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Nicht nur Sänger und Songwriter

Er ist eine Ikone der Flower-Power-Zeit und wurde nochmals als Achtzigjähriger in diesem Jahrzehnt populär. Leonard Cohen (1934 -2016) war weit mehr als ein Sänger und Songwriter. Er schrieb Gedichte und Romane, aber vor allem war er ein religiös Suchender. Die Tiefe im Schaffen des Künstlers beleuchtet Uwe Birnstein in seinem neuen Sachbuch“‘Hallelujah‘ Leonard Cohen!“ Dem Autor gelingt es mit viel Empathie den Leser und die Leserin mitzunehmen auf die Reise durch ein Leben, das so viele Facetten hatte, wie man es kaum für möglich hält. Stets nah an den Quellen. Man hat das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein.

Nein, der Autor will keine Biografie vorlegen. Und tut es auch nicht. Er will ermutigen, sich auf den Weg zu machen, den eigenen Horizont zu weiten, auf andere Zuzugehen, ganz ohne Ängste, Vorschriften und Scheuklappen, ganz so wie es Cohen getan hat.

Cohen ist und bleibt dabei verwurzelt in seinem jüdischen Glauben. Geprägt von Kindheit an, „nicht fanatisch, aber traditionell religiös“. Und eng verbunden mit seinem Großvater, einem Rabbi. Und Bücher gibt es im Hause Cohen. Literatur wird zu einem seiner Hobbys. Aus der gut bürgerlichen Welt Kanadas bricht er auf und landet auf der griechischen Insel Hydra. Dort begegnet er Marianne. Ja, die gibt es wirklich. Nach einer gemeinsamen Zeit sagte er ihr „so long Marianne“, und flog nach New York. Dort spielt er Judy Collins „Suzanne“ vor. Collins ist begeistert, nimmt den Song auf und er wird zum Welthit. Cohen selbst will nicht auftreten. Er könne nicht singen und auch nicht Gitarre spielen. Auf einem Festival treten sie dann gemeinsam auf. Jetzt erst fasst Cohen Zutrauen „in die geradezu magische Wirkung seiner Stimme“ (Birnstein).

Es folgen Jahre im „Drogen- und Frauenrausch“. Später bedauert er seine oberflächlichen Frauengeschichten. Mit Marianne bleibt er in Verbindung. Und noch eine Erkenntnis bricht sich Bahn: Die Drogen katalpultieren ihn zwar in tranzendente Welten, aber sie führen ihn nicht ans Ziel seiner spirituellen Suche.

Cohen sagt von sich selbst, er sei „geboren im Herzen der Bibel“. Er kennt die Geschichten, die die Bibel erzählt, von den Sorgen und Ängsten, von Liebe und Hass, von Rachegelüsten und Mitgefühl, von Sehnsüchten und Enttäuschungen. „Die biblischen Geschichten und Gedanken bringen Inspiration für das eigene Nachdenken“, so Birnstein. In zahlreichen Texten greift er zurück auf biblische Motive. Etwa im Song „Born in Chains“: Dort heißt es: „Ich wurde in Ketten geboren, doch aus Ägypten verstoßen“. Anklänge biblischer Überlieferung finden sich in zahlreichen Liedern. Etwa wenn er in „Democracy“ von der Sehnsucht nach echter Demokratie singt „Zurzeit würden die Frauen vor den ‚Brunnen der Enttäuschung‘ auf Knien beten ‘um die Gnade Gottes in dieser Wüste‘“ Das gelobte Land steht hier für die wahrhafte Demokratie. Gelegentlich überzieht Cohen mit „seiner bisweilen kruden Fantasie und depressiven Weltsicht.“ Etwa wenn er eigene sexuelle Erlebnisse mit biblischen Assoziationen vermengt.

Birnstein bezeichnet David als biblischen Seelenbruder Cohens. David lebte als Freischärler und Frauenheld und wurde schließlich zum König Israels gekrönt. Die Geschichte des Ehebruchs mit Batseba hat Cohen in seinem Welthit „Hallelujah“ verarbeitet. In der ersten Strophe will der Musiker König David Gott mit einem geheimen Akkord gnädig stimmen. Und es folgt fast litaneiartig das Gotteslob „Hallelujah“. In der zweiten Strophe spricht Cohen eine Person an. „Dein Glaube war stark, aber du brauchtest Beweise“, heißt es „du sahst das Mondlicht auf dem Dach, ihre Schönheit und das Mondlicht haben dich überwältigt.“ Hier spielt Cohen darauf an, dass König David Batseba beim Baden zusah. Doch plötzlich wechselt die Szene und die Schöne bindet den verliebten König an den Küchenstuhl und schneidet seine Haare ab. Ein Motiv, dass an Simson erinnert, der Liebestrunken seiner Geliebten Delila das Geheimnis seiner Macht verrät, das in seinen Haaren wurzelt. Sie schneidet ihm die Locken ab.

