der Sekte „Peoples‘ Temple“ (Volkstempel) in Guayana Selbstmord begannen. Diejenigen, die sich gesträubt hatten, waren ermordet worden. Unter den Opfern waren zahlreiche Kinder, die vom Staat Kalifornien der Sekte als Pflegekinder überlassen worden waren. Vergeblich hatten die Behörden versucht, diese Kinder zurückzuholen. Als eine Delegation von Kongreßabgeordneten die Machenschaften der Sekte untersuchen wollte, wurde sie auf dem Flughafen von Guayana niedergeschossen. Zwei Menschen starben bei diesem Mordanschlag, den die Anhänger der „Peoples‘ Temple“ ausführten. Nach diesem Mordanschlag wußte Jim Jones keinen anderen Ausweg als den „würdigen Tod“ für seine Anhänger in der „white night“ (weißen Nacht).

„Ranch Apocalypse“: Die Davidianer

Im Frühjahr 1993 folgte das Drama von Waco. Als die Polizei das festungsartig ausgebaute Anwesen der Davidianer-Sekte namens „Ranch Apocalypse“ in Texas durchsuchen wollte, kam es zu einem heftigen Schusswechsel. Die Polizei schien auf solchen Widerstand nicht vorbereitet. Vier Polizisten starben, sechzehn wurden zum Teil schwer verletzt. Sechs Sektenmitglieder starben vermutlich ebenfalls bei dieser Schießerei. Die Polizei zog sich zurück und belagerte das Anwesen. Sektenführer Vernon Wayne Howell, der sich selbst David Koresh nannte, hielt sich für den wiedergekommenen Christus. Er erwartete das Ende der Welt. Sollte er im Kampf getötet werden, so werde er den sofortigen Einzug als Herrscher im Himmel halten, war er überzeugt. Die 51 Tage dauernde Belagerung durch die Polizei hatte leider die grauenhafte Wiederholung der Ereignisse von Jonestown zur Folge. Die Davidianer zündeten die Gebäude an und suchten den Flammentod. Man fand 86 verkohlte Leichen in den Gebäuden, darunter zwanzig Kinder. Nur wenige überlebten das Inferno.

Transit zum Sirius: Die Sonnentempler

War der Urwald von Guayana noch weit weg, so brach mit dem Sekteninferno von Waco das Problem extrem radikalisierter, religiös motiverter totalitärer Gruppen unmittelbar in die westliche Hemisphäre ein. Doch während man hierzulande noch über die Ursachen des Dramas spekulierte und in den Vereinigten Staaten darüber gestritten wurde, ob mit einer anderen Polizeitaktik Menschenleben hätten gerettet werden können, radikalisierte sich eine zunächst harmlos erscheinende Gruppe in Europa, der „Orden des Sonnentempels“. Am 4. und 5. Oktober 1994 fand man 53 Leichen in Kanada und der Schweiz, sämtlich Anhänger der Sonnentempler. Die meisten von ihnen waren erschossen worden. Am 23. Dezember 1995 entdeckte die Polizei im französischen Saint-Pierre-de-Cherenes im Wald 16 Tote, die ausnahmslos Schußwunden aufwiesen. Ein solches Sektendrama im Herzen von Europa hatte niemand erwartet. Dabei schien alles auf den ersten Blick so harmlos.

Die Lehre der Sonnentempler ist eine eigenwillige Mischung aus New-Age-Gedankengut, Esoterik und östlichen Lehren. Kernpunkt der Mischung: Vor 15 Milliarden Jahren habe es einen sogenannten „big bang“, einen Urknall, gegeben, der unser Universum geschaffen habe. Die Energien des Ursprungs seien dem „Meister der Energie“ verfügbar, der sie an andere verteilen könne. Bei den Sonnentemplern war dies Jo Di Mambro, oberster Chef der Gruppe.[2]

Di Mambro war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der geschickt ein Doppelleben führte. Für seine Jünger war er, von der Öffentlichkeit unbemerkt, „der Große“, ein Wiedergeborener der legendären Bruderschaft „Rose und Kreuz“. „Deren Mitgliedern obliege es, so Di Mambro, sich in kritischen Phasen der Geschichte den Irdischen zu offenbaren, um in der Gestalt eines Sterblichen vor dem Weltende zu warnen und dann aus der Welt zu scheiden.“[3]

Diese Lehre war es, die den kollektiven (Selbst-)Mord von 48 Menschen im Okrober 1994 bedingte, unter ihnen Sektenchef Di Mambro.

Das sinnlose Sterben sollte noch kein Ende haben. Am 23. Dezember 1995 fand die Polizei im französischen Saint-Pierre-de-Cherennes (Grenoble) sechzehn Tote, die alle Schußwunden aufwiesen. Die Sekte hat weiter funktioniert. Die toten Führer hatten für die Sektenmitglieder nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Sie saßen sozusagen weiterhin mitten in der Seele der Sektenjünger.

Die Behörden müssen sich harte Vorwürfe gefallen lassen. Sie hatten zahlreiche Hinweise und Spuren mißachtet. So hatten mehrere der in Grenoble ums Leben gekommenen Sektenmitglieder weiterhin in Sektenzentren gelebt.

Hugo Stamm listet in einem Zeitungsartikel weitere Versäumnisse der Behörden auf. Sein Fazit: „Die Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Sonnentempler zeigt deutlich, dass die Untersuchungsbehörden längst wußten oder hätten wissen müssen, dass die verbliebenen Kultanhänger ebenfalls die „große Reise“ antreten und ein zweites Drama anrichten wollten“.[4]

Der wenige Monate später veröffentlichte Untersuchungsbericht über das Sonnentempler-Drama konnte auch nicht mehr Licht in die Dunkelheit dieser todbringenden Sekte bringen. Doch die französischen Behörden wollten die Fehler ihrer schweizerischen Kollegen nicht wiederholen. Um ein drittes Blutbad zu verindern, nahmen sie über dreißig mutmaßliche Sektenmitglieder im März 199 vorübergehend fest. Auch nach ihrer Freilassung werden Sektenmitglieder polizeilich beobachtet. Im Jahre 1997 wurden in Kanada weitere fünf Sektenmitglieder tot aufgefunden.

„Der spirituelle Diktator“

Tokio, 20. März 1995. Mitglieder der Aum-Sekte (Höchste Wahrheit) deponieren in einer U-Bahn-Station Plastikbeutel, aus denen das Giftgas darin entweicht. Durch diesen Anschlag soll der japanische Staat gelähmt werden, damit die eigene historische Mission der Weltbeherrschung beginnen kann. Der Terror war akribisch vorbereitet. Die Bilanz: Zwölf Menschen sterben, und mehr als fünftausend werden verletzt. Der Spiegel berichtet:

„Die Menschen knicken, buchstäblich mit Schaum vor dem Mund, auf dem Bahnsteig zusammen und erbrechen sich. Drei junge Frauen sind, ängstlich wie kleine Kinder, kniend ineinander verklammert. Sie schreien. Aber man kann sie nicht hören. Denn das Gift hat ihre Stimmbänder gelähmt.“[5]

Sarin ist zwanzigmal so giftig wie Zyanid. Die Opfer sterben innerhalb von dreißig Minuten an Erstickung oder Herzstillstand. Wer überlebt, kann bleibende Hirnschäden davontragen.

Das tödliche Gift war in den Labors in der Zentrale der Aum-Sekte hergestellt worden. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie etwa zehntausend Anhänger in Japan und mindestens fünfundzwanzigtausend in Rußland. Zwei Tage nach dem Anschlag durchsuchten zweitausendfünfhundert Polizeibeamte gleichzeitig die fünfundzwanzig Aum-Büros und Niederlassungen im ganzen Land. Sie fanden Maschinengewehre, Gasmasken, Schutzanzüge sowie einige Kisten Dynamit. Nicht viel, wie sich später herausstellen wird. Offensichtlich war der Plan für die Polizeiaktion vorzeitig durchgesickert. Das letzte, was die Aum-Anhänger von ihrem Gutu Shoko Asahara dem „verehrungswürdigen Meister“, hören, ist eine Botschaft, in der offen zum Massenselbstmord aufgerufen wird. Man solle nun den „großen Rettungsplan“ verwirklichen. „Schüler, die Zeit des Erwachens ist gekommen. Nehmt den Tod ohne Bedauern!“[6] Zum Glück kommt es hierzu nicht mehr.

Shoko Asahara hatte seinen Anhängern wiederholt von apokalyptischen Visionen berichtet. „Im Frühjahr 1993[7] hatte Asahara eine weitere Schreckensvision gehabt. Monatelang war der Termin des Weltuntergangs immer näher gerückt – 2002, 2001, 1999. Nun legte der gequälte Geist des Meisters das Datum für die Apokalypse bereits auf das Jahr 1996 fest. In diesem Jahr, so prophezeite er, werde die Zivilisation ihren Abstieg ins apokalyptische Feuer beginnen. Asahara warnte seine Gefolgsleute vor einem schrecklichen Genozid, der von einem unerwarteten Feind – den Vereinigten Staaten – ausgehend über Japan hereinbrechen würde. Die Amerikaner würden Japan angreifen, alle Inseln im Meer versenken und einen Weltkrieg auslösen.“[8] Eine Vorstellung, die offenbar in Japan nicht so absurd erscheint. Jedenfalls gelang es Asahara geschickt, die Vorurteile über den ehemaligen Kriegsgegner und Sieger Amerika auszunutzen.

Der 1955 geborene Asahara besuchte eine Internatsschule für Blinde, da er auf einem Auge nichts sehen konnte. Er strebte ein Studium an einer der besten Universitäten des Landes an. Doch das Eintrittsexamen bestand er nicht. Im Jahre 1984 gründete er mit Frau und Schülern eine Yoga-Gruppe, die sich 1987 den Namen Aum Shinrikyo gab. Angeblich hatte Asahara zuvor auf einer Indienreise die Erleuchtung erlangt. Um seine religiöse Autorität zu unterstreichen, besuchte er mehrmals den Dalai-Lama und andere hohe Lamas. Martin Repp beschreibt Asaharas Persönlichkeit so:

„Asaharas Leben bewegt sich zwischen den Polen von sozialer Ablehnung und eigenem Ehrgeiz, zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstüberschätzung. Er weiß seine Behinderung der halben Sehfähigkeit gut zu kompensieren, um diejenigen zu leiten, die überhaupt nicht sehen können. Das gilt sowohl von seinen Mitschülern als auch später – im übertragenen Sinne – von seinen Schülern.“[9]

Asahara war geprägt von einem ausgeprägten Verlangen nach Macht. So ist es auch zu erklären, daß Asahara mit weiteren vierundzwanzig Sektenanhängern im Februar 1990 unter dem Parteinamen „Shinritó`“ erfolglos für die Unterhauswahl kandidierte.[10]

Die Militarisierung und Radikalisierung erfolgte Schlag auf Schlag. So reisen etwa Aum-Anhänger in „medizinischer Mission“ nach Zaire, um eine Probe des tödlichen Ebola-Virus zu erhalten. Zu jenem Zeitpunkt war Aum bereits seit einigen Monaten (Juni 1992) vom russischen Justizministerium als offizielle religiöse organisation registriert. Der Damm war gebrochen. Shoko Asahara war auf dem besten Weg, das zu werden, was er werden wollte. „Ich beabsichtige, ein spiritueller Diktator zu werden, ein Weltbeherrscher.“[11]

Die Bilanz der spirituellen Diktatur: neben den zwölf Toten und fünftausend Verletzten beim Giftgasanschlag in Tokio sind zahlreiche Gegner von Aum ebenfalls ermordet worden. Im Februar 1995 wurde ein Dorfbeamter entführt und durch eine Drogeninjektion getötet. Sein Körper wurde in einem speziellen Mikrowellen-Einäascherungsofen, der im Untergeschoß eines Aum-Labors eingerichtet wurde, verbrannt. Zwischen Oktober 1988 und Februar 1995 starben insgesamt dreiunddreißig Aum-Anhänger infolge von Unfall, Mord, Suizid oder extremen religiösen Übungen. Ferner gelten weitere einundzwanzig Mitglieder als vermißt.

