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Wenn der Schwächere gewinnt: Podium zum Thema „Opfer“

Wenn der Schwächere gewinnt: Podium zum Thema „Opfer“

Diskutierten über Schwachsein, Gewinnen und Opfersein (von links nach rechts: Horst Arnold, Holger Schlageter, der Moderator Wolfgang Weißgerber, Volker Jung und Gabriele von Lutzau. Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Seine Geschichte ist unglaublich. Fünf Jahre lang saß der Lehrer Horst Arnold unschuldig in Haft. Eine Kollegin hatte ihn der Vergewaltigung beschuldigt, doch nach seiner Entlassung konnte er seine Unschuld beweisen. Haft, Wiederaufnehmeverfahren und Freispruch wegen erwiesener Unschuld dauerten über zehn Jahre. Jetzt möchte Arnold nur eines: ein normales Leben führen. Derzeit lebt er von Hartz IV. Bewerbungen für den Schuldienst waren bisher erfolglos. „Als Sieger fühle ich mich noch lange nicht“, stellte er auf dem Podium im Evangelischen Medienhaus Frankfurt fest. Allen ist klar, dass dieser Mann noch einen weiten Weg vor sich hat.

Unter dem Titel „Wenn der Schwächere gewinnt“ hatte das Medienhaus zu einer Diskussion über die Bedeutung des Karfreitags eingeladen. Wie Kirchenpräsident Volker Jung erläuterte, wolle die Kirche einen inhaltlichen Akzent setzen, angesichts der öffentlichen Kontroverse, zu der das gesetzliche Tanzverbot an diesem christlichen Feiertag im vergangenen Jahr geführt hat. „Es gibt großen Gesprächsbedarf“ sagte Jung. Das Kreuz sei ein Zeichen der Überwindung des Todes, das Victory-Zeichen als Plakatmotiv richtig gewählt. Jesus habe sich immer an die Seite der Opfer gestellt. In Krisensituationen könnten Bilder der Bibel Menschen helfen. Jung: „Ich habe Menschen erlebt, die das als Kraftimpuls aufnehmen konnten.“

Gabriele von Lutzau zum Beispiel. Sie hat im Moment der größten Angst „einfach reagiert“. „Ich habe nicht überlegt“, erzählt die ehemalige Stewardess, die 1977 war sie an Bord des von einem palästinensischen Terrorkommando entführten Flugzeugs „Landshut“ war. Die als „Engel von Mogadischu“ bekannt gewordene Flugbegleiterin spendete damals den als Geiseln genommenen Passagieren Mut und Trost: „In diesem Moment habe ich selbst das Vater Unser nicht mehr zusammenbekommen. Wir sollten sterben. Aber wir haben nicht aufgegeben.“

Für den Psychologen Holger Schlageter ist solch eine Haltung nachvollziehbar. Der Mensch könne sich als Opfer ohnmächtig fühlen oder aufgrund seiner Persönlichkeit auch mächtig. Dann wehre er sich. Deshalb sei auch das Gefühl der Rache wichtig. „Wir sind viel zu weit in Richtung Aggressionslosigkeit gegangen“, glaubt der Psychologie. Aggression sei wichtig im Handeln. Denn: „Ich bin nicht Opfer, ich werde Opfer“. Es sei wichtig, das Geschehen zu verstehen. „Erst wenn man ein Etikett auf das Geschehen kleben kann, ist die Heilung abgeschlossen.“

Kurt-Helmuth Eimuth

Evangelisches Frankfurt

Evangelische in Spitzenämtern

Evangelische in Spitzenämtern

Als Pfarrer Joachim Gauck von einer breiten Koalition fast aller Parteien für das Amt des Bundespräsidenten nominiert wurde, rückte sein Beruf in die Mitte des Interesses. Hat die evangelische Kirche zu viel Einfluss in der Politik? Zumal mit Angela Merkel bereits eine Pfarrerstochter Kanzlerin ist.