Die Gebrochenheit des Lebens drückt sich auch in seinem Hallelujah aus. Cohen kommentiert es so: „Der Song erklärt, dass es mehrere Formen des Hallelujah gibt und dass alle perfekten und gebrochenen Hallelujahs dieselbe Wertigkeit haben.“

Cohen treibt aber das Thema noch weiter. Er verbindet Religion und Sexualität. „Denk dran, als ich mich in dir bewegte, da bewegte sich mit uns der Heilige Geist. Und jeder unserer Atemzüge war ein Hallelujah.“ Birnstein folgert: „Körperliche Vereinigung sei – oder sollte es sein- auch eine spirituelle Angelegenheit.“

Der Song wird zu einem der meistgecoverten Songs der Popgeschichte, leider oft verkitscht oder gar missbraucht, etwa im Einsatz für Donald Trump. Dabei ist das Lied ein Plädoyer für Demut und wendet sich gegen jede Form von Triumphalismus.

Die spirituelle Suche Cohens geht weiter. Er ist zwar berühmt und begehrt, fällt aber immer wieder in tiefe Depressionen. Selbst den Psychokult Scientology probiert er kurz aus. Doch er erkennt die Banalität dieses Systems schnell. 1969 begegnet er dem buddhistischen Zen-Meister Roshi. Cohen verbringt viel Zeit im buddhistischen Kloster. Roshi begleitet ihn sogar auf Tourneen. Doch der jüdische Glaube bleibt trotz aller Suchbewegungen weiterhin die religiöse Wurzel Cohens. 1993 zieht es ihn ganz ins Kloster. Er braucht Struktur. 1996 wird er zum Mönch ordiniert. Er blieb bis 1999 im Kloster.

In zahlreichen Werken setzt er sich auch mit Jesus auseinander. Auch ganz privat ist Cohen offen. Er schreibt an einem Weihnachtstag in sein Notizbuch: „Ich habe zu dem gebetet, um den es geht“. Erst seine tiefe Verwurzelung im Judentum macht dies möglich.

Cohen geht in den 2000er Jahren wieder auf Welt-Tournee. Seine Depressionen sind überstanden und die Notwendigkeit liegt auf der Hand. Während seines Klosteraufenthalts hat seine Vertraute und Managerin mehrere Millionen veruntreut. Seine letzte CD „You want it darker“ ist ein inniges, haderndes Gebet zu Gott. „Als würde die Sonne ihre Strahlen verlieren / und wir in endloser Nacht vegetieren / und es gäbe nichts mehr zu fühlen: / Genauso würde mir die Welt erscheinen, / gäbe es deine Liebe nicht.“ Cohen setzt sich mit dem Tod auseinander. Gerde hat er die Nachricht vom unheilbaren Blutkrebs von Marianne erhalten. Er schreibt ihr: „Liebste Marianne, ich bin ein kleines Stückchen hinter dir, nah genug, um deine Hand zu nehmen. Mein alter Körper hat aufgegeben, ganz so, wie es deiner getan hat, und es kann nur noch Tage dauern, bis der Räumungsbescheid abgeschickt wird. Ich habe deine Liebe und deine Schönheit nie vergessen.“

Uwe Birnstein hat uns für die Hintergründigkeit, für die Vielschichtigkeit und Gebrochenheit Leonhard Cohens die Augen geöffnet. Informativ, fesselnd, bewegend.

Kurt-Helmuth Eimuth

Uwe Birnstein, „Hallelujah“, Leomhard Cohen!132 S. Verlag Neue Stadt, 16.-

Unternehmen auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichten

Kinderarbeit auf Zuckerrohrfeldern auf den Philippinen: Fast jedes zehnte Kind im Alter zwischen fünf und 17 Jahren arbeitet für seinen Lebensunterhalt. Foto: Brot für die Welt

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau ist der Initiative für ein Lieferkettengesetz beigetreten, das dabei helfen soll, Kinderarbeit zu verhindern. Deutsche Unternehmen müssten dann dafür sorgen, dass auch ihre Zulieferer aus anderen Ländern die Menschenrechte einhalten.

Kinderarbeit ist hierzulande kaum vorstellbar. Und doch arbeiten weltweit 152 Millionen Kinder für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien. Etwa die Hälfte von ihnen ist gerade mal fünf bis elf Jahre alt. Kinderarbeit ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte.