Es bleibt die Frage, wie vorwiegend gebildete Menschen sich einer solchen Sekte anschließen können. Hier wie anderswo folgen sie einem Guru, der die höchste Wahrheit und einen spirituellen Initiationsweg versprach, mit bedingungslosem Vertrauen. War man erst einmal ein Anhänger, so war man bedingungslos den Mechanismen der Bewußtseinskontrolle, auch der mit körperlicher Gewalt arbeitenden Gehirnwäsche ausgesetzt. „Die Gläubigen bekamen nur wenig zu essen und durften höchstens drei Stunden pro Tag schlafen. Das machte sie für Aums Lehren, die ununterbrochen auf sie einprasselten, gefügig. Zusätzlich sorgten die gekappten Familienbande dafür, daß die Schüler allmählich keine andere Lebensweise mehr kannten.“[12]

Heute versucht die Gruppe sich zu reorganisieren. Man entschuldigt sich für die Verbrechen, beteuert, dass man sich gewandelt habe und nimmt einen neuen Namen an. Unter der Bezeichnung Aleph, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets,  versammelt man sich nach dem Verlust des inhaftierten Führers. Doch trotz des beteuerten Neuanfangs spricht man auch weiterhin vom „errhabenen Führer“, der „ein Genie auf dem Gebiet des Yogas und der buddhistischen Meditation“ sei.[13]

All diese Katastrophen belegen einen besorgniserregenden Wandel. Da ist zunächst eine scheinbar harmlose Gruppe einiger „religiöser Spinner“. Sie backen ihr Brot selbst, betreiben Hatha-Yoga. Nicht gefährlich, eher liebenswert anders. Doch dann erfolgt plötzlich und von der Öffentlichkeit unbemerkt eine Radikalisierung. Der Fanatismus wird immer größer, das apokalyptische Szenario der Gruppe wird für die Sektenmitglieder zur unmittelbar bevorstehenden Realität. Leider lassen sich solche Veränderungen nicht prognostizieren.

Der nahende Weltuntergang am Ende des Jahrtausends war auch für eine Gruppe um den 65 jährigen Kultchef Marshall Herff Applewhite zur Realität geworden. Sie begab sich eine Woche vor Ostern (1997) auf die Reise zu einem „höheren Ort“ und 17 Männer im Alter von 26 bis 72 Jahren verließen, wie Videodokumentationen belegen, lächelnd ihre „Container“, wie sie ihre Körper nannten. Sektengründer Applewhite hatte die Parole ausgegeben: „Planet Erde wird recycelt. Die wahre Bedeutung von Selbstmord besteht für uns darin, sich der nächsten Ebene zu öffnen, wenn sie sich anbietet.“[14]

Der Spiegel beschreibt die Sekte so: „Die meisten Sektenmitglieder hatten, oft schon vor Jahren, jeden Kontakt zu ihren Familien verloren. Sie glaubten an Kultchef Applewhite als den „Einen“, der sie als Christus unserer Tage, zum „höheren Ort“ führen konnte. Sie ließen sich ihre Haare kurz schneiden und verzichteten für ihren Führer auf jeden Sex, acht Männer waren kastriert. Sie hatten offensichtlich akzeptiert, daß sie sich von der Außenwelt der Nichtgläubigen abschließen mußten – wer zweifelte wurde vom Chef isoliert und einer gründlichen „Entgiftung“ unterzogen.“[15]

So abstrus die Mischung aus Science Fiction und Weltuntergangsglauben sich auch auf den sekteneigenen Internetseiten präsentierte, so tödlich war sie doch für ihre Mitglieder.

Die einzige Möglichkeit, als Gesellschaft dieser Versektung entgegenzuwirken, ist das ständige Gespräch mit den Mitgliedern. Der Kontakt zur gesellschaftlichen Realität kann für diese überlebensnotwendig sein. Und dort, wo sich Katastrophen abzeichnen, darf nicht gezögert werden. In Japan haben die Behörden nicht energisch eingegriffen, der zweite (Selbst-)Mord in der Schweiz hätte durch Schutzhaft womöglich verhindert werden können. Doch damit die Behörden zu solch weitreichenden Maßnahmen bereit sind, müssen sie zunächst von der Gefährlichkeit radikalisierter und fanatisierter Sekten überzeugt werden. Der Staat kann jedoch nicht auf Dauer seine Bürger vor sich selbst schützen. Vielmehr geht es darum, die Ursachen für die Anfälligkeit der Menschen für Seelenfänger zu bekämpfen.

Bei solch komplexen innerpsychischen Vorgängen müssen Erklärungsmodelle auf Hauptströmungen reduzieren. Solche Modelle, wie sie etwa Robert Jay Lifton für den Prozeß der Selbstaufgabe im Sektenmillieu entwickelt hat, soll das Verstehen für ein völlig unverständliches Phänomen fördern. Denn letzten Endes bleibt es ein Geheimnis, wie eine Mutter von drei Kindern, die mitten im Leben steht, sich für die gute Sache (in diesem Fall der Palästinenser) in die Luft sprengt.

Doch bevor ein solches Modell aus der Sektenforschung vorgestellt wird, bedarf es nochmals des genauen Blickes auf das Umfeld heutiger Selbstmordattentäter und –täterinnen. Gerade in der islamischen Welt ist in den letzten Jahren eine Art kollektiven Minderwertigkeitsgefühl zu erkennen.  Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse ist der Einsicht der wahren Gesetze der Globalisierung gewichen. Man selbst fühlt sich unterlegen. Ein Muslim-Aktivist wird so zitiert: „Wir verfügen nicht über die Waffen, die der Feind besitzt. Deshalb ist das Märtyrertum eine legitime Taktik.“[16] Terrorismus entsteht vor allem dort, wo sich Menschen extrem ungerecht behandelt fühlen. Neben dem persönlichen Erleben von Armut kommt dann noch eine als persönliche Niederlage empfundene Perspektivlosigkeit hinzu. „All das,“ so die Geo-Autoren, „lässt Menschen täglich den Druck einer unablässigen Existenzbedrohung verspüren, und zwar selbst dann, wenn sie selbst nicht zu den Beteiligten gehören. Es ist ein Syndrom, das ein ganzes Kollektiv erfassen kann.“[17] Dieses psoxhosoziale Setting findet sich in einigen der Heimatländer der terroristen des 11. Septembers: in Saudi-Arabien, im Libanon und in Ägypten. Aber auch in anderen besonders von dieser Form des Terrors gepeinigten Regionen findet sich dieses kollektive Ohnmachtsgefühl. Wie erleben denn 20Jährige, die unter den Bedingungen der Intifada aufgewachsen sind?

Für Selbstmorattentade scheint sich der religiöse Tranmantel besonders zu eignen. Wurden 1995 nach Schätzungen von Experten 25 Prozent aller internationaler Anschläge von religiös motivierten Gruppen verübt, so waren sie doch für 58 Prozent der Terror-Todesopfer verantwortlich.[18]  

Gefährliche Abhängigkeit

Der Begriff „Sekte“ bezeichnet – umgangssprachlich – also nicht eine Lehre, sondern vielmehr Gruppenstrukturen. Sekten produzieren anstelle von individueller Freiheit Verantwortung, Abhängigkeit. Und sicher ist dem Weltanschuungsbeauftragten des katholischen Bistums Limburg, Lutz Lemhöfer, zuzustimmen, wenn er feststellt:

„Formen von Abhängigkeit und Intoleranz gibt es sicherlich auch in den großen Kirchen und Weltreligionen. Auch hier gibt es Menschen und Gruppen mit sektenhaften Zügen. Aber sie prägen nicht das Gesamtbild. Wo es lebendige Diskussion um die Wahrheit gibt, wo abwichende Meinungen ernst genommen werden und zu Reformen führen können, kann man nicht von einer Sekte sprechen. Das kann man vielmehr dort, wo Unterdrückung nach innen und Fanatismus nach außen sozusagen systembedingt und vom guten Willen des einzelnen nicht korriegierbar sind. Ob wir von einer Sekte sprechen können, entscheidet sich also nicht am Inhalt der Lehre, sondern an der Gruppenstruktur.“[19]  Die Bewertung dieser Gruppenstruktur drückt sich dann darin aus, ob wir von einer Sekte sprechen oder nicht. Wer etwa der Meinung ist, daß politische Gruppierungen von Strukturen dialogunfähiger Ausschließlichkeit geprägt sind, der mag von einer Politsekte sprechen. Und wer bestimmten Angeboten auf dem Psychomarkt nachsagt, sie würden seelische Abhäüngigkeiten schaffen, der spricht von Psychosekten. In diesem Sinn wird auch in diesem Buch der Begriff Sekte als zugegebenermaßen subjektive Wertung und Bewertung einer Organisation verwendet.

Selbstverständlich treffen die aufgeführten Kriterien niemals auf alle Sekten gleichermaßen zu. Die Intensität jener Faktoren, die abhängig machen, wird zudem bei den einzelnen Gruppierungen auch unterschiedlich sein.

Die vorgenommene Definition hilft freilich aus einem Dilemma nicht heraus: Der Begriff Sekte beschreibt nach wie vor sehr unterschiedliche soziale Erscheinungsweisen. Dies hat er mit anderen generalisierenden Begriffen gemeinsam. Auch „Fundamentalismus“ beschreibt ja sehr verschiedene Erscheinungen. Die Fundamentalisten innerhalb der Grünen sind etwas völlig anderes als bombenlegende islamische (christliche, jüdische) Fundamentalisten.[20]

Und doch können solche generalisierenden Begriffe für die Beschreibung von Grundstrukturen notwendig und hilfreich sein.

Wie arbeiten Sekten?

Immer wieder hört man in Diskussionen über Sektenmitglieder: „Das müssen doch alles labile Menschen sein. Mir könnte das nicht passieren!“ Doch es verhält sich anders.

Sicherlich haben Sektenmitglieder eine gewisse Grunddisposition. Derjenige, der sich der Osho-Bewegung anschließt, findet die Zeugen Jehovas mit ihren rigiden Moralvorstellungen sicherlich höchst unattraktiv. Auf der anderen Seite wird die Vereinigungskirche kaum für potentielle Krishna-Jünger interessant sein. Doch grundsätzlich sind wir alle empfänglich für geschickte Überzeugungsrechniken, man könnte auch sagen Manipulationstechniken. Oder haben Sie etwa noch niemals etwas spontan gekauft, das sich hinterher bestenfalls als unnötig, schlimmstenfalls als völlig überflüssig herausstellte? Die Seelenmanipulateure sind überall. Sie spielen im Kaufhaus funktionale Musik, schaffen dort für uns Inseln der Kommunikation oder präsentieren im Supermarkt vor der Kasse Süßigkeiten in Griffhöhe uneres Nachwuchses.

Wir alle unterliegen tagtäglich den Versuchen, unser Bewußtsein zu beeinflussen. Jedes Werben ist ein solcher Beeinflussungsversuch. Doch wann wird der Versuch zu überzeugen zu einem unredlichen Manipulationsversuch? Die Übergänge sind nicht nur in der Werbung fließend. Auch Sekten arbeiten mit Manipulationstechniken. Jede Sekte nutzt die eine oder andere Technik mehr oder weniger intensiv. Der amerikanische Psychiater und Psychologe Robert J. Lifton hat diese Techniken in besonders prägnanter Weise beschrieben.[21]

Bewußtseinskontrolle

Lifton setzte sich unter anderem auch mit Methoden der Gehirnwäsche auseinander, so wie sie die Chinesen im Koreakrieg praktizierten. Doch während die Gehirnwäsche an Gefangenen gegen ihren erklärten Willen durchgeführt wird, haben wir es bei Sekten mit einer völlig anderen Situation zu tun. Die einzelnen Sektenmitglieder unterziehen sich der Bewußtseinskontrolle (mind control, wie es Lifton nennt) scheinbar freiwillig. Es entsteht das Paradoxon der „manipulierten Freiwilligkeit“. Der Zustand der manipulierten Freiwilligkeit wird erreicht durch Techniken wie das „Love-Bombing“. Lifton spricht von einem ideologischen Totalitarismus. Als Kennzeichen des ideologischen Totalitarismus benennt er acht Kriterien:

            1. Milieukontrolle

            2. Mystische Manipulation (geplante Spontanität)

            3. Forderung nach Reinheit

            4. Kult des Sündenbekenntnisses (Beichtkult)

            5. Geheiligte Wissenschaft

            6. Manipulation der Sprache

            7. Vorrang der Lehre vor dem Menschen

            8. Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung.

