Archiv für 28. September 2020

Die klassische Gemeinde ist ein Auslaufmodell

Eine Kirche in jedem Dorf? Vielleicht nicht mehr lange. Hier ein Blick auf die Jakobskirche in Frankfurt-Bockenheim. Foto: Rui Camilo

Die klassische Kirchengemeinde wird es vielleicht bald nicht mehr geben. Ein Zukunftspapier in elf Leitsätzen schlägt stattdessen mobile, NGO-artige Strukturen vor.

„Wie kommen wir aus der Defensive des Rückzugs, des Lockdowns, der sozialen Distanzierung heraus in die Offensive einer verantwortlichen und zugleich zuversichtlich gestaltenden Perspektive kirchlicher Gemeinschaft?“ Diese Frage aus einem aktuellen Zukunftspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland bewegt gerade die Gemüter.

Mancher Vorschlag aus den „elf Leitsätzen“ der EKD könnte auch in der Expertise einer Unternehmensberatung stehen: Konzentration auf das Kerngeschäft (Gottesdienst und Kasualien wie Taufe oder Beerdigung), Kundenwünsche ernst nehmen (Gottesdienste zu unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlicher Prägung), Kundenbindung erhalten (temporäre Absenkung der Kirchensteuer), neue Kundenkreise erschließen (Kooperationen).

Vieles daran ist richtig und schon lange überfällig, zum Beispiel die geforderte Entbürokratisierung und das Entschlacken der Gremienarbeit. Die institutionelle Gestalt der Kirche soll eine Mischung aus Institution, Organisation und Bewegung werden. Neben den Ortsgemeinden sollen andere Formen von Kirche an Bedeutung gewinnen, so eine Art Bewegung „zu schnellem, flexiblem, NGO-ähnlichem Vorgehen“.

Das bedeutet aber eine radikale Abkehr von der heutigen, an den Wohnort gebundenen Zuordnung zu einer Kirchengemeinde, Parochie genannt. „Parochiale Strukturen werden sich wandeln weg von flächendeckendem Handeln hin zu einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergänzung.“ Das Gottesdienstangebot soll kleiner und vielfältiger werden, eine Tendenz, die in Frankfurt und Offenbach bereits sichtbar wird.

„Die ‚Kirche im Dorf‘ und die Gemeinde im städtischen ‚Quartier‘ werden sich wandeln. Parochiale Strukturen werden ihre dominierende Stellung als kirchliches Organisationsprinzip verlieren.“ In Hessen-Nassau denkt man ebenfalls in diese Richtung: „In Zukunft sind Ortsgemeinden – darin durchaus den Gemeinden in der frühen Christenheit vergleichbar – stärker als bisher in regionalen Netzen miteinander verbunden.“

Der eine Pfarrer, die Pfarrerin vor Ort, die für alles zuständig sind, sind passé. Für die Vermittlung von religiösem Glauben braucht es allerdings persönliche Begegnung und Bindung. Und der Glaube an Gott unterscheidet schließlich die Kirche von humanistischen Initiativen und NGOs.

Es ist gerade eine Stärke der Kirche, dass sie noch in den Stadtteilen präsent ist, also dort, wo sich Metzger und Sparkasse längst zurückgezogen haben. Trotz des Sparzwangs muss es gelingen, einen Spagat aus „Vereinskirche“ und moderner Bewegung hinzubekommen. Denn weder darf die Kirche eine profillose Institution werden noch eine sektenhafte Glaubensgemeinschaft.

Kurt-Helmuth Eimuth

Die elf Leitsätze der EKD im Internet.

„Es wird nie wieder normal“

Propst Oliver Albrecht. Foto: Rolf Oeser

Vor einem Jahr starb ein Achtjähriger am Frankfurter Hauptbahnhof, weil er vor einen Zug gestoßen wurde. Was kann der christliche Glaube in so einer Situation beitragen? Fragen an Propst Oliver Albrecht, der die Angehörigen begleitet hat.

err Albrecht, wir alle erinnern uns noch an das Unglück im Frankfurter Hauptbahnhof vor einem Jahr, bei dem ein Achtjähriger starb. Kann es bei solchen Schicksalsschlägen Trost für die Hinterbliebenen geben?

Trost gerät schnell zu Vertröstung. Denn es gibt Dinge, die sind so schrecklich, dass sie keiner auch nur ahnungsweise verstehen kann, der sie nicht selbst erlebt hat. Trost nach christlichem Verständnis heißt deshalb nicht: viele Worte machen, im Gegenteil. Die Tröster in der Bibel sind einfach da, hören zu, laufen nicht weg. Und ganz wichtig: Wir sollen das mit langem Atem tun. Für den, der Schreckliches erlebt hat, wird das Leben nie wieder normal. Dann ist es verletzend, wenn die anderen wieder „zur Tagesordnung“ übergehen. Am Anfang ist die Aufmerksamkeit fast zu groß. Es ist aber enorm wichtig, einen langen Weg mitzugehen.

Der Täter ist vom Gericht als nicht schuldfähig eingestuft worden. Er muss dauerhaft in die Psychiatrie. Hat er nicht Schuld auf sich geladen?

Der Täter hat Schuld auf sich geladen, das Gericht hat aber geurteilt, dass er aufgrund seiner Erkrankung nicht fähig ist, dies zu erkennen. Schuldunfähig heißt eben gerade nicht unschuldig! Die dauerhafte (!) Unterbringung in einer Klinik kann vielleicht die Chance bringen, an den Kern des Problems, eben diese Krankheit, zu gelangen. 15 Jahre in einer Justizvollzugsanstalt hätten diese Chance nicht gebracht. Manche sagen: Schuldunfähigkeit, das klingt nach einer Ausrede. Aber das Gegenteil ist richtig; dieses Urteil ist die klarere und konsequentere Lösung.

Christlicher Glaube verlangt Vergebung, und doch wollen wir, dass eine Tat gesühnt wird. Wie passt das zusammen?

Es wird uns nicht gelingen, die Verletzungen und die unfassbaren Verluste, die wir erleiden, irgendwie wieder gut zu machen. Auch keine Sühne und Strafe kann das bringen. Manchmal bindet und fixiert uns das nur noch mehr an den Schrecken der Tat. Wir kommen nicht davon los. Das tut uns nicht gut. Ein christlicher Gedanke, der helfen kann, ist: Wir geben den Täter in Gottes Hände, wir lassen ihn gehen aus unserem Leben. Gottes Gerechtigkeit übersteigt unsere Möglichkeiten in jeder Hinsicht. Gott vergisst niemals das Leid und die Tränen der Opfer. Es passiert ja unvorstellbar Grausames auf dieser Erde, das kommt hier nie vor ein Gericht. Das Jüngste Gericht ist für mich persönlich der stärkste Grund, an Gott zu glauben. Gott sieht aber auch noch einmal den Täter anders. Gott ist auch bei seiner Familie, unvorstellbar, wie es denen gerade geht. Und Gott ist bei dem Täter. Das übersteigt unsere Vorstellung, aber bei Gott ist er gut aufgehoben.

Das Gespräch führte Kurt-Helmuth Eimuth