Zahlreiche Organisationen fordern deshalb ein Lieferkettengesetz, das diesem Missstand etwas entgegensetzt. Demnach müssten deutsche Unternehmen ab 500 Mitarbeiter:innen dafür sorgen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Zulieferer in anderen Ländern die Menschenrechte achten und Umweltzerstörung meiden. Unternehmen, die Schäden an Mensch und Umwelt in ihren Lieferketten verursachen oder in Kauf nehmen, sollten dafür auch haften. Das würde bedeuten, dass Betroffene auch in Deutschland Entschädigungen einklagen könnten.

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hat auf ihrer Synode im November beschlossen, sich der europaweiten „Initiative Lieferkettengesetz“ anzuschließen. Zudem will die Kirche stärker als bisher auf eine öko-faire Beschaffung von Materialien achten.

Die deutsche Politik ist sich in Bezug auf ein Lieferkettengesetz uneinig. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich dafür ausgesprochen, und auch Entwicklungshilfeminister Gerd Müller lässt sich auf den Internetseiten des Ministeriums so zitieren: „Die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie Kinderarbeit darf nicht Grundlage einer globalen Wirtschaft und unseres Wohlstandes sein.“

Das Wirtschaftsministerium allerdings ist gegen einen „nationalen Alleingang“. Dabei fordern inzwischen sogar schon mehr als 60 große Unternehmen ein solches Lieferkettengesetz, darunter Tchibo, Rewe, Nestle und Alfred Ritter (Ritter Sport). Sie haben ein Interesse an einer gesetzlichen Regelung, denn ansonsten befürchten Firmen, die sich an solche Standards halten, Wettbewerbsnachteile im Vergleich zu Unternehmen, die es nicht tun.

Das kirchliche Hilfswerk „Brot für die Welt“, das schon seit einigen Jahren für ein solches Gesetz kämpft, weist darauf hin, dass auch deutsche Unternehmen in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind. In Textilfabriken in Serbien und Nicaragua arbeiteten Näherinnen zu niedrigsten Löhnen und miserablen Bedingungen für europäische Modemarken. Im Jahr 2012 wurden 34 streikende Arbeiter der Marikana-Mine in Südafrika erschossen, zu deren größten Kunden bis heute der deutsche Chemiekonzern BASF zählt. Im selben Jahr starben wegen mangelnden Brandschutzes 258 Menschen in einer Zulieferfabrik des deutschen Textildiscounters KiK in Pakistan.

Doch neben solchen Gesetzen müsse auch die Ursache für Kinderarbeit bekämpft werden, nämlich die Armut: „Nur wenn die Eltern einen Weg aus der Armut finden, haben die Kinder eine Chance“, heißt es in einer Broschüre des Hilfswerks.

Kurt-Helmuth Eimuth

Frankfurter aus Afrika: Ein Buch erinnert an Jean Claude Diallo

„Jean-Claude Diallo – Ein Frankfurter aus Afrika“, 264 Seiten, erschienen im Nomen Verlag

Der Buchtitel hätte nicht besser gewählt werden können. „Ein Frankfurter aus Afrika“ zeichnet ein buntes Mosaik eines ungewöhnlichen Menschen mit einer unglaublichen Biographie; fest verwurzelt in seinem Geburtsland Guinea, wo Jean Claude Diallo in einer kurzen Phase des demokratischen Aufbruchs Minister wurde, sowie in Frankfurt, wo er als erster Schwarzafrikaner die Position eines Stadtrats und Dezernenten für Integration übernahm. Im Evangelischen Regionalverband leitete er den Fachbereich für Ökumene und Ausländerarbeit. In einem von Diallos Ehefrau Barbara Gressert-Diallo herausgegebenen Buch kommen jetzt zahlreiche Weggefährt:innen des 2008 im Alter von 60 Jahren verstorbenen Psychologen zu Wort.

Die vielen unterschiedlichen Perspektiven lassen nicht nur ein lebendiges Bild des Menschen Diallo entstehen, sie zeigen auch sein großes Netzwerk. Als Student bricht Diallo auf, um in Europa zu studieren. Doch bald wird er eingeholt von den Vorgängen in seinem Heimatland Guinea. Diktator Sékou Touré brach damals die Beziehungen zu zahlreichen westeuropäischen Ländern ab, und die Studenten mussten 1971 die BRD verlassen und sich in Rom versammeln, wie Diallos Studienfreund Ansoumane Camara berichtet. Es ist spannend nachzulesen, wie er die Zeit dort verbrachte, schließlich in der Schweiz studierte und schon damals sich eine Gruppe Guineer um ihn versammelte. Man kann sich gut vorstellen, wie die Studentenbude zum Treffpunkt wurde.