Bei der Suche nach geeigneten Personen neben Gauck waren ja auch noch viele andere prominente Protestantinnen und Protestanten im Gespräch: der frühere Bischof Wolfgang Huber, die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Katrin Göring-Eckhardt, oder auch Margot Käßmann. Was jetzt in Berlin für Verblüffung sorgte, hat in Frankfurt schon eine lange Tradition – führende Protestanten in politischen Spitzenfunktionen. So war der langjährige Bürger­meister Hans-Jürgen Moog (CDU) auch Versammlungsleiter des Frankfurter Kirchenparlaments. Christof Warnke (CDU) gehörte nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst als Pfarrer ehrenamtlich dem Magistrat an, genauso wie Jean-Claude Diallo (Grüne), der als Fachbereichsleiter des ­Evangelischen Regionalverbandes auch Dezernent für Multikulturelle Angelegenheiten war. Volker Stein (FDP) war sogar stellvertretender Vorsitzender des Verbandes, als er Dezernent wurde. Und derzeit gehört Verkehrsdezernent Stefan Majer (Grüne) dem Vorstand des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt an.

Jahrelang sprach die Sozio­logie vom „schleichenden Bedeutungsverlust“ der beiden gro-ßen Kirchen. Ihre Mitgliederzahl schrumpft schließlich kontinuierlich. Markiert der politische Einfluss führender Protestanten eine Trendwende? Eher nicht. Paradoxerweise bestätigen die jetzt geführten Diskussionen eher die These – denn wäre es normal, protestantisch zu sein, müsste man nicht darüber reden.

Zwar traut man der evangelischen Kirche in ihrer weltlichen Offenheit eine gewisse moralische Autorität und Ehrlichkeit zu, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ein Vermittlungsproblem hat. Nach einer vom Hessischen Rundfunk in Auftrag gegebenen Studie „Was glauben die Hessen?“ gelingt es ihr nicht, zentrale Glaubensüberzeugungen selbst ihren eigenen Mitgliedern zu vermitteln. Die Säkularisierung und damit

der wachsende Bedeutungsverlust beider Kirchen wird also weitergehen – trotz protestantischer Top-Politiker. Und auch wenn angesichts boomender Esoterik und zahlreicher Wiedereintritte manche von einer Renaissance der Kirche träumen: Es sinkt nicht nur die Zahl der Mitglieder, sondern auch die Bindefähigkeit.

Diesen Trend kann auch Joachim Gauck nicht stoppen. Aber Charisma, Ehrlichkeit und klare Werte im Schloss Bellevue zu wissen, ist für alle Deutsche, gleich welcher Religion sie angehören, ein Gewinn.

Kurt-Helmuth Eimuth

Evangelisches Frankfurt April 2012

Pucken – zum Wohl des Kindes?

Glaubt man Ratgebern, Hebammen und Kinderärzten, verhilft enges Einwickeln Babies zu mehr Schlaf und weniger Weinen. Ein Erfahrungsbericht.

„Habe ich euch schon gezeigt, wie man puckt?“ Ein wenig skeptisch sehen wir dabei zu, wie die Hebamme unseren zwei Wochen alten Sohn auf ein Tuch legt und damit beginnt, es stramm um den kleinen Körper zu wickeln. Wenige Handgriffe später liegt unser Kleiner als kompaktes handliches Paket auf dem Sofa, die Arme sind am Körper fixiert, lediglich die Beine haben noch ein wenig Bewegungsfreiheit.

„Wenn es so toll für Babys ist, dann sollten wir es auf jeden Fall mal probieren“, hatten wir uns gedacht, als der Begriff „Pucken“ während der Schwangerschaft zum ersten Mal unseren Weg kreuzte. Aber jetzt liegt unser Kind protestierend vor uns, verzweifelt bemüht es sich, gegen seine Zwangsjacke anzukämpfen und findet Pucken ganz offensichtlich überhaupt nicht toll. Schnell befreien wir ihn aus dem Tuch, Erleichterung macht sich breit, nicht nur bei ihm, auch bei uns.

„Ich würde das auch nicht mögen“, sagt mein Mann. „Mir war das irgendwie auch nicht so geheuer“, sage ich. Aber trotzdem hatten wir nicht bereits vorher Widerspruch eingelegt. Schließlich hatten ja so viele so genannte Experten das Pucken angepriesen. Und als frischgebackene Eltern waren auch wir unsicher, hatten wenig bis keine Erfahrung im Umgang mit einem so kleinen Baby.

Wie alle Eltern wollten natürlich auch wir nur das Beste für unser Kind: glücklich und zufrieden sollte es sein, seine Bedürfnisse sollten erkannt und befriedigt werden.