Milieukontrolle:

Die Welt wird durch den Sektenschleicher betrachtet

Sekten steuern die Kommunikation ihrer Mitglieder. Sie müssen die Kontrolle über sie gewinnen. Das bedeutet zunächst, daß die Außenkontakte auf das notwendige Maß reduziert werden. Am besten glückt dies durch eine ausgeprägte Beschäftigung des Neulings. Seminare sind zu besuchen, die Hausarbeit und der Alltag sind zu organisieren. Lifton: „Oft gibt es eine festgelegte Abfolge von Ereignissen, wie Seminare, Vortrage und Gruppentreffen, die immer intensiver und immer isolierter werden und es einem dadurch – körperlich und geistig – außerordentlich schwer mach zu gehen.“[22]

Wer das Milieu seiner Anhänger wirkungsvoll kontrollieren möchte, schafft auch räumlich eine große Distanz zwischen dem „alten“ Milieu und dem neuen Umfeld. Es ist also kein Zufall, daß die Erfahrungsberichte der siebziger Jahre immer wieder davon erzählen, daß die jungen Leute innerhalb von wenigen Tagen nach der Anwerbung in ein fremdes Land gingen, um dort bei der Mission zu helfen. Ihre Pässe wurden sicherheitshalber von den Gruppenleitern verwahret. Der Telefonkontakt ist dabei kaum möglich. Aufgrund des Geldmangels können die Mitglieder nicht einfach Ferngespräche mit dem Ausland führen, und das Telefon der Sekte steht womöglich im für alle zugänglichen Gruppenraum. Hinzu kommt die Gruppendynamik. Neue Menschen sind kennenzulernen, man selbst muß seinen Platz in der neuen Gruppe suchen und finden. Womöglich muß man sich dabei einer fremden Sprache bedienen.

Lifton weist auch auf den Umstand hin, daß der Neuling einer völlig neuen Interpretation der Welt begegnet. Plötzlich wird alles durch die Brille der Sekte gesehen. Es legt sich gewissermaßen ein Sektenschleier über die Welt. Deshalb spielt auch die Nutzung von Medien keine Rolle. Auch dies ist ein Beitrag zur Milieukontrolle.

Mystische Manipulation (geplante Spontanität)

Mit „mystischer Manipulation“ oder geplanter Spontanität ist ein systematischer Prozeß gemeint, der scheinbar spontan entsteht, in Wirklichkeit aber von der Führung geplant ist.

Auch außerhalb von Sekten finden wir dieses Phanomen. Viele von uns kennen die scheinbar spontanen Bekehrungserlebnisse während einer Zeltmission. Selbstverständlich kann niemand in Abrede stellen, daß es sich bei solchen Bekehrungen um das Wirken des Heiligen Geistes handelt. Und die Zeltmission ist sicherlich keine Sekte. Aber zumindest wird dem Heiligen Geist auf die Sprünge geholfen, denn der Ablauf der Veranstaltung, die Musik und die Bekenntnisse von wiedergeborenen Christen schaffen ein Klima für solche scheinbar spontanen Bekehrungen.

Und als beispielsweise Mun noch nicht offen als Messias gehandelt wurde, mußte diese „Erkenntnis“ den Mitgliedern nahegelegt werden, In einem Sechs-StundenVortrag über die „göttlichen Prinzipien“, das theologische Grundwerk der Vereinigungskirche, heißt es:

„Die göttlichen Prinzipien stützen sich nicht auf konventionelle theologische Theorien, sondern sind eine neue Offenbarung die uns durch Reverend San Myung Mun von Gott gegeben wurde und uns den Willen Gottes sowie die Bedeutung seiner Vorhersehung der Erlösung ganz klar vor Augen führt. Wir wissen, daß Gott durch Noah und Abraham arbeitete und sein Wort durch Mose und Jesus kundtat. Warum sollte der gleiche lebendige Gott uns nicht auch heute eine neue Offenbarung zuteil werden lassen? … Gott hat sein Schweigen schon gebrochen. Hören wir Gottes Stimme im Gewitter oder finden wir ihn in Naturkatastrophen auf Erden? Die Geschichte beweist, daß Gottes Stimme in der Stille zu vernehmen war und zur stärksten Quelle des menschlichen Lebens wurde. Reverend Mun erhielt Gottes Offenbarung in der Stille im fernen Osten, …“[23]

Lifton beschreibt diesen Mechanismus so: „Ein Schema der Sekten ist heute, in einem bestimmten, „auserwählten“ Menschen den Erlöser oder eine Quelle des Heils zu sehen. Die mystische Manipulation kann in diesen Sekten eine ganz besondere Qualität annehmen, da die Führer zu Mittelsmännern Gottes werden. Die gottzentrierten Grundsätze könne zwingend vorgebracht und exklusiv beansprucht werden, so daß die Sekte und ihre Glaubensideen zum einzig wahren Heilsweg werden. Das kann der mystischen Manipulation Nachdruck verleihen und sowohl denjenigen, die sie betreiben, als oftmals auch denjenigen, die sie von unten her rezipieren, eine Rechtfertigung bieten.“[24]

Diese Rechtfertigung schließt auch das Phänomen der „himmlischen Täuschung“ ein. Denn wer der Sekte nicht angehört, befindet sich im Reich des Bösen. Und um der gerechten Sache willen, darf man schon einmal Außenstehende täuschen. So wird bei der Straßenmission der Gruppenname verschwiegen, oder man umgeht das Soindernutzungsverbot von öffentlichen Straßenraum, also das Verbot, auf den Bürgersteigen einen Informationsstand aufzubauen, indem man mit einem Rucksack auf dem Buckel pausenlos die Einkaufspassage entlang geht und gezielt Flugblätter verteilt.

Die Zeugen Jehovas werden in dieser Hinsicht recht deutlich: „Das Lügen schließt im allgemeinen eine Falschaussage gegenüber einer Person ein, die berechtigt ist, die Wahrheit zu wissen, mit der Absicht, sie oder jemand anders zu täuschen oder ihr bzw. dem anderen zu schaden. … Bösartiges Lügen wird zwar in der Bibel deutlich verurteilt, aber das bedeutet nicht, daß man verpflichtet ist, jemandem wahrheitsgemäß irgendwelche Informationen zu geben, die zu erhalten er kein Recht hat.“[25]

Forderung nach Reinheit und Kult des Sündenbekenntnisses

Die Forderung nach Reinheit ist eng verknüpft mit dem Kult des Sündenbekenntnisses. Die Lehre der Sekte, dies haben wir bereits gesehen, ist die absolute Wahrheit. Dies impliziert ein Schwarz-Weiß-Denken. „Entweder Du bist für Gott, oder gegen Gott“, könnte ein Sektenjünger in der Anwerberphase dem Neuling sagen. „Schließlich kannst Du ja auch nicht halbschwanger sein.“ Es geht bei Sekten um die einzig wahre, letztgültige Wahrheit.

Beichtkult: Schuld- und Schammechanismen als Druckmittel

Die reine Lehre muß bewahrt werden. Jede Form von Verunreinigung, und seien es nur unreine Gedanken, muß getilgt werden. Man muß seine unreinen Gedanken meist vor der Gruppe bekennen, was den Leitern wiederum Macht über den einzelnen verleiht. So werden Schuldgefühle und Scham verstärkt. Oft haben Sekten diesen Vorgang institutionalisiert.

Lifton nennt dies den „Kult des Sündenbekenntnisses“: „Ideologische Bewegungen, egal welcher Intensität, machen sich die Schuld- und Schammechanismen des Individuum szu eigen, um intensiven Einfluß auf diese Veränderungen zu gewinnen, denen der betreffende unterworfen ist. Dies wird erreicht in einem Bekenntnisprozeß, der seine eigene Struktur hat. In Sitzungen, in denen man seine Sünden bekennt, wird gleichzeitig nach bestimmten Mustern Kritik und Selbstkritik geübt. Dies geschieht meist in kleinen Gruppen unter einem aktiven und dynamischen Druck hin zur persönlichen Veränderung.“[26]

Im Universellen Leben soll allwöchentlich bei Kerzenlicht und in festlicher Kleidung ein Abendmahl abgehalten werden. Die Regieanweisungen sind geoffenbart durch „Schwester Gabriele“. Durch sie hat Christus angeblich gesagt:

„Vor dem Mahl halten einer oder zwei der Ältesten den Wochenrückblick: Alles Wesentliche, das Für und Wider, sollte offen ausgesprochen werden.

Die Ältesten, die der Gemeinde vorstehen, stellen der Gemeinde die Frage: Was war in der vergangenen Woche allgemein positiv und aufbauend und weshalb? Und: Wer oder was hat dazu beigetragen?

Die Gemeinde berichtet über das „Für“. Die Ältesten, die der Gemeinde vorstehen, werden sodann im Buch der Gemeinde die entsprechenden Vermerke anbringen. Auch die bemerkenswerten Taten der Glieder der Gemeinde für den Geist Christi, die zum Wohle und zum Wachstum der Gemeinde beigetragen haben, sollen im Gemeindebuch festgehalten werden.

Das gleiche geschieht mit dem „Wider“. Wer oder was waren die Ursachen der negativen Aspekte in der vergangenen Woche? Auch darüber werden Vermerke in das Buch der Woche eingetragen, das ein Teil der Gemeindebücher ist; auch wer die Verursacher oder Mitverursacher waren – und weshalb sie Schwierigkeiten und Probleme hatten oder noch haben.“[27]

Man kann sich die Szene allein anhand dieser „göttlichen Offenbarung“ gut vorstellen. Doch es geht noch weiter. Bei „schwerwiegenden Problemen“ ist wie folgt zu verfahren:

„Nach dem Abendmahl sollen Älteste, die hierfür in Frage kommen, mit eventuell noch von Schwierigkeiten oder Problemen Beladenen sprechen. Und so es um Zweite oder Dritte geht, sollen diese mit bei der Aussprache sein.“[28]

Wissenschaftsgläubigkeit

In einer Zeit, in der der Glaube an den permanenten Fortschritt zwar erschüttert, aber dennoch weit verbreitet ist, muß selbst im ideologischen Bereich die Wissenschaft alles beweisen. Beispielsweise umgibt sich die Vereinigungsbewegung gerne mit Wissenschaftlern, die sie zu Seminaren einlädt. Sie hat hierfür vornehmlich zwei Organisationen geschaffen: „The International Conference on the Unity of Sciences“ und die „Professors World Peace Academy“.

Die Transzendentale Meditation des Hindumönches Maharishi Mahesh Yogi versteht sich als Entspannungstechnik, deren Wirkung wissenschaftlich bewiesen werden könne. Eine eigene Privatuniversität, die „Maharishi International University“ und deren europäischer Ableger, die „Maharishi European Research Universitiy“ (MERU), entwickeln und verbreiten die „Wissenschaft der Kreativen Intelligenz“. In einem Forschungsergebnis der MERU wird darauf verwiesen, daß sich bei Studenten, die die Transzendentale Meditation praktizierten, im Vergleich mit Nichtmeditierenden eine Zunahme der Intelligenz ergab. Die eigenwillige Interpretation:

„Diese Ergebnisse weisen darauf hin, daß das Programm der Transzendentalen Meditation allgemein die Flüssigkeit der intellektuellen Abläufe erhöht. Das befähigt den Menschen, auf neue Situationen mit größerer Anpassungsfähigkeitm mehr Kreativität und besserem Verständnis einzugehen“.[29]

Manipulation der Sprache:

Einfache Sprache – einfaches Denken

Sprache ist das Spiegelbild des Denkens. Je differenzierter die Sprache, desto differenzierter das Denken. Ein einfaches Beispiel: Die Eskimos sollen gut zwei Dutzend Ausdrücke für „Schnee“ haben. In ihrer Umwelt spielt der Schnee eine besondere Rolle, was auch an der Sprache festzustellen ist.