Durch Zufall hörte Jean Claude Diallo 1980 im Radio davon, dass die Evangelische Kirche in Frankfurt einen Psychologen für die Arbeit mit politisch Geflüchteten in ihrem Psychosozialen Zentrum (PSZ) suchte. So kam er nach Frankfurt und begann seine Laufbahn beim Evangelischen Regionalverband. 1984 ging er allerdings nach dem Tod von Touré, nach 15 Jahren im Exil, erst einmal zurück nach Conakry, in die Hauptstadt Guineas. Dort lernte er den neuen Staatschef Lansana Conté kennen und wurde noch im selben Jahr zum Staatssekretär, später zum Minister für Information und Kultur ernannt. Malte Rauch berichtet über ein aufregendes Filmprojekt damals mit Diallo. Nicht nur in die politische Situation wird Einblick gewährt, sondern auch in die soziale Lage eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Haus und Dienstwagen war die finanzielle Absicherung für die Familie damals nicht gesichert, wie Barbara Gressert-Diallo sich erinnert: „Unsere Bemühungen, ein ruhiges und normales Leben zu führen, wurden immer wieder durch nicht vorhersehbare Ereignisse unterbrochen.“ Mit 300 DM Ministergehalt kam man selbst in Guinea nicht weit.

Victor Pfaff beschreibt in dem Buch den Rücktritt vom Ministeramt und die fluchtartige Rückkehr nach Deutschland. Der Anwalt für Flüchtlingsfragen hatte Diallo damals in Afrika besucht. Er schreibt: „Jean Claude hatte zwei Eigenschaften in das Amt mitgebracht, die unter den gegebenen Bedingungen völlig fehl am Platze waren: Er war Gestalter und er war unbestechlich. Vor allem das Letztere erwies sich als lebensgefährlich.“ Nach beruflicher Tätigkeit in Düsseldorf übernahm Diallo bald die Leitung des PSZ in Frankfurt, später dann Leitung des Fachbereichs Ökumene und Ausländerarbeit des Evangelischen Regionalverbandes, zu dem zahlreiche Bildungs- und Therapieeinrichtungen gehörten. Seine damalige Stellvertreterin Angelika Berghofer-Sierra erinnert sich: „Er entschied nicht über die Köpfe der Mitarbeitenden hinweg. Häufig lagen vor Entscheidungen lange Diskussionsprozesse.“

Auch am Main mischte sich der Frankfurter aus Afrika politisch ein. Ab 1997 gehörte er als Stadtrat und Dezernent für Integration dem Magistrat der Stadt an. Jutta Ebeling, Bürgermeisterin und Bildungsdezernentin nennt Diallo „einen Glücksfall für die Stadt“. Und weiter: „Er war das intellektuelle wie sinnlich anschauliche Symbol für eine Politik der Multikulturalität.“

Einen tiefen Einblick in das Familienleben gewähren in dem Buch die vier Kinder. Ob Riten oder die ausgedehnten Urlaubsfahrten: Jean Claude Diallos Leben hatte viele Facetten, eben auch die des Familienvaters. Er legte Wert auf Rituale. So bat er kurz vor seinem Tod zu einem gemeinsamen Essen in intimer Runde. „Wenn man seinen christlichen Glauben kannte und seinen traditionellen Glauben kannte, wusste man: Da schwingt jetzt ein wenig Motivationstrainer kombiniert mit einer Prise Übersinnlichem mit.“

Die Offenheit für Neues zeigte sich auch in Diallos Mitgliedschaft bei den Freimaurern. Seinem Sohn David gegenüber begründete er sie so: „Weißt du, diese Treffen tun mir so gut. Einmal nur unter Männern zu sein ist etwas anderes, es ist für mich erholsam und entspannend.“

Neben diesen und weiteren Berichten von Menschen, die Diallo kannten, enthält das Buch auch Texte von Diallo selbst, die belegen, für welche Ideale er gekämpft hat. Besonders beeindruckend ist ein Beitrag mit dem Titel „Der Mann aus der Zelle 18“ über die Entwürdigung und Folterung eines politisch Verfolgten.

In dem Erinnerungsband wird die ganze Bandbreite von Diallos Leben ausgebreitet, ohne ihn zu glorifizieren. Diallo nahm die Herausforderungen des Lebens an und behielt seine Ideale fest im Blick. Dabei verbreitete er eine von Lebensfreude durchdrungene Atmosphäre. Wenn er freundlich lächelnd in seinen afrikanischen Gewändern über die Flure des Dominikanerklosters, dem Sitz des Evangelischen Regionalverbandes, schritt, spürte man etwas von seiner gewinnenden Persönlichkeit.

Für alle, die ihn kannten, wird beim Lesen dieses Buches vieles wieder in Erinnerung gerufen. Aber es ist auch lesenswert für die, die ihn nicht kannten. Denn nicht nur ein Leben wird hier lebendig, sondern auch gesellschaftliche Spannungen und Konflikte, die sich gar nicht so sehr von den heutigen unterscheiden.

Kurt-Helmuth Eimuth

Corona: Was passiert, wenn der Impfstoff kommt?