Als falsch stellte sich schon bald die Vorstellung heraus, dass ein zufriedenes Kind automatisch auch pflegeleicht sein würde. Ein Baby, das abgelegt werden kann ohne unzufrieden zu sein, und das überhaupt die meiste Zeit schläft, und praktisch nie weint – das hätte in der Tat vieles, auch Berufstätigkeit, Studium oder Betreuung durch andere leichter gemacht.

Nicht umsonst zielen wohl die meisten Anleitungen so genannter Erziehungsprogramme auf genau diese Punkte ab und versprechen den Eltern so indirekt mehr persönliche Freiheit und Raum für andere Aufgaben und Interessen. Kleine Kinder, jedenfalls alle uns bekannten, sind aber nicht in diesem Sinne „pflegeleicht“. Sie fordern von ihren Eltern nicht weniger, als sich ganz auf sie und ihre Bedürfnisse einzulassen.

Kein Wunder, dass Methoden wie das Pucken, die vordergründig mit dem Wohl des Kindes argumentieren, dabei aber vor allem auf „Entlastung“ der Eltern abzielen, so anziehend sind. Auch wir waren schließlich geneigt, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, obwohl wir gar kein „Schreibaby“ hatten.

Der Protest unseres Sohnes gegen das stramme Wickeln, der Widerstand, den auch andere Kinder gegen solche und ähnliche Programme zeigen, und die Zweifel, die uns selbst ja schon während der Ausführung kamen, verdeutlichen aber vielleicht eine Sache am besten: dass Kinder ihr Grundbedürfnis nach Nähe, Geborgenheit, Liebe und Nahrung einfordern, weil es für sie überlebenswichtig ist. Und dass Eltern genau das normalerweise auch erkennen und befriedigen wollen.

Wir wussten ja eigentlich, dass unser Sohn lieber getragen werden wollte, statt hilflos herumzuliegen, unfähig sich umzudrehen, geschweige denn sich von der Stelle zu bewegen, nicht wissend, dass wir nur wenige Schritte entfernt sind. Nur leider kann die Stimme, die das elterliche Einfühlungsvermögen und Bauchgefühl verkündet, nicht immer gegen den Lautsprecher der „Experten“ durchdringen.

Enges Wickeln schränkt Babies ein

„Pucken engt Babys ein? Nein, im Gegenteil: Pucken gibt Babys ein sicheres und geborgenes Gefühl, wie im Mutterleib.“ Das behauptet die Zeitschrift „Eltern“ auf ihrer Internet-Seite. Dahinter steckt die Annahme, dass Kinder eigentlich noch zwei bis drei Monate länger im Mutterleib verbringen müssten und die menschliche Geburt nur aus Platzgründen eingeleitet würde – sozusagen ein Fehler im natürlichen Bauplan der Fortpflanzung. Auch wenn es schwer fällt, dieser These zu folgen, so verbreitet sie sich doch seit einiger Zeit wie ein Lauffeuer. Übersehen wird dabei, dass ein Kind schon in den ersten Lebenswochen gigantische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen hat. Es muss seine Körperfunktionen umstellen und sich an die neue Umgebung gewöhnen. Der Säugling atmet jetzt selbst, muss seine Ernährung regeln und sich mit der völlig ungewohnten Schwerkraft auseinandersetzen.

Die Eltern lernen in den ersten Wochen nach der Entbindung ihr Kind kennen. Jedes Kind hat seine eigene Art, wie es gerne gehalten, ernährt und gewickelt werden will. Das enge Wickeln ist dafür eher hinderlich. Viele Eltern spüren, dass die körperliche Nähe den Kindern und auch ihnen selbst gut tut. Säuglinge haben nicht nur einen gut entwickelten Geruchssinn sondern spüren auch, ob sie von Vater, Mutter oder einer fremden Person gehalten werden.

Jedes Kind ist einmalig und findet seine ganz eigenen Ausdrucksformen, die oft nur Vater und Mutter verstehen. Eng gewickelten Kindern wird ein Teil dieser Ausdrucksmöglichkeiten genommen.

Wickelmethoden ändern sich je nach Kultur

Das heutige „Pucken“ ist eine uralte Wickelmethode. Schon in antiken Gräbern fanden sich Statuen von eng gewickelten Säuglingen. Durch das feste Wickeln wollte man einer Verkrümmung vorbeugen.