Sekten gehen den umgekehrten Weg. Sie reduzieren die Sprache. Wer nur im Schwearz-Weiß-Schema denkt, braucht Farben erst gar nicht unterscheiden zu können. Es entwickelt sich eine Sprache der Einfachheit.

Doch darüber hinaus benutzt man die Sprache auch zur Milieukontrolle. Durch Umdefinition und neue Kunstwörter igelt sich beispielsweise Scientology gedanklich ein. „Scientology“ selbst ist ein Kunstwort. Es soll aus dem lateinischen Wort „scire“ und dem griechischen Wort „logos“ zusammengesetzt sein. Dieses „Wissen vom Sissen“ bringt dann Wörter und Begriffe wie „Aberration“, „Assist“, „Chaos-Händler“, „Clear“, „Entheata“ (bedeutet „enturbuliertes Theta“) oder „Mest“ hervor.

Auch werden Begriffe umdefiniert. Für Kommunikation findet sich folgende Definition:

„Die Betrachtung und Handlung, einen Impuls oder ein Partikel vom Ursprungspunkt über eine Entfernung zum Empfangspunkt hin zu schicken, mit der Absicht, am Empfangspunkt eine Duplikation und ein Verstehen dessen zu erzeugen, was vom Ursprungspunkt ausgesandt wurde.“[30] Der Brockhaus definiert Kommunikation dagegen so:

„Kommunikation (lat.), Austausch, Verständigung, Übermittlung und Vermittlung von Wissen, i. w. S. alle Prozesse der Übertragung von Nachrichten oder Informationen durch Zeichen aller Art unter Lebewesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) und/oder technischen Einrichtungen (Maschinen) durch technische, biologische, psychologische, soziale u.a. Informationsvermittlungssysteme.“[31]

Auch das „Universelle Leben“ verändert Sprache. Da wird keine Mitarbeiterin für die Apostelapotheke gesucht, sondern eine „Biene“, oder der Kräuterhof sucht „Bienen“ für Land- und Hauswirtschaft. Die Sektenanhänger sind so auch in ihrem eigenen Selbstverständnis zu Arbeitsbienen geworden, sie arbeiten nicht, sie „bienen“ eben.[32]

Vorrang der Lehre:

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Die Lehre wird über den Menschen gestellt. Sie hat Vorrang vor dem Menschen. Auch wenn es Widersprüche zwischen der jeweiligen Dogmatik und dem eigenen Erlegen gibt, führen diese nicht zur Kritik. Eher zu Schuldgefühlen, da man ja unwillkürlich den Gedanken „Hier stimmt was nicht“ in den Kopf bekommt. Das eigene Erleben wird also im Sinne der jeweiligen Lehre interpretiert. „Man lernt, Zweifel als eine Reflexion des eigenen Bösen zu empfinden.“[33]

Die Lust des Gurus Bhagwan/Osho am automobilen Luxus wurde von seinen Anhängern folgerichtig nicht als materieller Charakterzug des Gurus interpretiert. Vielmehr antworteten zahlreiche seiner Anhänger und Anhängerinnen, wenn man sie auf die zahlreichen Rolls-Roys ihres Gurus ansprach, etwa in diesem Sinn: „Bhagwan hat mir soviel gegeben, da ist es doch nur eine kleine Gabe, wenn wir ihm dieses ermöglichen.“ Sie huldigten ihm, wenn er im Ashram selbst kruze Strecken in der Luxuskarosse zurücklegte.

Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung

Der letzte Schritt der Bewußtseinskontrolle führt zu dem, was Lifton die „Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung“ nennt. Kennzeichen totalitärer Systeme ist es, daß sie einen absoluten Wahrheitsanspruch verfechten. Während man selbst im Besitz der Wahrheit ist, leben die anderen Menschen bestenfalls im Zustand der Unwissenheit, schlimmstenfalls sind sie Feinde, die mit dem Bösen paktieren. Diejenigen, die der Wahrheit entgegenstehen, sind Feinde, die keine Existenzberechtigung mehr haben. Sie werden bestenfalls im Endgericht blutig gerichtet, überleben das Ende der Welt nicht, oder sie werden schlimmstenfalls massiv bekämpft.

Die Zeugen Jehovas reden von Krieg, von einem theokratischen Kriegszug, und berufen sich dabei auf die Bibel:

„Gottes Wort gebietet: „Redet die Wahrheit“ ein jeder von euch mit seinem Nächsten (…) Dieses Gebot verlangt von uns jedoch nicht, daß wir jedem, der etwas von uns wissen will, alles sagen. Denen, die ein Recht haben, die Wahrheit zu erfahren, müssen wir die Wahrheit sagen, doch jemandem, der hierzu nicht berechtigt ist, können wir eine ausweichende Antwort geben. Aber wir dürfen nie die Unwahrheit sagen … Eine Ausnahme sollte der Christ jedoch stets im Sinn behalten. Als Soldat Christi nimmt er an einem theorkatischen Kriegszug teil, und den Feinden Gottes gegenüber muß er größte Vorsicht walten lassen. Die Bibel zeigt, daß es zum Schutz der Interessen der Sache Gottes angebracht ist, die Wahrheit vor den Feinden Gottes zu verdecken … Das käme unter die Bezeichnung „Kriegslist“, wie dies im Wachtturm vom 15. April 1956 erklärt wurde, und wäre in Übereinstimmung mit dem Rat Jesu …“[34]

Der Scientology-Konzern geht nicht zimperlich mit seinen Kritikern um. Ganz im Sinne seines Gründers Hubbard. Dessen Überzeugung war:

„Wir fanden niemals Kritiker der Scientology, die keine kriminelle Vergangenheit hatten. Wenn sie sich der Scientology in den Weg stellen, werden wir sofort nach ihren strafbaren Handlungen schauen – und wir werden sie finden und bloßlegen. Wenn sie uns aber in Ruhe lassen, werden auch wir sie in Ruhe lassen.“[35]

Offenbar wird dies von den Sektenmitgliedern durchaus eindeutig verstanden. Da werden Scientology-Werbepakete an Industrieverbände und -vereinigungen mit folgendem Anschreiben verschickt:

„Anbei sende ich Ihnen ein paar Unterlagen zur Kenntnisnahme. Ich hoffe, daß einige Leute soviel Durchblick haben und mithelfen, die Unterdrücker im zweiten Nazi-Deutschland langsam mal zu eliminieren.“[36]

Dies ist in der Tat die Sprache von neuen Herrenmenschen.

Gemäß der bei Scientology üblichen Sprachverwirrung spricht Scientology von „Ethik“ und meint etwas völlig anderes. „Ethik“ meint hier die Methode, „andere Absichten“, beispielsweise kritische, zu entfernen. So läßt Hubbard am 18. 10. 66 verlauten:

„Eine Person, die in den Ethik-Zustand des Feindes zurückgestuft worden ist, gilt als vogelfrei: Man darf ihr Eigentum abnehmen, sie in jeder Weise verletzen, ohne daß man von einem Scientologen bestraft wird. Man darf ihr Streiche spielen, sie verklagen, sie belügen oder vernichten.“[37]

Diese sogenannte „Fair game policy“ wurde inzwischen offiziell zurückgenommen. Interessant ist die Begründung: „Die Praxis, Leute zu Freiwild zu erklären, wird eingestellt. Fair Game darf in keiner Ethik-Anweisung erscheinen. Es verursacht schlechte Öffentlichkeitsarbeit. Dieser Richtlinienbrief hebt keine Richtlinie über die Behandlung oder Handhabung von ‚unterdrückerischen Personen‘ außer Kraft.“[38]

Obgleich also die Order zur Kritikerverfolgung, zynischerweise „fair game“ genannt, formal aufgehoben ist, soll die Behandlung wie bisher weitergehen. Denn die Anweisung erzeugte ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit. Das ist wirkliches Sektendenken.

Das Zu- und Aberkennen der Existenzberechtigung ist schon im sogenannten scientologischen „Ehrenkodex“ verankert. Der Punkt 12 lautet:

„Fürchte dich nie davor, einem anderen in einer gerechten Sache weh zu tun.“[39]

Die „gerechte Sache“ ist eben die der jeweiligen Gruppe. Dieser Satz ist Kern jedes totalitären Denkens und kann die Mitglieder in solche Katastrophen führen, wie sie in den letzten Jahren leider häufig geschahen. Wenn sich Menschen anmaßen über die Existenz anderer Menschen entscheiden zu dürfen, dann erheben sie sich über alle anderen. Wenn dies eine Gruppe tut, ob nun unter religiösem oder politischen Vorzeichen, dann ist sie eine Gefahr für den Frieden. 


[1]Vgl. Charles A. Krause, Die Tragödie von Guayana, Frankfurt 1978.

[2]Vgl. Pascal Auchlin/Pierre-André Schmitt, Die Reise in den Abgrund, in: facts Nr. 1/1996.

[3]Russell Miller, Eine tödliche Verirrung, in: SZ-Magazin vom 13. 4. 1995.

[4]Hugo Stamm, Sektenmassaker voraussehbar, in: Tagesanzeiger vom 31. 12. 1995.

[5]Faszination des Wahnsinns, in: Der Spiegel, 22. 5. 1995.

[6]Ebd.

[7]Nach anderen Quellen hatte sich Asahara bereits 1988 mit der Johannes-Apokalypse beschäftigt.

[8]David E. Kaplan/Andrew Marshall, Aum – Eine Sekte greift nach der Welt, Düsseldorf und München 1996, S. 113.

[9]Martin Repp, Religion und Gewalt im gegenwärtigen Japan – Der Fall Auom Shinrikyo, in: Dialog der Religionen, 6. Jahrgang, Heft 2/96, S. 190 ff.

[10]Repp führt die Radikalisierung von Aum auf die Erfahrung der Ablehnung, beispielsweise bei der Unterhauswahl, zurück. So habe sich Aum seit 1990 radikalisiert. Sicher ist eine Radikalisierung festzustellen, doch bereits im November 1989 werden der Rechtsanwalt Sakamoto, der mit der juristischen Vertretung von Anti-Aum-Gruppen befaßt ist, seine Frau und sein Kind getötet. Eine Aum-Anstecknadel wird in der Wohnung gefunden.

[11]Zitiert nach David E. Kaplan/Andrew Marshall, a.a.O.

[12]Ebd.

[13] Vgl. Robert Jay Lifton, Terror für die Unsterblichkeit – Erlösungssekten proben den Weltuntergang, München 2000, S. 366

[14]Der Spiegel, vom 7. 4. 1997, S. 119.

[15]Ebd.

[16] Zitiert nach: Christoph Kucklick, Hania Luczak, Christopher Reuter, Die Macht der Ohnmächtigen, in Geo 11/2001 S. 112 ff.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19]Lutz Lemhöfer, Was ist eine Sekte?, Hessischer Rundfunk, 2. Programm, 7. 4. 1997.

[20]Vgl.: Werner Huth, Fundamentalismus. Flucht in die Gewißheit, München 1995, das Interview mit Werner Huth in : Psychologie Heute, Februar 1997, S. 30 ff.

[21]Vgl. Robert Jay Lifton, The Future of Immortality and Other Essays for a Nuclear Age, New York, 1987. Die entscheidende Passage für unseren Zusammenhang findet sich bei Steven Jassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 315, 321. Die hier begrauchten Zitate sind dieser Fassuang entnommen.