Auch wenn der Impfstoff da ist, wird es noch Monate dauern, bis die Pandemie überwunden ist. | Foto: Daniel Schludi/unsplash.com

Mehrere vielversprechende Impfstoffe gegen das Corona-Virus sind in der Produktion und machen Hoffnung darauf, dass die Pandemie nächstes Jahr abklingen könnte. Wie genau könnte das ablaufen? Darüber diskutierten Expert:innen gestern Abend in der Evangelischen Akademie.

Für eine mögliche Impfung der Bevölkerung gegen das Coronavirus sind die Gesundheitsbehörden der Kommunen zuständig. Das bedeute eine große Herausforderung, wie René Gottschalk, der Leiter des Frankfurter Gesundheitsamtes, gestern bei einem Informationsabend auf Einladung der Evangelischen Akademie und des Gesundheitskonzerns Agaplesion mitteilte. Die Veranstaltung wurde im Internet übertragen.

Voraussichtlich würden die Menschen eine Information vom Hausarzt oder der Hausärztin bekommen und müssten sich dann übers Internet anmelden, so Gottschalk. Neben Impfzentren seien auch mobile Impfeinheiten geplant, die etwa in Altenheimen gingen oder bettlägerige Menschen aufsuchten – eine Million Menschen leben in Deutschland in den 14.000 Altenheimen.

Im Frankfurter Stadtgesundheitsamt habe man einen eigenen Planungsstab eingerichtet, um die logistischen Herausforderungen zu bewältigen. „Es ist eine riesige Anstrengung und der Zeitdruck ist enorm“, sagte Gottschalk. Er gehe davon aus, dass man die Impfzentren mindestens ein halbes Jahr betreiben müsse. Dafür benötige man auch Personal: „Das wird ehrenamtlich nicht gehen.“

Es sei falsch zu glauben, dass mit der Verfügbarkeit eines Impfstoffes die Sache Corona erledigt sei. „Es wird lange dauern bis wir durchgeimpft haben“, sagte Gottschalk. Für einen effektiven Gemeinschaftsschutz, die so genannte Herdenimmunität, müssten 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Deshalb müsste ein Mund-Nasenschutz noch lange getragen werden.

„Ohne Impfung werden wir nicht wieder normal leben können“, betonte auch Sabine Wicker, die stellvertretende Vorsitzende der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut (Stiko). Die Impfstoffe seien sicher und effektiv. Die Gründe der so genannten „Impfgegner:innen“, sich nicht impfen lassen zu wollen, seien allergrößtenteils irrational, betonte auch René Gottschalk. Solche Diskussionen würden allerdings die Bevölkerung verunsichern.

Eine Impfpflicht schlossen alle auf dem Podiums jedoch aus. Zumal nach Empfehlung des Deutschen Ethikrates und der Stiko ohnehin zuerst einmal die vulnerablen Gruppen und Personen geimpft werden sollen, also besonders gefährdete Menschen, wie die Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen. Auch das sei schon viel: Fünf Millionen Menschen arbeiten in Deutschland im Gesundheitswesen, wie Sabine Wicker betone. Auch hier werde es daher zunächst Prioritäten geben: „Der Psychologe in der Reha-Klinik hat ein anderes Ansteckungsrisiko als die Schwester auf der Intensivstation.“

Die Verteilung eines Impfstoffes sei eine Frage der Gerechtigkeit und der Solidarität. Dies gelte auch für die weltweite Verteilung. Es dürfe nicht sein, dass ärmere Länder „hinten runterfallen“, warnte Gottschalk.

Kirchentag trotz Corona? Ein Pro und Contra aus der Redaktion

Kirchentage leben vom Gemeinschaftsgefühl, so wie bei diesem Gebet voriges Jahr in Dortmund. Ob das unter Pandemiebedingungen klappt, ist ungewiss. | Foto: Helfen beim Kirchentag/Flickr.com (cc-by-nc-sa)

Gerade in Krisenzeiten seien Begegnung, Dialog und Gemeinschaft wichtig. Deshalb soll der Kirchentag im Mai 2021 in Frankfurt wenn irgend möglich in Präsenz stattfinden. Zumindest ist das der derzeitige Stand der Planungen – aber die Meinungen dazu gehen auseinander.

ps, dachten viele, als die FAZ kürzlich meldete, der Ökumenische Kirchentag in Frankfurt würde abgesagt (das „voraussichtlich“ wurde nachträglich in die Überschrift eingefügt). Sie berief sich dabei auf den Frankfurter Kämmerer und Kirchendezernenten Uwe Becker, der das angedeutet habe. Allerdings widersprach das dem Präsidium des Kirchentags, das erst kurz zuvor bekannt gegeben hatte, weiter an den Planungen für das Großevent, das vom 12. bis 16. Mai 2021 in Frankfurt stattfinden soll, festzuhalten. Tatsächlich kam schon bald eine Klarstellung von der Stadt Frankfurt: Die Absage ist also erstmal wieder abgesagt, es wird doch weiter geplant.