Mit der Aufklärung im 17. Jahrhundert änderte sich die Einstellung. Kinder sollten nicht durch die Kleidung eingeengt werden. In bäuerlichen Gegenden hielten sich jedoch noch länger Formen der Einschnürung, die praktisch war, weil man so die Kinder neben dem Acker ablegen konnte. Gelegentlich wurden die Kinder auch durch Mohnsäckchen, auf denen sie herumkauen konnten, oder mit etwas Schnaps betäubt, damit sie Ruhe hielten, während die Eltern auf dem Feld schufteten.

In Afrika, Asien und Südamerika tragen viele Mütter ihre Säuglinge nackt am Körper. Sie nutzen dabei einen Mechanismus der Natur: Einige Sekunden bevor der Säugling Urin und Stuhl ausscheidet, stößt er einen charakteristischen Schrei aus und macht mit dem Körper und den Beinchen ruckartige Bewegungen. So ist die Mutter gewarnt und kann den Säugling weit genug weghalten, damit sie nicht beschmutzt wird. Auch hierzulande geborene Kinder zeigen anfangs dieses Verhalten, aber da nicht darauf reagiert wird, verliert es sich schon nach wenigen Wochen.

Kurt-Helmuth Eimuth, Sara Wagner

Evangelisches Frankfurt April 2012

Nicht nachlassen, Herr Becker!

Evangelisches Frankfurt März 2012

Kurt-Helmuth Eimuth ist Leiter der Redaktion von „Evangelisches Frankfurt“. Foto: Rolf Oeser 

Der Ausbau der Kinderbetreuung geht langsamer voran als geplant. Die Gründe sind vielfältig, auch nachvollziehbar und doch kann das Eltern nicht trösten, die verzweifelt einen Betreuungsplatz für ihr Kind suchen. Besonders prekär ist die Lage in Frankfurt bei den ganz Kleinen und den Großen: Vor allem Krippen- und Hortplätze sind rar.

Grund ist der Geburtenanstieg und der Zuzug junger Familien nach Frankfurt: Jedes Jahr wächst die Zahl der Kinder um etwa 400. Frankfurt ist eben eine Kinderstadt. Und das nicht nur in den Neubaugebieten wie etwa dem Riedberg. Besonders beliebt bei jungen Familien sind auch das Nordend, das Ostend und Sachsenhausen.

In der Summe hat die Stadt seit 2003 bereits weit über 8.000 Kinderbetreuungsplätze neu geschaffen. Eine gewaltige Anstrengung und ein gewaltiges finanzielles Engagement. Jetzt hat der Kämmerer die Reißleine gezogen. Nicht mehr für jedes zweite Kind soll ein Krippenlatz zur Verfügung stehen, sondern nur noch für vierzig Prozent. Mit Recht kann Uwe Becker auf die fehlenden Immobilien, auf fehlende Fachkräfte und auf die erschöpfte Bundesförderung verweisen. Ist zwar nachvollziehbar, war aber vorhersehbar.

Es bleibt also die Frage: Wie will die Stadt den Rechtsanspruch auf eine Betreuung auch der Jüngsten ab dem 1. August 2013 erfüllen? Oder wird sich die Politik aus der Verantwortung stehlen, in dem sie schnell noch eine Übergangsregelung erlässt? Eltern und Gesellschaft haben ihre Einstellung zur Kinderbetreuung in den letzten Jahren verändert. Die hohe Akzeptanz wird dazu führen, dass selbst die jetzt nicht erfüllten Planzahlen dem tatsächlichen Bedarf hinterherhinken.

Die familiäre Planung geht heute davon aus, dass nach der Elternzeit ein Krippenplatz, dann ein Kindergartenplatz und mit der Einschulung eine entsprechende Betreuung in der Schule oder im Hort zur Verfügung steht. Nur so kann eine Berufstätigkeit beider Eltern ermöglicht werden.

Eine Gesellschaft, die demnächst unter einem dramatischen Fachkräftemangel leiden wird, kann es sich nicht leisten, Eltern hier kein attraktives Angebot zu machen. Wir brauchen mehr und wir brauchen sehr gute Kinderbetreuungseinrichtungen. Hier darf nicht gespart werden. Der Kinder wegen, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen. Nachlassen, Herr Becker, gilt nicht.