[22]Robert Jay Lifton, a. a. O.

[23]Sechs-Stunden-Vortrag zitiert nach Eimuth/Oelke (Hg.), Jugendreligionen und religiöse Subkultur, Frankfurt 1979

[24]Robert Jay Lifton in: Steven Hassan, a. a. O., S. 317

[25]Einsichten über die Heilige Schrift, Bd. 2, 1992, S. 236-237

[26]Robert Jay Lifton in: Steven Hassan, a. a. O., S. 319.

[27]Universelles Leben (Hg.), Das ist mein Wort, Würzburg 1991, S. 979 f.

[28]Ebd.

[29]Grundsatzprogramm der Naturgesetz-Partei, die zum Umfeld der TM gehört.

[30]L.Ron Hubbard, Das Handbuch für den ehrenamtlichen Geistlichen, Kopenhaben 1980, S. 761.

[31]Brockhaus-Lexikon, Wiesbaden 1984

[32]Vgl. Kurt-Helmuth Eimuth, Sekten als Wirtschaftsunternehmen in: Christ/Goldner, Sekten in der Wirtschaft, FORUM-Spezial 10, 1996. S. 49.

[33]Robert Jay Lifton in: Steven Hassan, a. a. O, S. 320.

[34]Der Wachtturm. 1. 8. 1960, S. 479 f.

[35]Scientology-Kirche Deutschland, „Freiheit“, Juli/August 1979, zitiert nach Christoph Minhoff/Holger Lösch, Neureligiöse Bewegungen, München 1994, S. 149.

[36]Schreiben vom 2. 2. 1997 von K.S. (Der Name ist dem Autor bekannt).

[37]HCO PL – eine interne Verwaltungsabkürzung bei Scientology – vom 18. 10. 66.

[38]HCO PL vom 21. 10. 68.

[39]Church of Scientology International, Was ist Scientology?, Kopenhagen 1993, S. 583.

Wenn's ums Geld geht

Ehrlich gesagt, so richtig habe ich mich noch nicht an den Euro gewöhnt. Immer noch rechne ich schnell in die gute alte Mark um. Die menschliche Vorstellungskraft ist eben doch an den eigenen Erfahrungshorizont gebunden. Dies ist wohl ein Grund, warum im öffentlichen Bereich so munter drauflos gewirtschaftet wird. Schließlich liegen die Summen jenseits des Vorstellungsvermögens, wenn es um Millionen, vielleicht auch Milliarden geht. Oder können Sie sich vorstellen, dass Militärtransporter für 7 Milliarden Euro, das sind 7000 Millionen, angeschafft werden? Bezogen auf unsere private Bezugsgröße könnten davon etwa 14.000 komfortable Reihenhäuser in Frankfurt gebaut werden.
Der öffentliche Umgang mit Geld scheint allzu sorgenlos. Die jetzigen Haushaltsberatungen in der Stadt zeigen es. Trotz schwindender Einnahmen versuchen die Parteien ihr Klientel zu bedienen. Herauskommen wird vor allem eines: ein Defizit. Nun könnte man auch als Bürger durchaus mal mit einem Kredit leben. Aber wenn die Neuverschuldung immer weiter steigt, stellt man auf Dauer einen ungedeckten Scheck aus, den die nächsten Generationen bezahlen müssen. Nein, so darf es nicht weitergehen. Wir können nicht ständig mehr ausgeben als wir zur Verfügung haben. Und es ist eben Aufgabe des Parlaments, darüber zu entscheiden, ob sich Frankfurt als Kulturhauptstadt Europas bewerben will (geschätzte Kosten 40 Millionen Euro) oder ob eine 12 Millionen teure Olympia-Bewerbung wirklich notwendig ist. Oder ob man dafür Spielplätze in den Kindertagesstätten renoviert. Denn es ist viel Geld in der Stadt: Allein der Kulturetat beträgt 204 Millionen Euro. Das ist ein Vielfaches dessen, was die evangelische Kirche insgesamt für ihre 70 Gemeinden mit ihren 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufwenden kann: 80 Millionen Euro. Auch die Kirche führt derzeit wieder eine Diskussion ums Geld. Es wird eine Rangfolge der Arbeitsbereiche aufgestellt, denn nicht alles, was wünschenswert ist, ist auch bezahlbar. Das Ergebnis dieser Beratungen wird dann auch in dieser Zeitung nachzulesen sein. Es werden Einrichtungen geschlossen, wie das Familienferiendorf Mauloff, oder Gebäude verkauft, wie die Matthäuskirche, aber es werden auch neue Projekte geplant und umgesetzt, wie etwa die Jugendkulturkirche St. Peters. Denn nur wer den Mut zur Entscheidung hat, kann die Weichen für die Zukunft stellen.
Kurt-Helmuth Eimuth
Evangelisches Frankfurt: Februar 2002 · 26. Jahrgang · Nr. 1

Von wegen Kaffetante

Evangelische Fachschule bietet Erzieherinnen eine Ausbildung mit guten Perspektiven

Bild
Selbstbewusstsein und Gelassenheit – auch das lernen die angehenden Erzieherinen in der Evangelischen Ausbildungsstätte. – Foto: Diehl

Die Begeisterung steckt an. Für die offene und freundliche Atmosphäre hier, für die praxisbezogene Ausbildung, für die Toleranz, für die Lehrerinnen und Lehrer, die hinhören können und nachfragen, ob alles in Ordnung ist. „Hier ist alles total menschlich“, sagt Katrin. Sie ist Klassensprecherin der Oberstufe und lacht heute über die Vorurteile, die sie hatte, als sie an der so genannten „Diakonissenschule“ ihre Ausbildung zur Erzieherin begann. „Am Anfang habe ich gedacht, man muss hier erst einmal auf die Knie fallen und den Boden küssen.“
Spätestens nach dem Bewerbungsgespräch war aber auch für Diana, Internatssprecherin der Schule, klar: „Hier können auch Leute hin, die keine Ahnung von Gemeindearbeit haben.“ Persönlichkeit sei gefragt und die Fähigkeit, mit vielen verschiedenen Menschen zusammenzuarbeiten, denn das fordere schließlich auch der spätere Beruf als Erzieherin. „Der Schule kommt es darauf an, dass die Leute unterschiedlich sind“, sagt Internatssprecherin Anne, „und ihre eigene Meinung vertreten“, ergänzt Monika, die Schulsprecherin. Dass Katrin, Diane, Monika und Anne nun hier sitzen, in den Räumen der Evangelischen Ausbildungsstätte für sozialpädagogische Berufe, wie diese grüne Oase mitten in Frankfurt richtig heißt, das ist wie bei den meisten Studierenden Zufall – und bezeichnend für den guten Ruf der Fachschule. Durchs Hörensagen, durch Empfehlungen anderer sind sie hierher gekommen und haben es bis heute nicht bereut. „Hier haben wir auch viel über uns selbst erfahren“, sagt Monika.
Drei Jahre dauert die Ausbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher an der Fachsschule für Sozialpädagogik, zwei Jahre die zur Sozialassistentin oder zum Sozialassistenten an der Berufsfachschule, Voraussetzung für die Erzieherausbildung. Rund 200 Plätze gibt es an den beiden Schulzweigen, 110 Mark kostet die Ausbildung im Monat, im Internat können 28 Schülerinnen wohnen. 17 Fächer und viele Praxisstunden füllen den Stundenplan, von Deutsch und Soziologie über sozialpädagogische Grundlagen und Ökologie bis hin zu Kinder- und Jugendliteratur, Gestaltung und Verwaltung. Zwei Stunden werden die Studierenden zusätzlich in Religionspädagogik unterrichtet und am Ende auch geprüft. Das unterscheidet die „Diakonissenschule“ von staatlichen Einrichtungen und, versichert Schulleiter Kurt-Helmuth Eimuth, erhöht die Chancen der Berufseinsteigerinnen, vor allem bei kirchlichen Einrichtungen ihren ersten Arbeitsplatz zu finden. Schließlich haben sie dann fünf Jahre teilgenommen am spirituellen Leben der Diakonissen, die im Nachbarhaus leben und zum Teil auch unterrichten, haben Andachten vorbereitet und, so Eimuth, „eine bestimmte Form gemeinschaftlichen christlichen Lebens“ kennen gelernt.
Vor allem aber sind die Absolventinnen und Absolventen vorbereitet auf die sich wandelnden Anforderungen und die vielen Arbeitsbereiche, die der Erzieherinnenberuf heute bietet. Aus Kindergärten für Drei- bis Sechsjährige werden zunehmend Kindertagesstätten für Kinder von null bis 12 Jahren, und hochspezialisierte Heime brauchen hochspezialisierte Mitarbeitende. Ob Heim, Hort, Kindertagesstätte oder Psychiatrie – „der Beruf der Erzieherin“, sagt Eimuth, „hat immer Konjunktur“. Und von wegen „Kaffeetante mit lockerem Beruf“, das Vorurteil ärgert die Schülerinnen. Gehört zum Berufsbild heute doch sehr viel mehr: Rechtliches und Psychologisches zum Beispiel, Kreatives und Pädagogisches. „Kinder mögen reicht nicht“, sagt Monika.
Selbstsicherer seien sie während der Ausbildung geworden, gelassener. Vor allem aber: „Die Wertschätzung des eigenen Berufs ist mit dieser Schule erst gewachsen“, sagt Monika, und Anne ergänzt: „Der Beruf der Erzieherin, der ist schon eher eine Berufung.“

Carla Diehl

Evangelisches Frankfurt Dezember 2001

Dem Klangbrei zum Trotz: Das Weihnachtslied überlebt!

Dem Klangbrei zum Trotz:

Das Weihnachtslied überlebt!


Adventsfeiern, Konzerten und nicht zuletzt den Gottesdiensten stemmen sich die Kirchen gegen diese Verflachung ihres Festes. Der Inhalt, aber auch die Geschichte und die Melodien alter und neuer Advents- und Weihnachtslieder werden täglich (2. bis 22. Dezember) von 19.30 Uhr bis 20 Uhr in der Liebfrauenkirche dargeboten. Dort kann man nicht nur evangelische und katholische Kirchenchöre hören, sondern auch Geschichten wie diese erfahren:

Vom Himmel hoch
Heiligabend 1535. Kurz nach Mitternacht. Nur in der Studierstube des Doktor Martin Luther brennt noch eine Kerze. Luther schreibt seine Weihnachtspredigt nieder. Dann lehnt er sich zurück und liest in einem handgeschriebenen Buch. Er liest die Verse: „Ich komm aus fremden Landen her und bringt auch viel der neuen Mär (Nachricht).“ Er liest die Zeilen einmal, zweimal. Dann steckt er noch eine zweite Kerze an, rückt das Tintenfass näher zu sich heran, nimmt den Federkiel und schreibt Zeile um Zeile. Als er fertig ist, hat er den gelesenen Versen einen anderen, einen weihnachtlichen Sinn gegeben: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute, neue Mär; der guten Mär bring ich so viel, davon ich singen und sagen will.“

Ihr Kinderlein kommet
„Das habt ihr aber schön gemacht“, lobt der Kaplan Christoph Schmid 1798 im bayrischen Dorf Thannhausen an der Mindel . „Die Krippe werden wir in der Kirche aufstellen und dann bis zum Dreikönigstag stehen lassen. Da werden eure Eltern Augen machen. Und die Ohren werden sie spitzen, wenn sie das Lied hören, das vor ihnen noch kein Mensch gehört hat.“ Der Kaplan holt einen Zettel aus seiner Brusttasche und liest: „Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all!“ Wenig später schmetterten die Thannhäuser Kinder zum ersten Male nach einer Melodie des Komponisten Johann Abraham Schub das neue Weihnachtslied in die Nacht hinaus.