Vieles hängt nun davon ab, ob der Kirchentag ein Hygienekonzept vorlegen kann, das den Verantwortlichen der Stadt tragfähig erscheint. Klar ist schon jetzt, dass es keine Privat- und Gemeinschaftsquartiere geben wird und dass viele Veranstaltungen im Freien und dezentral stattfinden. Und dass statt 100.000 nur maximal 30.000 Leute kommen sollen.

Doch gerade in Zeiten wie diesen, so die Argumentation der Verantwortlichen, brauche es öffentliche Räume für Diskurs und Debatte. Niemand könne zurzeit wissen, was im Mai möglich sein wird und was nicht.


Einerseits: Wie ein ungedeckter Scheck (Kurt-Helmuth Eimuth)

Ich bin ein bekennender Kirchentags-Fan. Und gerade deshalb hätte ich eine Verschiebung um ein Jahr begrüßt. Kirchentag, das ist für mich Begegnung, Gemeinschaft, Disput und einfach ein großes Treffen. Gerne denke ich an einen meiner ersten Kirchentage 1977 zurück, als wir mit zwei Bussen des Stadtjugendpfarramtes nach West-Berlin fuhren. Willkommen in der gastgebenden Gemeinde und mit einem ersten Auftritt der Band Habakuk. Auch an unsere Gastgeber des Privatquartiers 1985 in Düsseldorf erinnere ich mich gerne. Unvergessenen sind mir die überfüllten Bibelarbeiten von Luise Schottroff und Dorothee Sölle.

Wenn Kirchentag ist, dann summt und brummt eine Stadt. So wie beim letzten Frankfurter Kirchentag im Jahr 2001, als wir den Gästen mit einer umgespritzten Oldtimer-Straßenbahn, dem Kirchentagsexpress, zwischen Messegelände und Zoo eine Stadtführung per Tram boten. All das wird bei einem Kirchentag unter Pandemie-Bedingungen unmöglich sein. Man kann zwar mit 500 Personen in einer riesigen Messehalle sitzen, aber Stimmung kommt da nicht auf. Ein Kirchentag unter Pandemie-Bedingungen wäre kalt und ohne Herz.

Zudem hätte ich auch gesundheitliche Bedenken. Zwar sind Gruppenungerbringungen in Schulen jetzt offenbar nicht mehr geplant. Aber auch Veranstaltungen im Stundentakt in Kirchen dürften wegen der schlechten Lüftbarkeit vieler Gotteshäuser problematisch sein.

Warum nicht verschieben? Was Olympia kann, sollte doch für uns auch möglich sein. Die Planung für Mai 2021 zeugt zwar von Hoffnung und Zuversicht, kommt mir aber vor wie ein ungedeckter Scheck.


Andererseits: Wer, wenn nicht wir? (Antje Schrupp)

Zugegeben: Das Vorhaben ist waghalsig. Gut möglich, dass am Ende doch noch alles abgesagt werden muss. Trotzdem finde ich es gut, dass die Veranstalter des Ökumenischen Kirchentags nicht jetzt schon die Flinte ins Korn werfen. Natürlich ist es blöd, dass wir es in Europa nicht geschafft haben, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, so wie Ostasien, Australien oder Neuseeland. Aber wir können nun auch nicht dauerhaft in Schockstarre verfallen. Wir müssen mit der Situation, so wie sie nun einmal ist, leben.

Im Mai wird das Corona-Virus bereits über ein Jahr zirkulieren. Vielleicht gibt es bis dahin eine Impfung, vielleicht auch nicht. Die Entwicklung lässt sich schlicht nicht vorhersagen. Aber ob wir wollen oder nicht, faktisch wird dann eine Art „neue Normalität“ entstanden sein, mit der wir zurechtkommen müssen. Man kann gesellschaftliche Groß-Events zwar über einige Monate, aber nicht über Jahre ausfallen lassen. Ob mit oder ohne Kirchentag werden nächstes Jahr wieder publikumsstarke Veranstaltungen durchgeführt, es wird Parteitage, Sportevents, Messen und dergleichen geben.

Daher finde ich es nicht so schlecht, wenn der Ökumenische Kirchentag diesbezüglich Maßstäbe setzten kann: Dem typischen Kirchentagspublikum traue ich es nämlich noch am ehesten zu, auch zu Zehntausenden vernünftig, besonnen, mit Abstand, Maske, Lüften und Händewaschen ein solches Event durchzuziehen. Der Kirchentag könnte in Punkto Corona-kompatible Großveranstaltungen ein Vorbild werden, an dem sich dann andere messen lassen müssen.