Kurt-Helmuth Eimuth

Kirche muss sich auf Veralterung einstellen

Kirche muss sich auf Veralterung einstellen

Winfried Kösters beim Tag der Offenen Tür im Evangelischen Regionalverband Frankfurt. Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Die Gesellschaft wird bunter und älter, aber auch kleiner: Der demografische Wandel erzeugt eine in der Geschichte der Menschheit einmalige Situation. Der Anteil der Über-65-Jährigen steige stetig, sagte der Wissenschaftsjournalist Winfried Kösters gestern beim Tag der offenen Tür des Evangelischen Regionalverbandes, und: „Die Zahl der verkauften Inkontinenzwindeln übersteigt schon heute die Zahl der Baby-Windeln.“

Auch wenn Frankfurt im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschland eine sehr „junge“ Stadt sei, so müsse doch die evangelische Kirche ihre Zukunft mit älter werdenden Mitgliedern gestalten. Und obwohl in Frankfurt – wie in anderen Metropolen auch – noch relativ viele jüngere Menschen leben, altere auch hier die Bevölkerung im Schnitt.

Kösters zeigte auf, dass der demografische Wandel alle Bereiche des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens betrifft: Kirchengebäude müssten für Menschen mit Rollatoren zugänglich sein. Das Engagement von und für alte Menschen müsse überdacht werden. Die heutigen Rentner und Rentnerinnen seien sehr unterschiedlich. Es komme ja auch niemand auf den Gedanken, bei einem 22-Jährigen und einem 44-Jährigen von ein und derselben Generation zu sprechen. Der 62-Jährige werde aber ebenso wie der 84-Jährige in die Kategorie „Senior“ sortiert.  Die Generation der älteren Menschen müsse viel differenzierter wahrgenommen werden.

Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt werde die Veränderung spürbar, so Kösters: „Wir brauchen jedes Kind.“ Trotzdem würden in Deutschland jedes Jahr 65.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Auch die Alten müsse man im Berufsleben anders in den Blick nehmen. In wenigen Jahren bereits werde jeder zweite Beschäftigte älter als 50 Jahre sein. Und man brauche die Potenziale der zugewanderten Menschen. Zudem gebe es auf einem veränderten Arbeitsmarkt auch Chancen für Menschen mit Behinderung.

Die demografische Entwicklung spiegelt sich auch im kirchlichen Personal wider. Zwei Drittel aller Pfarrerinnen und Pfarrer gehen in den kommenden 13 Jahren in Pension, führte Franz Grubauer von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau aus. In der Mitarbeiterschaft Frankfurter evangelischen Kirche sind es 39  Prozent. Die Zahl der Kirchenmitglieder werde gleichen Zeitraum in Frankfurt um gut zehn Prozent schrumpfen, im Rhein-Main-Gebiet sogar um 17 Prozent.

Kurt-Helmuth Eimuth

Evangelisches Frankfurt 3.März 2012 via facebook

Appetithäppchen – 500 Jahre Kirchenmusik

500 Jahre Kirchenmusik an Beispielen

Als Appetithäppchen für das Jahr der Kirchenmusik hat Georg Magirius dieses kleine Buch zusammengestellt. 500 Jahre Kirchenmusik auf nur 48 Seiten unterzubringen ist sicher kein leichtes Unterfangen, zumal in einem Band, der auch mit Bildern und Grafiken Lust auf mehr macht.

Martin Luther steht natürlich am Anfang. Für ihn ist das Evangelium eine „gute Botschaft, davon man singet und saget und fröhlich ist“. Deshalb dichtet und komponiert er selbst. Neben Luther greift der Autor die wichtigsten Künstler heraus, die jeweils stellvertretend für eine Facette der Kirchenmusik stehen: Heinrich Schütz vertritt die Chormusik, Paul Gerhardt die Dichtung. Bei der Darstellung von Johann Sebastian Bach liegt der Schwerpunkt auf seinen Orgelwerken. Johannes Kuhlo findet wegen seiner Posaunenarbeit Beachtung, und der Frankfurter Texter Friedrich Karl Barth schließlich steht für die Moderne.

