Archiv für 20. Januar 1997

Was bedeutet Solidarität

Pfarrerin Marion Eimuth

Andacht, 20. 1. 1997

Orgelvorspiel

Lied: EG 72, 1-6

Psalm 92, Nr. 737

Ansprache:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Dieses Jahr findet der Kirchentag in Leipzig statt. Er steht unter dem Motto: „Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben“.

Ich selbst bin bei der Vorbereitung im Markt der Möglichkeiten mit der Bundesvereinigung Kindertagesstätten. Wir haben gemerkt, daß das Thema eine Herausforderung für uns ist. Was ist gerecht oder ungerecht? Ist es gerecht, daß Menschen die einen Arbeitsplatz haben sich krank schuften oder andere krank werden, weil sie keinen Arbeitsplatz haben und sich überflüssig fühlen?

So ist in dem Vorbereitungsheft zum Kirchentag zu lesen, daß Leben nur gelingen und weitergehen kann, „wenn es gerecht zugeht in unseren Familien, in unserem Land, in Europa und in der Welt… Unsere kleine Gerechtigkeit ist der menschenmögliche Versuch, Gottes Gerechtigkeit zu entsprechen“. Leben behält seinen Sinn und Wert, wenn es sich auf die Gerechtigkeit Gottes verläßt.

Hierzu sind für jeden Tag Bibeltexte ausgesucht die dies unterstreichen sollen. Einen mögchte ich mit Ihnen heute morgen lesen: Es sind die Arbeiter im Weinberg im Matthäusevangelium, im 20. Kapitel, die Verse 1-16:

Text

Jesus erzählt eine Geschichte aus dem Leben. Ein alltäglicher Vorgang wird beschrieben, nämlich, daß ein Weinbergbesitzer auf dem Markt Tagelöhner mietet. Die Arbeitssuchenden warten dort auf Aufträge. Der Weinbergbesitzer geht selbst auf die Suche nach Arbeitern. Daraus läßt sich schließen, daß er keiner von den Großgrundbesitzern ist. Die lassen solche Arbeiten durch Verwaltungssklaven ausführen und von der Weinernte selbst merken sie nicht viel.

Auf dem Marktplatz warten genügend Tagelöhner. Selbst in der Erntezeit scheint Arbeitslosigkeit bei Landarbeitern die Regel zu sein.

Fünf Gruppen von Arbeitern werden zu unterschiedlichen Stunden gemietet.

Mit der ersten Gruppe wird ein Tagelohn vereinbart. „Sie stimmen dem Preis und der Arbeitszeit zu und werden dann an die Arbeit geschickt.

Mit den vier weiteren Gruppen wird jedoch so keine vollständige Vereinbarung getroffen. – Die Lohnhöhe bleibt offen: „was recht ist will ich euch geben“.

Die Position der Arbeitslosen ist offensichtlich so schwach, daß sie ohne klare Lohnvereinbarung an die Arbeit gehen und in Kauf nehmen, von dem Weinbergbesitzer auch unter ihren Erwartungen entlohnt zu werden. Bei der letzten Gruppe, die um die 11. Stunde gemietet werden, ist überhaupt nicht mehr von Lohn die Rede.

Der Arbeitstag dauert von Sonnenaufgang bis vor Sonnenuntergang. Es sind z.Zt. der Traubenernte im August/September etwa 12-13 Stunden. Die Arbeiter der 11. Stunde haben vermutlich nur noch eine gute Stunde gearbeitet.

Das Wesentliche in dieser Erzählung ist die Auseinandersetzung um den Lohn, die an den beiden extremen Gruppen demonstriert wird.

Die Lohnauszahlung ist am Abend. Sie dürfte bei Tagelöhnern die Regel gewesen sein, es sei denn, der Arbeitgeber versucht, die Tagelöhner um ihren Lohn zu betrügen.

Die Lohnhöhe für die letzte Gruppe ist absolut ungewöhnlich. Deshalb erwartet die erste Gruppe bei einem so güten Arbeitsherrn einen wesentlich höheren Lohn als den vereinbarten.

Eine Geschichte wird erzählt, die in allen Einzelheiten so hätte passieren könne, nur die Güte des Arbeitgebers ist ungewöhnlich. Die Auseinandersetzung darüber ist der Punkt, auf den das Gleichnis hinaus will.

Das Verhalten des Arbeitgebers bei der Löhnung steht in scharfem Kontrast zur Realität. Das Gegenteil hätte man erwartet. Normale Arbeitgeber nehmen gerade jede Gelegenheit wahr, den Lohn zu drücken.

Das Gleichnis will von der Güte Gottes reden und vom Verhalten von Menschen untereinander, das im Zusammenhang mit der Güte Gottes steht.

Die murrende Gruppe der ersten haben mehr als die letzten geleistet. Nicht ihr Wunsch nach Lohngerechtigkeit als solcher setzt sie ins Unrecht, sondern die Art, wie sie mit diesem Wunsch umgehen.

Sie machen ihren Wunsch nach Lohngerechtigkeit zur Waffe gegen andere. Sie sind neidisch.

Kritisiert werden hier nicht abstrakt Lohndenken oder Lohngerechtigkeitsforderungen, sondern unbarmherziges, unsolidarisches Verhalten.

Verhandelt wird in diesem Gleichnis nicht das Lohndenken, sondern die Benutzung des Gerechtigkeitsempfindens, als Waffe gegen andere Menschen.

Das Gleichnis hat kein negatives, sondern ein positives Ziel: Es will Solidarität lehren. Es wirbt um die Solidarität von Menschen, die die gemeinsame Gottesvorstellung vom barmherzigen Gott haben. Bei all den derzeitigen Verteilungskämpfen in unserem Land will uns dieses Gleichnis die Augen für diesen Maßstab öffnen. Was kann Solidarität mit vier Millionen Arbeitslosen heißen?

Was bedeutet Solidarität der jungen mit der älteren Generation angesichts leerer Rentenkassen?

Was heißt Solidarität mit der sogenannten 3. Welt angesichts der Globalisierungsdebatte?

Die Liste kann täglich erweitert werden. Antworten auf diese Fragen habe auch ich nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen: Aber es lohnt sich sicher bei mancher Narichtensendung innezuhalten und den Maßstab des Gleichnisses vom Weinberg anzulegen. Amen

Gebet:

Mein Gott, es fällt uns nicht leicht, heute wieder anzufangen. Es war schön, das Wochenende über frei zu haben. Dafür danken wir. Jetzt aber beginnt wieder der Alltag. Wir bitten dich, Gott, für unser gemeinsames Leben und Arbeiten: Gib uns Kraft und Ruhe. Hilf uns zu unterscheiden zwischen dem, was wichtig und dem, was unwichtig ist. Im Vertrauen auf dich wollen wir die Woche beginnen. Bleibe bei uns. Amen.

Lied: 171 1-4

Segen: Herr, wir bitten dich: Segne uns. Halte deine schützenden Hände über uns und gib uns deinen Frieden. Amen.