Stille Nacht, heilige Nacht
In der ganzen Welt kennt man dieses für viele Menschen bedeutendste Weihnachtslied, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug über die Grenzen des Ursprungslandes Österreich antrat. Den Text schrieb der katholische Pfarrer Joseph Mohr und die Noten der Lehrer Franz Xaver Gruber. Zweistimmig zur Gitarre wurde es erstmals in der Christmette des Jahres 1818 gesungen. Der Überlieferung nach streikte die Orgel an jenem Heiligen Abend, so dass die Gitarre zum Einsatz kommen konnte. Sicherlich ist Joseph Mohr einer der wenigen Pfarrer, denen aufgrund eines einzigen Liedes ein Museum gewidmet wurde: das Stille Nacht Museum (www.silentnightmuseum.org) in Salzburg.

Kurt-Helmuth Eimuth
Evangelisches Frankfurt: Dezember 2001 · 25. Jahrgang · Nr. 7

Vom Keltenritual zum Massenspektakel: Halloween

Ein Blick in die Schaufenster reicht: Halloween ist endgültig in Deutschland angekommen. Das Fest der Fabel- und Gruselwesen in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November ist in Amerika schon lange ein nicht mehr wegzudenkendes Verkleidungsfest. Genau wie hier an Fasching schlüpfen die Kinder gerne in andere Kostüme. Und natürlich gehört der Jahreszeit entsprechend der ausgehöhlte und mit einer schrecklichen Fratze versehene Kürbis dazu.

Gruselig, witzig oder kitschig – der Fantasie sind rund um Halloween keine Grenzen gesetzt.

Bestimmte christliche Kreise kritisieren solches Gebaren, da die Wurzeln des Festes auf die Kelten zurückgehen. In dieser Nacht soll das Leben, der Sommer, die Herrschaft für ein halbes Jahr an den Tod, den Winter, abgeben. Man glaubte, dass die Toten sich für ein halbes Jahr lang den Körper eines Lebenden suchen. In jener Nacht soll, so die Vorstellung, die Trennwand der Welt der Toten und der Lebenden besonders dünn sein, weshalb man mit den Toten in Kontakt kommen könne. Im Jahre 837 verfügte Papst Gregor IV., dass an diesem Tag Christen ihre Toten ehren sollten, und setzte Allerheiligen auf den 1. November und am darauf folgenden Tag Allerseelen fest. Das Christentum hatte wieder einmal seine große Integrationskraft bewiesen.
Die Iren brachten den keltischen Brauch mit nach Amerika und nun kehrt er wieder zurück auf den alten Kontinent. Klar, dass sich Marktstrategen diese Chance nicht entgehen ließen. Hersteller von Partybedarf und Dekorationsartikeln haben zwischen Fasching und Weihnachten ein Zwischen hoch entdeckt. Mit Kürbissen, ob aus Keramik oder Plastik, ob mit oder ohne Beleuchtung, mit allerlei gruseligen Accessoires wie Fledermäusen, Spinnen, Skeletten oder Hexen, geben sie einen Trend vor. Und zumindest der Kürbis hat inzwischen längst via Herbst dekoration Einzug in die Häuser gehalten.
Viel sperriger dagegen das Fest der Reformation. Schließlich liegt der Anlass quer zu Verhaltens mus tern der Spaßgesellschaft. Martin Luther soll am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche genagelt haben. Doch dieses für den Protestantismus so markante Ereignis ist historisch umstritten. Ob Luther tatsächlich zu Hammer und Nagel griff, weiß man nicht. Der katholische Lutherforscher Erwin Iserloh weist darauf hin, dass die erste schriftliche Darstellung des Thesenanschlages von Philipp Melanchthon stammt. Dieser konnte jedoch keineswegs Augenzeuge gewesen sein, da er erst 1518 als Professor an die Wittenberger Universität berufen wurde. Auch sei diese Darstellung erst nach dem Tode Luthers erschienen. Belegt hingegen ist, dass Luther am 31. Oktober 1517 Briefe an seine Vorgesetzten schrieb, in denen er den Ablasshandel anprangerte und um die Behebung des Missstandes bat. Den Briefen legte er jene 95 Thesen bei, die als Grundlage für eine Diskussion über das Thema dienen sollten.
Reformationstag und Halloween: Zwei Feste zum selben Datum, aber inhaltlich ganz verschieden. Doch es scheint, als habe sich Halloween in der angeblich so rationalen, modernen Gesellschaft inzwischen durchgesetzt. Und schließlich ist das Gruselfest ein netter Spaß, an dem man sicher auch als Protestant teilnehmen kann. Die Nacht ist ja lang und die Reformationsgottesdienste beginnen schon am frühen Abend.
Kurt-Helmuth Eimuth

Evangelisches Frankfurt: November 2001 · 25. Jahrgang · Nr. 6

Evangelischsein ist eine Lebenshaltung

Kurt-Helmuth Eimuth

Reformationsandacht

Fachschule für Sozialpädagogik

30.10.2001

Orgelvorspiel

Gemeinde: Eingangslied: EG 362, 1-4 Ein feste Brug

Votum:

ich begrüße Sie herzlich zu dieser Reformationsandacht.

Wir feiern diese Andacht im Namen Gottes,

Gott nimmt uns an, wie wir sind.

Im Namen Jesu Christi

er gibt unserem Leben Richtung und Sinn.

Und im Namen des Heiligen Geistes

Er ruft uns auf den richtigen Weg. Amen

Lassen Sie uns im Wechsel den Psalm 143 beten. Er steht im Liederbuch unter der Nummer 755

Gebet

Guter Gott,

wir gedenken deiner Worte und Taten,

mit denen du Menschen Herzen und Gedanken bewegt hast.

Sprich heute zu uns und stärke uns an diesem Tag,

damit neues Leben in uns und durch uns entsteht:

Leben in deiner alt gewordenen Kirche,

Leben in den klein gewordenen Gemeinden,

Leben in der Mitte und an den Rändern

Leben draußen und drinnen.

Dazu sende deinen Heiligen Geist

Amen.

Gemeinde: Lied 341, 1-4 Nun freut euch lieben Christen

Predigt:

Predigttext:

Ich lese aus dem 5. Kapitel des Galaterbriefes die Verse 1-6

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden läßt, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde,

Im Mittelpunkt des heutigen Bibeltextes steht der Abschnitt: „Befreit zur Freiheit“.

„Wir wollen frei sein, um uns selbst zu finden“, heißt es in einem neuen geistlichen Lied. Auch das Lied von Reinhard Mey ist, denke ich, vielen bekannt: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“. Und wenn man Leute fragt, was denn wohl der gute Grund ist, evangelisch zu sein, dann sagen sie: die Freiheit – Evangelische Freiheit.

Eigentlich begann alles mit einem Plakat, einigen Hammerschlägen an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg. Am 31. 10. 1517 schlägt der Augustinermönch und Professor für Bibelwissenschaften ein Blatt mit 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg. Daß diese Hammerschläge nicht nur die Tür, sondern ganz Europa erschüttern werden, das ahnte damals niemand. War dieser Anschlag, doch kein Anschlag auf die römische Kirche, nein, einfach ein Aushang von 95 Thesen zur Frage von Ablaß und Gnade; für die Kollegen an der Universität Wittenberg zum Nachdenken gedacht. Und Wittenberg, das war weiß Gott nicht der Nabel der Welt, ein Provinznest in einer Ecke am Rande des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

Der Anlaß: Ein Dominikanermönch namens Thetzel predigte in den magdeburgischen Nachbarorten Wittenbergs und forderte die Menschen dazu auf, Ablaßbriefe zu kaufen, was ihnen Erlösung aus dem Fegefeuer nicht nur für sich selbst, sondern auch für die verstorbenen Eltern versprach. „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt“.

Dagegen richtet sich der Widerstand in Wittenberg. In These 79 stellt Luther klipp und klar fest: Zu sagen: Das Ablaßkreuz mit dem Wappen des Papstes, prächtig aufgerichtet, habe die gleiche Geltung wie das Kreuz Christi, ist Gotteslästerung.“

Offenbar trifft Luther den Geist der Zeit. Der Protest weitet sich aus:

Im Oktober 1519 verbrennt Luther vor dem Elstertor in Wittenberg das kanonische Recht, welches nach seinem Anspruch göttliches Recht ist. Luther und seine Mitstreiter sagen: Es ist samt und sonders menschliche Erfindung, mehr noch, die Freiheit des Christenmenschen wird durch die Kirche geknebelt.

Ostern 1525: Ein Wagen mit Heringsfässern fährt durch das Stadttor von Wittenberg. In den Fässern sind neun geflohene Nonnen aus dem Kloster Nimbschen. Sie hatten die Lehmwand des Klosters durchbrochen. Draußen warteten zum verabredeten Zeitpunkt die Fluchthelfer. Acht von diesen neun Frauen bringt Luther unter die Haube. Der neunten war der angebotene heiratswillige Kandidat zu geizig.

„Den Luther aber“, sagt sie, „den würde sie wohl nehmen.“ Und Luther – so die Überlieferung – willigt ein, obwohl er schon um die 40 ist und damit rechnet, auf dem Scheiterhaufen zu enden. Schließlich war er ja in Bann und Acht. Übrigens bis heute.

Aus der Ehe zwischen einer Nonne und einem Mönch geht das protestantische Pfarrhaus hervor. Die Absage an den Zölibat wird nicht nur theoretisch gefordert, auch praktisch vollzogen. Und fasse ich den Sinn dieser drei kurzen Schlaglichter zusammen. So geht es um Freiheit.

Freiheit von religiöser Ausbeutung. Freiheit des Wortes Gottes gegenüber menschlicher Erfindung und Freiheit des persönlichen Lebens.

Die Mittel der römischen Kirche hatten ausgedient, ihr unbeweglicher Machtapparat war ganz mit sich selbst beschäftigt. Die Privilegien seiner Funktionäre so kostspielig, daß andere dafür hungern mußten. Pfaffenhaß und groß‘ Geschrei, landauf, landab. Es bedurfte nur noch einer Stimme, die es aussprach. Jemand, der innerlich befreit war. Dem die allgegenwärtige Drohung mit dem zornigen und strengen Gott nichts mehr anhaben konnte. Der überzeugt war, daß Kirche etwas anderes sein muß als des Papstes Finanzamt von Gottes Gnaden. Mit Luther war diese Stimme auf dem Plan. Dem äußeren Kampf war eine harte innere Auseinandersetzung vorangegangen, bevor die Fesseln fielen, die auch sein Gewissen gebunden hatten.

Haben wir sie noch die Freiheit Luthers, unseren Glauben ganz von vorn durchzubuchstabieren? Oder sind wir unfähig geworden zur Selbstkritik wie die römische Kirche zur Zeit Luthers? Ein neues Lied wir heben an … doch die neuen Lieder sind alt geworden. Nach Luther kamen die Lutheraner, nach der Reformation die Konfession.

Wir werden Luther nicht gerecht im Nachbeten seiner Worte. Der Vorgang „Reformation“ zwingt zur Selbstklärung: Eine Kirche ohne Entwicklung gerät in die Abwicklung. Auch zur Selbstklärung gegenüber der Reformation selbst.

Eine Wechselwirkung, die im heutigen Soazialmanagement gerade wiederentdeckt wird. Im Prozeß der Qualitätsentwicklung heißt dieser reformatorische Prozeß: Stillstand ist Rückschritt. Organisationen – auch Schulen – müssen ständig auf die sich verändernden Anforderungen regieren und sich in der Folge ständig verändern.

Aber zurück zu Martin Luther: Er hat uns auf die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens hingewiesen. Der christliche Gott ist ein befreiender und keiner der den Menschen klein macht und mit lauter Angst füllt.

Gestern rief mich eine Kindertagesstättenleiterin an und fragte um Rat, da sich Eltern einer christlichen Gemeinde darüber beschwert haben, dass sie mit den Kindern Haloween feiere. Schließlich erscheine in diesen Masken der Satan. Keine Frage, für diese Eltern ist dies eine reale Bedrohung ihrer Seele. Doch die Botschaft des Evangeliums verstehe ich so, dass wir uns eben frei machen können von solchen Ängsten.