Friedrich Karl Barth hat in den 1970er Jahren die Frankfurter Beratungsstelle für Gottesdienste im Haus am Weißen Stein in Eschersheim geleitet. Zahlreiche seiner Lieder haben Eingang in das Evangelische Kirchengesangbuch gefunden, darunter Hits wie „Komm bau ein Haus“, „Brich mit den Hungrigen dein Brot“, „Wir strecken uns nach Dir“ und das wohl am meisten gesungene Tauflied „Kind, du bist uns anvertraut“.

Gemeinsam mit Peter Janssens war Barth an der Entwicklung einer neuen kirchlichen Musiksprache wesentlich beteiligt. Es war auch Friedrich Karl Barth, der mit der Form der Liturgischen Nacht den damals darbenden Kirchentag wiederbelebte.

Georg Magirius lässt, so der Verlag, „seine Texte leicht dahinfliegen. Sie informieren ohne je belehrend zu sein.“ Dem kann man nur zustimmen. Mit dieser Reihe haben Verlag und Autor Maßstäbe für ebenso ansprechend wie informative kleine Bände gesetzt, die sich auch gut zum Verschenken eignen.

Georg Magirius: Meister der Kirchenmusik, 48 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen. Agentur des Rauhen Hauses 2012, gebundene Ausgabe 4,99, Taschenbuch 3 Euro.
Kurt-Helmuth Eimuth

Viele kleine Gruppen mit sektenähnlichen Zügen

Neuer Vorstand für Anti-SektenvereinSinus Vorstand

Nach Ansicht des neuen Vorsitzenden des Anti-Sektenvereins SINUS konnte zwar in den letzten Jahren das Wirken der Großsekten eingedämmt werden, aber es seien weiterhin zahlreiche kleine Anbieter von Heilslehren mit sektenhaften Strukturen unterwegs. „Scientology als totalitäres System ist weitgehend eingedämmt aber es gibt eben viele Anbieter, die eher ihr eigenes Wohlergehen als das ihrer Anhänger im Sinn haben“, sagt der Conny von Schumann, Vorsitzender von SINUS- Sekteninformation und Selbsthilfe Hessen e.V. Als Beispiel benannte der Sozialpädagoge die Angebote des Esoterik-Marktes. Die ebenfalls neu gewählte stellvertretende Vorsitzende Marion Eimuth hob die Bedeutung der Beratungsaktivität von SINUS hervor. SINUS gelingt es, Betroffene und deren Angehörige zu beraten. Dies sei um so erstaunlicher, da der Verein seit zwei Jahrzehnten ausschließlich vom ehrenamtlichen Engagement seiner Mitglieder lebe. Marion Eimuth weiß als Pfarrerin im Schuldienst wie wichtig die Informations- und Aufklärungsarbeit ist.

Evangelisches Frankfurt Februar 2012

 

Kirche 2030: Weiblich, kommunikativ und fromm

Kirche 2030: Weiblich, kommunikativ und fromm

Die Prognose ist einfach: Die Zahl der Kirchenmitglieder wird in den kommenden Jahren massiv zurückgehen. Vor allem die Demographie sorgt dafür – es sterben mehr Evangelische, als getauft werden. Sicher wird es in Frankfurt nicht soweit kommen wie in Mitteldeutschland, wo auf 208 Gemeindemitglieder ein Kirchengebäude kommt. Aber man wird sich strategisch etwas überlegen müssen.

Ilse Junkermann, Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, rät ihren Gemeinden: „Kommt zusammen, betet, singt und überlegt, wo ihr in der Welt helfen könnt“. Ob das reicht für die Zukunftsfähigkeit von Kirche? Man möchte ja und nein sagen.

Ein Symposium der Akademie der Bruderhilfe „Religion 2030“ in Erfurt suchte Antworten, und warf doch mehr Fragen auf.  Es lassen sich ein paar Entwicklungen und Hoffnungen herausfiltern. Unstrittig ist, dass der Pfarrberuf „weiblicher“ wird. Vor allem Frauen studieren heute Theologie, ihr Anteil wird daher noch deutlich größer werden als das derzeitige Drittel. Der Münchner Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf stellte hier ein Auseinanderdriften der beiden großen Kirchen fest – denn das größte Problem der katholischen Kirche, bei der das Amt nur von Männern ausgeübt werden darf, ist der Mangel an Priestern.