Das Virus, die Demokratie und die Frage, mit wem man diskutieren soll

Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins

Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung sind sektenartige Ideologien und Verschwörungsmythen genauso zu finden wie Menschen mit nachvollziehbaren Ängsten und Fragen. Eine demokratische Kultur muss beides voneinander unterscheiden.

ie demonstrieren. Sie nennen sich Querdenker, was soviel heißen soll, wie gegen den Strich, den Mainstream, denken. Querdenken ist gut, eine Demokratie braucht das.

Allerdings laufen bei diesen Demonstrationen auch zahlreiche Anhänger:innen von kruden Organisationen von Reichsbürgern über Impfgegnerinnen und Qanon-Verschwörungsmythiker mit. Mit solchen versekteten Gruppen ist kein Dialog möglich. Sie radikalisieren sich zunehmend, und ein kleiner Kern ist sicher auch gewaltbereit.

Aber was ist mit jenen, die aus Ärger oder existentieller Betroffenheit die Maßnahmen nicht verstehen? Die sich fragen, warum der Frisör öffnen darf und das Nagelstudio nicht? Die Zweifel haben, ob es eine Ansteckungsgefahr in der Gastronomie gibt, wenn die Hygienemaßnahmen eingehalten werden?

Hier hilft nur Zuhören, Argumente austauschen und immer wieder Erklären: dass es um Kontaktvermeidung geht, und dass für die Menschen vielleicht ein Frisör wichtiger ist als ein Nagelstudio.

Die große gesellschaftliche Herausforderung dieser Pandemie braucht die Solidarität aller. Und gerade weil wir unterschiedlich betroffen sind, müssen wir im Gespräch bleiben, müssen diskutieren und die einzelnen Argumente ernst nehmen.

Das Virus bedroht unser Leben. Fehlende Diskussionskultur bedroht unsere Demokratie. Wir müssen gegen beides wachsam sein.

Keine Kirchensteuer ist auch keine Lösung

Torben Telder, Susanne Teichmanis, Moderatorin Andrea Seeger (von links nach rechts) und online zugeschaltet Erik Flügge diskutierten über die Kirchensteuer. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Besonders junge Menschen am Anfang ihrer Berufstätigkeit wenden sich von der Kirche ab. Aus diesem Grund luden die Evangelische Sonntagszeitung und die Evangelische Akademie Frankfurt zu einer Diskussionsrunde ein. „Die Kirchensteuer ist Austrittsgrund Nummer eins“, so die Ausgangsthese. Aber stimmt das überhaupt?

Kirche und Geld – kein einfaches Thema. Klar ist, dass mit dem anhaltenden Mitgliederschwund auch dieEinnahmen sinken werden. Voriges Jahr nahm die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau 530 Millionen Euro Kirchensteuern ein. Für dieses Jahr wird wegen Corona mit mindestens zehn Prozent weniger gerechnet. Doch der Hauptgrund für die schwieriger werdende Finanzsituation ist, dass vor allem junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren aus der Kirche austreten.

Stimmt es überhaupt, dass die Kirchensteuer für sie der Austrittsgrund Nummer eins ist? Susanne Teichmanis bezweifelt das. Sie ist Mitglied der „Zukunfts-Gruppe“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die kürzlich vielbeachtete Leitsätze zur Zukunft der Kirche erarbeitet hat. Darin werden in der Tat Spielräume für die Entlastung junger Menschen gefordert, aber die Kirchensteuer selbst nicht in Frage gestellt. „Für die Kirchensteuer spricht, dass sie gerecht ist. Außerdem ist sie Grundlage innerkirchlicher Solidarität“, stellte Teichmanis bei der Diskussion am Römerberg fest. Die Frage der Zugehörigkeit zur Kirche stelle sich nicht erst mit dem Eintritt ins Berufsleben, sondern schon viel früher. Deshalb werde eine Reduzierung der Kirchensteuer für bestimmte Altersgruppen das Problem nicht lösen. Vielmehr „benötigen wir Verfahren, wo wir miteinander ins Gespräch kommen“, so Teichmanis.