Die Freiheit von religiöser Bevormundung ist unaufgebbar. Nicht Angst und Furcht vor Gott sollen uns den Atem rauben, der von Paulus verkündigte Gott der Gnade soll uns zum Leben befreien. Luther hat es erlebt und in Worte gefaßt. Die Menschen sind ihm nicht gefolgt, weil sie ihm geglaubt haben. Sie haben ihm geglaubt, weil sie gleiches erlebt haben. Aber ist die Frage nach dem gnädigen Gott noch die zentrale Frage der Menschen, mit denen wir heute zusammenleben?

Viele Menschen erfahren Gott nicht mehr und verabschieden sich. Gott selbst muß zu uns reden, dann geschieht Reformation. Von fremden Erfahrungen kann niemand leben. Luther kann uns nicht aus unserer Sprachlosigkeit erlösen, Gott selbst muß es tun.

Die Frage: katholisch oder evangelisch, oder was ganz anderes? Gehört in die Privatsphäre. Niemand von uns muß mehr fliehen, weil er dieser oder jener Konfession angehört. Wir wohnen, wir arbeiten, wir leben zusammen. An der Basis ist die Ökumene längst vollzogen.

Längst haben sich die Kindergärten auf die multireligiöse Wirklichkeit eingestellt. Es ist doch wirklich kein Problem, dass sich in unseren Kindergärten Menschen verschiedener Nationen und verschiedener Religionen begegnen. Wenn es in unserer Gesellschaft soviel Dialog und Begegnung der Nationen und Religionen gäbe wie in den Kindergärten, dann sähe diese Welt anders aus.

Aber es bleiben evangelische Kindergärten. Sie stehen – um es theologisch auszudrücken – in der Nachfolge Jesu. Jesu war ja nun wirklich ein Mensch, der mit allen Gruppen ins Gespräch kam. Gerade er grenzte niemanden aus. Er ging zu den Zöllnern ebenso wie zu den Aussätzigen. Er sprach und diskutierte mit den Pharisäern. Heute würden wir sagen: er pflegte den religiösen Dialog.

Der profilierte interreligiöse Dialog bedarf der religiösen Kontur. Das jeweils eigene Profil ist die Voraussetzung für eine ernsthafte Begegnung. Evangelisches Profil verhindert also nicht die gesellschaftlich notwendige Begegnung, sondern im Gegenteil: Evangelisches Profil befördert den interkulturellen und interreligiösen Dialog. Dies ist in den Kindergärten wie kaum sonst zu sehen. Nirgends sonst leben die Kulturen und Religionen nicht nur nebeneinander, sondern miteinander.

Evangelisch sein ist für mich im Kern eine Lebenshaltung und eben nicht ein dogmatisches Lehrgebäude.

Evangelisch sein, heißt, etwas zu spüren von der Freiheit sich nur nach der Schrift und nach seinem Gewissen zu richten.

Evangelische Freiheit ist Freiheit, die uns von Christus geschenkt wird. Zum Profil des Evangelischen gehört die Einsicht: Kein Mensch, vor allem keine menschliche Macht, darf Übermacht gewinnen über andere Menschen. Der höchste Platz muß frei bleiben für Gott, damit Menschen Menschen bleiben können.

Darauf hat Luther mit seinen 95 Thesen und seiner Lebensgeschichte uns wieder aufmerksam gemacht. Dass wir auf das Evangelium hören, ist die zentrale Botschaft der Reformation. Und dieses galt 1517 ebenso wie im Jahre 2001. Amen

Gemeinde: Lied 572,

Abkündigungen

Pfarrerin: Fürbittengebet

Guter Gott,

wir bitten dich an diesem Tag für uns und für alle,

denen der Mut fehlt, dich zu bekennen.

Schenke die rechten Worte, wenn wir gefragt werden.

Hilf uns zu eindeutigen Taten.

Gib Kraft zu Auseinandersetzungen.

Wehre allen faulen Kompromissen.

Wir bitten dich für uns und alle,

die ihre Freiheit missbrauchen.

Der Maßstab der Freiheit sei deine Liebe.

Sie leitet uns an, den Nächsten zu achten.

So lass uns Grenzen erkennen,

aber auch Grenzen überschreiten.

Schütze alle, die der Willkür ausgeliefert sind.

Stärke alle, die die Knechtschaft bekämpfen.

Fördere in aller Welt Freiheit, die sich deiner Ehre freut.

Wir bitten dich für uns und alle,

die an ihrer Schwäche leiden,

Gib Geduld und Mut.

Zeige dich nahe und verströme deine Liebe.

Richte die Mutlosen auf, und den Verzweifelten gib Aussicht.

Den Sterbenden schenke Vertrauen

Und uns allen deine Gegenwart.

Und was uns noch bedrängt bringen wir vor dich

mit den Worten die Christus uns gelehrt hat:

Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe,

wie im Himmel so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Den Segen Gottes begleite uns diesen Tag. Er wird heute nicht zugesprochen sondern zugesungen

170 Komm Herr segne uns

Religiöse Erziehung für Kinder

Vortrag zum Elternabend in Wiesbaden, Bergkirchengemeinde (23.10.2001)

Marion Eimnuth, Pfarrerin und Dipl.-Religionspädagogin

Religion gehört zum Menschen wie Essen und Trinken, Lachen und Weinen. Ob in der Werbung oder in der Popmusik, überall werden religiöse Symbole verwandt. Die Sehnsucht des Menschen nach einer Antwort auf die existenzstiftenden Fragen ist nach wie vor aktuell.

Kinder haben ein Recht auf Religion. Diese These vertritt der Tübinger Theologe und Pädagoge Friedrich Schweitzer.

Dieser These möchte ich nachgehen. Was heißt dies für Eltern und Erzieherinnen und Erzieher?

Vieles, was angeblich zum Schutz des Kindes geschieht, scheint in Wahrheit eher die Erwachsenen in Schutz zu nehmen – beispielsweise vor Fragen nach dam Tod, den die Erwachsenen am liebsten verschweigen und der den Kindern doch begegnet, oder vor Fragen nach Krankheit, nach Trennung von geliebten Menschen, nach Schmerz und Einsamkeit.

Man kann von fünf großen Fragen der Kinder sprechen, die zum Aufwachsen der Kinder aufbrechen. Das sind Fragen, die entweder die Kinder an uns richten oder mit denen wir uns selbst bei der Erziehung konfrontiert sehen. Es sind große Fragen, weil sie zumindest potentiell nach einer religiösen Antwort verlangen.

Die erste Frage:

Wer bin ich und wer darf ich sein? Die Frage nach mir selbst

Heute wird der Selbstwerdung des Kindes einen hohen Stellenwert eingeräumt. Es wird von einer „Identitätsbildung“ als einer zentralen Entwicklungsaufgabe gesprochen. Dabei sind zwei Aspekte wichtig:

Die eigene Aktivität des Kindes und die unterstützende Anerkennung des Kindes durch andere. Die Selbstwerdung des Kindes ist eine Frage des Vertrauens und damit auch eine Frage der Verlässlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit der Menschen und der Welt, in der das Kind aufwächst.

Auch wenn das Kind nicht ausdrücklich fragt „Wer bin ich?“, bekommt es doch Antworten durch seine ganze Umwelt, den Eltern, den Erzieherinnen, den Freundinnen und Freunden.

Doch nicht alles, was das Kind sein will wird ihm zugesprochen. Trotzphasen und Wutanfälle sind hier deutliche Zeichen dafür, dass es nicht nur darum geht, wer ich bin, sondern eben auch darum, wer ich sein darf.

Gerade eine Erziehung die an der Selbstverwirklichung interessiert ist, muss nach dem Grund fragen. Und genau an diesem Punkt greifen alle bloß sozialen Betrachtungsweisen der kindlichen Selbstwerdung zu kurz. Sie stehen in der Gefahr, das Kind überhaupt zu einem bloßen Produkt seiner Umwelt zu machen.

Zugespitzt und provozierend formuliert: Wo die Eltern keine Instanz anerkennen, die über ihnen steht und vor der sie sich selbst verantworten müssen, wird die Erziehung unfrei.

Natürlich kann auf der anderen Seite aber auch eine falsch verstandene religiöse Erziehung höchst unfrei machen.

Die zweite Frage:

Warum musst du sterben? Die Frage nach dem Sinn des Ganzen

Die Frage nach Tod und Sterben stellen alle Kinder früher oder später.

Was bedeutet der Tod für unser Leben? – Wie auch immer wir diese Frage beantworten, und selbst wenn wir sie nicht beantworten und beiseite schieben, ganz unvermeidlich geben wir damit zu erkennen, wo für uns der Sinn dieses Lebens liegt.

Der Umgang mit dem Tod entscheidet mit darüber, wie wir leben.

Bei dem polnisch-jüdische Pädagogen Janusz Korczak findet sich das Recht des Kindes auf seinen Tod. – was ist damit gemeint? Korczak erläutert es so: „Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht leben“. Tod und Leben des Kindes gehören demnach zusammen. Für heute würde dies bedeuten, dass ein Kind nur wirklich leben kann, wenn die Erwachsenen auch seine Wahrnehmung des Todes und seine Erfahrungen mit Tod und Sterben mit begleiten.

Die Sinnfragen der Kinder beziehen sich auf das, was nach dem Tod kommt.

Nicht-religiöse Antworten auf die Frage nach dem Tod und Sterben sind sicher möglich, aber ob sie dem Kind wirklich weiterhelfen, bleibt offen.

Sicher kann man sagen, dass die Antwortend der Religionen hier eine wichtige Hilfe sein können und dass sie den Fragen des Kindes weit näher kommen, als dies beispielsweise für naturwissenschaftliche Erklärungen behauptet werden kann.

Christliche Antworten auf diese Fragen sind sicherlich, die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. Wer tot ist kann sich geborgen bei Gott fühlen. Dies gibt Hoffnung. Dies kann ein Kind trösten, wenn z.B. das Meerschwein gestorben ist, stellt sich eben diese Frage genauso, wie wenn der Opa stirbt. Sind dann beide bei Gott?

Die dritte Frage:

Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? Die Frage nach Gott

Kinder in unserem Kulturkreis stoßen fast zwangsläufig auf das Wort Gott, selbst wenn sie nicht religiös erzogen werden.

In Kunst und Architektur, in Musik und Literatur, in Geschichte und Politik – in allen diesen Bereichen ist immer wieder von Gott die Rede. Aber brauchen Kinder auch eine religiöse Antwort?

Kinder erfahren ihre Eltern und Bezugspersonen als allmächtige Quellen von Zuwendung und Versorgung. Bei ihnen finden sie Wärme, Schutz und Geborgenheit. Solche Erfahrungen sind mehr als das, was einfach von außen zu sehen ist:

Dadurch machen Kinder schon in der frühesten Zeit ihres Lebens Erfahrungen, die eine religiöse Dimension besitzen und die als Anfänge des Gottesbildes angesehen werden können.

Das Kind erfährt hier nicht nur einzelne Gefühle oder gar Stimmungen, sondern es geht vielmehr um Gefühle, die die gesamte Existenz des Kindes berühren.

Die Erfahrungen, die Kinder machen, die Beziehungen zu ihren Eltern übertragen sie unbewusst auf ihre Beziehung und ihre Vorstellung von Gott.

Fühlen sie sich von ihren Eltern angenommen, können sie auch glauben, dass Gott sie annimmt. Gottes Liebe erhält ihren Ausdruck durch die streichelnde Mutter oder den streichelnden Vater, die das Kind auf den Arm nehmen und auf Fragen eingehen.

Wenn Kinder also nach Gott fragen, müssen wir zuerst versuchen zu verstehen, warum es ihnen geht und welche Vorstellungen sie selber mit ihrer Frage verbinden. Wenn wir dabei Bilder für Gott brauchen ist es wichtig, dass Kinder nicht auf ein Bild festgelegt werden.