Ein zentrales Problem beider Kirchen ist, dass sie ihre Botschaft nicht mehr vermitteln können, und zwar nicht einmal ihren eigenen Mitgliedern. Dies hat kürzlich erst wieder die Studie „Was glauben die Hessen“ von Michael Ebertz belegt, der von einer „Gottesvermittlungskrise“ spricht.

Ein Schwerpunkt einer künftigen Stadtkirche wird daher die Kommunikation sein müssen. Wenn es nach Bruder Paulus Terwitte geht, werden in Frankfurt zentral gesteuerte elektronische Schaukästen informieren und einladen. Die Kirche wird über ein Callcenter 24 Stunden erreichbar sein, und natürlich bekommt jedes Kirchenmitglied eine „Kundenzeitschrift“. „Warum soll ich als Kirchensteuerzahler schlechter gestellt sein als jedes ADAC-Mitglied?“ fragte der Frankfurter Kapuzinermönch.

Für die Kommunikation innerhalb der Theologie gibt es keine Patentrezepte. Der Theologe Graf sieht einen „Aderlass“. So würden siebzig Prozent der in München mit „Summa cum laude“ Promovierten nicht in den kirchlichen Dienst gehen. Die besten Köpfe gehen anderswo hin, weil für sie die Kirche kein attraktiver Arbeitgeber sei. „Lieber Taxifahrer als bayerische Landeskirche“, zitierte er das Fazit eines Doktoranden. Noch nicht einmal einen nationalen Stellenmarkt gibt es für Theologinnen und Theologen.

Sicher wird im Jahr 2030 der Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen noch bedeutsamer sein als er heute schon ist. Es bedarf, so Graf, „einer neuen Form von Apologetik“, also der „Verteidigung“ und Erläuterung christlicher Glaubensinhalte. 2030 werden in den Gemeinden nur noch wenige Hauptamtliche tätig sein. Diese würden, so Graf, dann nicht verwalten, sondern „die Kommunikation mit dem Evangelium ausführen“. Also Gottesdienste feiern und durchaus auch kontroverse Gespräche mit und über andere Religionen und Weltanschauungen führen. Die sozialen Dienste der Kirche und die Diakonie hingegen werden sich in Zukunft wohl selbst refinanzieren müssen.

Dem Fazit „Schließlich geht es darum, wie wir unserem Auftrag gerecht werden und nicht wie wir uns selbst erhalten“ von Bischöfin Junkermann kann man nur zustimmen. Doch beides schließt sich ja nicht aus.

Kurt-Helmuth Eimuth

Evangelisches Frankfurt Februar 2012 (via facebook)

Der späte Aufstand der Millionäre

Der späte Aufstand der Millionäre

Kurt-Helmuth Eimuth ist Leiter der Redaktion von „Evangelisches Frankfurt“. Foto: Rolf Oeser 

Der Protest gegen die neue Startbahn gewinnt an Fahrt. Jetzt, da die Flieger auch über die Nobelvillen auf dem Lerchesberg einschweben, gibt es ungewöhnliche Allianzen. Da protestieren die, die schon immer dagegen waren, plötzlich neben denen, die den Wert ihrer Immobilien im Sinkflug sehen. Um dreißig Prozent seien die Immobilienpreise im Süden Frankfurts gefallen, sagen Makler.

Der Protest der Millionäre zeigt Wirkung. Plötzlich erklärt der hessische Wirtschaftsminister Dieter Posch, er möchte ein dauerhaftes Nachtflugverbot, wenn das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mitzieht. Als sei es nicht eben diese Landesregierung gewesen, die die Nachtflüge zunächst genehmigt hatte. Erst der Hessische Verwaltungsgerichtshof stoppte den mitternächtlichen Lärm. Auch der Innenminister und Frankfurter OB-Kandidat Boris Rhein vertritt plötzlich eine neue Regierungslinie. Obgleich die Regierungspartei den Ausbau vorantrieb.

Zu Recht beklagt die Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, dass das unter anderem vom damaligen Umweltpfarrer Kurt Oeser erarbeitete Mediationspaket vom Flughafenbetreiber und der Hessischen Landesregierung nicht eingehalten worden ist. Es sei „ein aus damaliger Sicht tragbarer Kompromiss“ gewesen. Das Kirchenparlament tritt für ein striktes Flugverbot von 22 Uhr bis 6 Uhr ein und fordert, den Lärmschutz der Bevölkerung besser gesetzlich zu verankern. Einrichtungen für Kinder oder alte Menschen und Krankenhäuser bräuchten spezielle Lärmschutzmaßnahmen. Zudem fordert die Synode die Einführung einer ökologischen Kerosinsteuer und eine Flugverkehrsabgabe auf europäischer Ebene.

Das sind Forderungen und Notwendigkeiten, denen man nur zustimmen kann. Doch das alles wusste man schon vor gut einem Jahrzehnt. Warum, so fragt man sich, kommt der Aufstand erst jetzt? Die Antwort ist leider einfach: Es liegt an der menschlichen Schwäche, sich erst dann zu regen, wenn die Auswirkungen zu spüren sind. Erst wenn die Bagger anrücken, ist das Erstaunen groß. So war es auch bei Stuttgart 21.

Wir alle sind aufgerufen, uns auch mit Planungen auseinanderzusetzen, deren Auswirkungen womöglich erst die Generationen nach uns ausbaden müssen. Da fallen einem Stichworte wie Finanzkrise, Staatsverschuldung oder Generationenvertrag ein. Oder ist uns das Hemd wirklich näher als der Rock?

Kurt-Helmuth Eimuth

Evangelisches Frankfurt Februar 2012

Gott und Engel fast gleichauf

Kontroverse Stimmen zur Studie „Was glauben die Hessen?“
Evangelisches Franfurt, Februar 2012

Zur tausendsten Sendung des Fernsehmagazins „Horizonte“ spendierte der Hessische Rundfunk eine religionssoziologische Studie zum Thema „Was glauben die Hessen?“ Die Ergebnisse werden kontrovers diskutiert. Während die Kirchen gelassen feststellen, dass die Studie keine neuen Erkenntnisse bringe, sprechen andere vom Bröckeln des religiösen Sockels und beschwören den Niedergang der Kirchen oder zumindest des Glaubens.

Auf jeden Fall ist Hessen noch immer überwiegend christlich geprägt: Von den sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Bundeslandes gehören 40 Prozent der evangelischen und 25 Prozent der katholischen Kirche an, weitere 3 Prozent sind Mitglieder anderer christlicher Gemeinden. 20 Prozent gehören keiner Religion und 5 Prozent dem Islam an.

Nach wie vor haben die Kirchen auch einen großen Vertrauensbonus. 76 Prozent der Hessen finden es gut, dass es die Kirchen als Institutionen gibt, sei es als „kulturelle Anreger“ oder als Arbeitgeber. Allerdings werden die Kirchen weniger als sinnstiftend wahrgenommen: 80 Prozent der Befragten glauben, dass das Leben „nur dann einen Sinn hat, wenn man ihm selber einen Sinn gibt“. Sie glauben etwa an Wunder (70 Prozent), an Engel (40 Prozent) und teilweise auch daran, dass Menschen Gedanken lesen können (37 Prozent). Hingegen glauben nur 49 Prozent der Befragten an einen Gott als Person.

Für den Leiter der Studie, Michael Ebertz, ist der Befund eindeutig. Die Kirchen hätten nach wie vor starken Rückhalt in der Bevölkerung, aber in Sachen Religion wolle jeder „sein eigener Chef“ sein. Diese Tendenz ist aber keineswegs neu, sondern eine Folge des modernen Ideals der Selbstbestimmung. Man wächst heute nicht mehr einfach in einem bestimmten Milieu auf, sondern muss begründen können, warum man Protestant und nicht Hindu oder Muslim ist. Der Pressesprecher der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Stephan Krebs, wies darauf hin, dass früher die Menschen auch nicht glaubensfester gewesen seien. „Vielmehr war die Mitgliedschaft in der Kirche weitgehend vorgeschrieben oder zumindest durch sozialen Druck sicher gestellt.“

Es gibt aber durchaus zu denken, dass auch viele Kirchenmitglieder wichtige christliche Lehrmeinungen nicht teilen, etwa die zentrale Bedeutung von Jesus Christus. Hier muss die Kirche eine Sprache finden, die wenigstens für ihre eigenen Mitglieder verständlich ist.

Kurt-Helmuth Eimuth