Gott ist wie die Sonne, hell, wärmend, schön. Oder: Gott ist wie der Wind – man sieht ihn selber nicht, man sieht nur, was er in Bewegung bringt.

Da fragt ein Kind z.B. was Gott denn zum Abendbrot gegessen hat. Die Eltern antworten, dass Gott nicht isst, weil er keinen Körper hat. „Was?“ ruft das Kind überrascht: „Gehen seine Beine denn bis zum Hals?“

Kinder wachsen schnell. Ebenso schnell verändern sich ihre Gedanken und Fragen.

Wenn wir mit ihnen zusammen nach Gott suchen, dann sollten wir darauf achten, dass ihr Gott mit ihnen wachsen kann. Wir sollten uns davor hüten, sie festzulegen auf ihre Vorstellungen von gestern. Wir sollten uns davor hüten, ihnen unsere Vorstellungen überzustülpen.

Es ist besser, wenn Kinder zu viele Bilder – statt zu wenig haben. Ein Kind kann gar nicht zu viele Bilder von Gott haben.

Wenn Kindern keine religiöse Sprache angeboten bekommen, verbinden sie dann ihre Erfahrungen mit anderen Gestalten aus der Welt der Medien – etwa wie He-Man? Oder bleiben solche Erfahrungen als unkontrollierte Stimmung zwischen Weltschmerz und Euphorie?

Die vierte Frage:

Warum soll ich andere gerecht behandeln? Die Frage nach dem Grund ethischen Handelns

Diese Frage ist eng mit dem Aufwachsen der Kinder verbunden. Denn Kinder stellen uns Erwachsene vor diese Frage: Warum eigentlich erwarten wir von ihnen, dass sie andere nicht verletzen, dass sie sich fair verhalten und niemand benachteiligen, vielleicht sogar für Schwache eintreten usw.?

Wer Kindern zu erklären versucht, warum dies besser sei, stößt bald auf Grenzen.

Es sind eher die Erwachsenen, die den Kindern ihr Weltbild, ihre Lebenseinstellung, ihre ethische Einstellung nahe legen.

Weil andere Menschen, Tiere oder auch die Dinge in bestimmter Weise wahrgenommen werden, sind sie auch rücksichtsvoll zu behandeln. Weil sie geachtet werden, soll ihnen auch achtsam begegnet werden usw. Hier sind die Motive für ethische Erziehung: Lebenseinstellungen und Lebenshaltungen, Bilder und Deutungen der Welt. 

Ethisches Handeln im christlichen Sinne beinhaltet Diakonie. Sozial Ausgegrenzte, behinderte und arme Menschen sollen integriert werden. So wie Jesus immer für die Ausgegrenzten da war, zu ihnen ging, sie als Menschen achtete, als Geschöpfe Gottes, so eben sollen auch wir unser Handeln danach ausrichten.

Die fünfte Frage:

Warum glauben manche Kinder an Allah? Die Frage nach der Religion der anderen

Schon im Kindergarten kommt es zu ersten Begegnungen mit anderen Religionen und Konfessionen. Auch hier müssen Kinder mit ihren Fragen begleitet werden.

Eine Begleitung der Kinder bei interreligiösen Begegnungen wird dann aber nicht nur die Einsicht in die religiöse Vorstellungen der anderen einschließen – sie wird auch auf die Fragen achten müssen, die dabei für das Kind selbst aufbrechen können. Wenn Kinder wissen sollen, warum manche Kinder an Allah glauben, so schließt dies auch die Frage nach dem Glauben der eigenen Familie ein: „Und was sind wir? Was glauben wir?“

Zum christlichen Umgang gehört Toleranz. Deshalb ist es nicht nur eine rechtliche Vorschrift, dass in der evangelischen Kindertagesstätte Kinder aller Religionen aufgenommen werden. Es ist vielmehr ein Gebot christlicher Nächstenliebe und Gastfreundschaft,  auf die Bedürfnisse anderer Religionen einzugehen. Als besonderer Teil der Gemeinde ist der Kindergarten der Ort, an dem sich viele Nationen, Religionen und Konfessionen treffen und miteinander leben. Hier praktizieren Kinder Toleranz, lernen andere religiöse Traditionen und Riten kennen und üben den verständnisvollen Umgang mit dem „Fremden“.

Zum Aufwachsen der Kinder gehören diese fünf Fragen und sie verlangen nach einer religiösen Antwort. Religiöse Erziehung ist nicht bloß ein Interesse von Kirche, sondern eine wichtige Dimension aller Erziehung..

Die Angst, dass religiöse Erziehung zur „Gottesvergiftung“ führen könne, ist weit verbreitet. In aller Regel geht es um eine unfreie Erziehung, die sich auf Gott beruft, um das Kind in subtiler Weise zu kontrollieren und zu manipulieren. Am bekanntesten ist die Vermittlung von Strafängsten (Der liebe Gott sieht alles!). „Gottesvergiftung“ steht symbolisch für eine religiöse Erziehung mit Gott als allmächtiger Überwachungs- und Beurteilungsinstanz, die von Erwachsenen mehr oder weniger bewusst eingesetzt wird.

Die gesunde Entwicklung des Kindes ist offenbar auch dann bedroht, wenn nicht zuviel, sondern zuwenig religiös erzogen wird und wenn religiöse Erfahrungen sprachlos bleiben und nicht mehr mit anderen geteilt werden können. Neben die „Gottesvergiftung“ stellen wir deshalb als Zweites die nicht weniger ernst zu nehmende Warnung vor einem religiösen „Kaspar Hauser“-Syndrom.  Kaspar Hauser steht auch hier für das Kind, dem die elementare Unterstützung und Begleitung seines Aufwachsens vorenthalten bleibt. Es steht für das Kind, das nicht zur Sprache findet, weil andere nicht zu ihm und nicht mit ihm sprechen.

Für die Kinder kommt es darauf an, was sie bei uns kennen lernen, weniger in den Antworten auf ihre Fragen, als vielmehr in der Weise, wie wir selber und mit ihnen zusammen leben. Es kommt darauf an, ob sie uns als Fragende, Suchende, für das unsichtbar „Göttliche“ um uns und in uns offene Frauen und Männer erleben. Es kommt darauf an, ob wir unsere Kinder sogar erfahren lassen, dass ihre Fragen uns selber wieder in Bewegung setzen und Anstöße geben.

Biblische Geschichten sind Hoffnungsgeschichten, die für die Selbstwerdung des Kindes eine elementare Bedeutung gewinnen können, weil sie eine hoffnungsvolle Zukunft eröffnen.

Christliche Feste, Beten und Singen, kleine Rituale und besondere Gottesdienste für Kinder und ihre Familien lassen etwas von christlicher Spiritualität erleben.

„Hallo, Mister Gott…“ ist der Titel eines Buches, der die Geschichte von Anna erzählt, einer fünfjährigen, die Fynn, ein Mathematikstudent in den Londoner Docks aufgelesen hat und nun bei ihm und seiner Mutter lebt.

Bei ihren Gesprächen kommen sie immer wieder auf Mister Gott. Anna hat oft die richtigen Einfälle, so auch hier zu Gottes Liebe.

„Fynn, du hast mich lieber als irgendwer sonst, und ich hab dich auch lieber als irgendwer sonst. Aber mit Mister Gott ist das anders. Siehst du Fynn, Leute lieben von außen rein, aber Mister Gott liebt dich innen drin und kann dich von innen küssen, darum ist es anders. Mister Gott ist nicht wie wir. Wir sind bloß ein bisschen wie er. Aber nicht sehr viel.“

Sie sehen, Anna, braucht keine weisen Definitionen zum Gottesbegriff. Gnade, Liebe, Gerechtigkeit sind doch nur schwache Stützen das Unbeschreibbare zu beschreiben. Anna brauchte solche Stützen nicht.

Halloween: Kritik von kirchlicher Seite

Halloween drängt auf den Markt. Ein Blick in die Schaufenster genügt: Kaum ist es Herbst geworden, lugen ausgehöhlte Kürbisse mit Fratzengesichtern, Gespenster und Hexen, Spinnen und Skelette aus allen Ecken. Halloween, das Fest der Fabel- und Gruselwesen, drängt seit einigen
Jahren immer stärker aus Amerika auf den alten Kontinent. In Deutschlan hat das weltliche Spektakel jedoch heftige geistliche Konkurrenz: Der evangelische Reformationstag am 31. Oktober, die katholischen Feste Allerheiligen (1. November) und Allerseelen (2. November) sind ernstem Gedenken gewidmet. In katholischen Gegenden gehört der Besuch auf dem Friedhof zum Auftakt des düsteren Monats November, werden die Gräber geschmückt und Ewige Lichter entzündet. Aber auch Halloween, eigentlich „All Hallow´s Eve“, das in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November
inzwischen sogar mit Kostümpartys und Gespenstershows gefeiert wird, hängt mit dem Gedenken an die Toten zusammen. Allerheiligen hat, wie viele christliche Feste, einen heidnischen Ursprung: Schon die Druiden wollten in dieser Nacht die Grenze zwischen Lebenden und Toten aufgehoben wissen. Zum
Ende des Sommerhalbjahres sollte das Leben nun für ein halbes Jahr die Macht an den Tod, den Winter, abgeben. Schon früh sah die christliche Kirche eine Chance, diesen heidnischen Feiertag in das Gedenken an die Gemeinschaft der Heiligen umzuwidmen. 837 verfügte Papst Gregor IV., dass die Christen an diesem Tag ihre Toten ehren sollten. Seither wird Allerheiligen und Allerseelen an den ersten beiden Novembertagen begangen. Die Iren brachten den keltisch-christlichen Brauch schließlich nach Amerika, wo er bald einen fröhlicheren Akzent bekam. Die spielerische, eher lustige Kehrseite des
Umgangs mit dem Tod, sicherte Halloween in Amerika schon früh einen festen Platz im Jahresreigen. So beschreibt es der aus den USA stammende Frankfurter Pfarrer Jeffrey Myers. Aus manchen christlichen Kreisen in Deutschland ist dagegen Kritik an dem heidnischen Treiben zu hören, wie der langjährige Sprecher der evangelischen Kirche in Frankfurt, Kurt-Helmuth Eimuth, weiß. Denn nicht nur das katholische Allerheiligen, auch der Reformationstag muss sich gegen den Verkaufsschlager Halloween behaupten. „Das Fest der Reformation ist sperriger, der Anlass liegt quer zu
Verhaltensmustern der Spaßgesellschaft“, begründet Eimuth die Ablehnung. Der Reformator Martin Luther soll am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche genagelt haben. Doch das für den deutschen Protestantismus so wichtige Ereignis ist durchaus umstritten. Viele
Historiker bezweifeln, dass Luther tatsächlich zu Hammer und Nagel griff. Belegt ist allein, dass Luther an diesem historischen Tag Briefe an seine Vorgesetzten schrieb, in denen er den Ablasshandel anprangerte. Diesen Briefen legte er, quasi als Diskussionsgrundlage, seine 95 Thesen bei. So
ist der Reformationstag in den Augen seiner Kritiker nicht der richtige Tagfür eine angelsächsische Variante des deutschen Faschings. Dieser hat ebenso heidnische und christliche Wurzeln, als letztes Aufbäumen vor der strengenFastenzeit bis Ostern. Doch für Pfarrer Myers ist es keine Frage, dass man
auch hier zu Lande fröhlich in den November starten darf. Die Fantasie-Welt, die Freude am Verkleiden, das Gemeinschaftsgefühl beim Kürbisschnitzen, aberauch die Gespräche über Angst und Vertrauen seien „gesund und munter in dieser besonderen Nacht“. Und Protestant Eimuth empfiehlt mit einem
Schmunzeln auch Christen die Teilnahme am Geistertreiben: „Schließlich ist die Nacht lang und die Reformationsgottesdienste beginnen schon am frühen Abend.“

von Doris Wiese-Gutheil Frankfurt/Main (dpa/lhe)

Oktober 2001