Dem stimmte auch der Publizist Erik Flügge zu, der online zur Diskussion zugeschaltet war. Eine Rabattierung macht seiner Ansicht nach keinen Sinn. Der Kirche dürfe nicht länger fragen: „Wie kriege ich die jungen Leute dazu, das Alte zu akzeptieren“? Stattdessen komme es darauf an, dass „die Gottesfrage eine öffentliche Relevanz“ bekommt. Wenn die Hälfte der evangelisch Getauften laut aktueller Shell-Jugendstudie antwortet, dass der Glaube für sie keine Rolle spielt, ist es kein Wunder, dass die Hürde zu einem Austritt für sie nicht hoch ist. Dabei leiste die Kirche enorm viel, zum Beispiel in der Seelsorge bei Trauer, Tod und Krise, so Flügge: „Die beiden Kirchen sind der große Anker der seelsorgerlichen Versorgung der Älteren.“ Dies müsse man aber auch erklären. „Wir brauchen mehr Kommunikation, mehr Direktansprache“, so Flügge. Wenn Geld vom Gehalt abgebucht werde, müsse man den Menschen auch erklären, für was das Geld verwendet wird. Derzeit hätten die Kirchen noch die Mittel für solche Kommunikations-Maßnahmen. Flügge riet den Verantwortlichen also: „Schaffen Sie nicht die Kirchensteuer ab.“

Aber kann man die Kirche nicht auch anders finanzieren? Torben Telder, Pfarrer der Wallonisch-niederländischen Gemeinde mit Sitz in Hanau, erzählte davon, wie sie es machen. Die 1100 Mitglieder werden jährlich angeschrieben mit der Bitte um eine Spende in Höhe der Kirchensteuer, also neun Prozent der Einkommenssteuer. Weil die Gemeinde diese Form der Finanzierung beibehalten will, sei sie nicht einer Großkirche beigetreten, obwohl es theologisch keine großen Differenzen gebe. Aber mit diesem Spendensystem könne man verlässlich arbeiten. Die eigene Stiftung habe über hundert Angestellte. Von großer Bedeutung sei die Beziehung der Menschen zu Pfarrerin und Pfarrer, die langen Perioden der Pfarrstellenbesetzung ermöglichen einen intensiven Kontakt zu den Familien.

Einigkeit herrschte auf dem Podium darüber, dass der Austritt aus der Kirche nur das Ende eines Entfremdungsprozesses ist. Auch Gegenmaßnahmen müssten daher früher einsetzen und nicht erst ganz am Schluss.

Kurt-Helmuth

Nachbarschaften werden in Corona-Zeiten wichtiger

Stadtdekan Achim Knecht beim diesjährigen Familienkongress, der „hybrid“ – teil in Präsenz, teils online – abgehalten wurde. Foto: Johannes Otte

Wie kommen Familien gut durch die Corona-Zeit? Dabei spielen Quartiere eine große Rolle, wie beim Frankfurter Familienkongress deutlich wurde.

Wir wussten, wir brauchen uns gegenseitig“, resümierte Sylvia Weber, Frankfurter Dezernentin für Integration und Bildung, auf dem Frankfurter Familienkongress, der seit 2007 jedes Jahr von einem gesellschaftlichen Familienbündnis veranstaltet wird, zu dem auch die evangelische Kirch gehört. Gerade mit Blick auf die Familien habe sich in den letzten Wochen gezeigt, was wirklich wichtig ist. Natürlich war es das Engagement aller, die in Sozialarbeit und im Gesundheitswesen tätig sind: Träger und Mitarbeiter*innen in den Bildungs- und Betreuungseinrichtungen hätten flexibel auf die Herausforderungen reagiert, sagte Weber. Diese Flexibilität brauche es auch künftig.

Katrin Bienge vom Wuppertal Institut, einem Think Tank für Nachhaltigkeitsforschung, sprach von einer „resilienten Post-Corona-Stadt“, die geprägt sei von größerer Nähe und Agilität. Der öffentliche Nahbereich, die Nachbarschaft, sei wichtiger geworden. Deshalb, so ihre Forderung, müssten die Quartiere gestärkt werden, ebenso die „Kreativ-Szene“, und Innenstädte müssten multifunktionell sein. Ähnliches unterstrich auch Thomas Franke vom Deutschen Institut für Urbanistik aus Berlin: „Der Nahraum hat größere Bedeutung gewonnen“, sagte er, deshalb sei die Sozialraumorientierung zu intensivieren.

Der evangelische Stadtdekan für Frankfurt und Offenbach, Achim Knecht, wies in seinem Beitrag darauf hin, dass die Mitarbeiter*innen in den rund 200 sozialen Einrichtungen in Frankfurt und Offenbach schnell und beweglich gehandelt haben. „Agilität ist eine Qualität gewesen.“ Man habe pragmatisch und mit hohem Engagement auf die jeweilige Herausforderung reagiert. Zum Beispiel hätten Jugendhäuser für die Besucher*innen, die während der Kontaktsperren kein Mittagessen mehr bekamen, Lunchpakete zusammengestellt. Der Beratungsbedarf insgesamt sei gestiegen, sagte Knecht, Rituale würden schmerzlich vermisst. An den Übergängen des Lebens brauche es Rituale wie Hochzeit, Taufe, Konfirmation. Doch sogar Kindergeburtstage konnten nur eingeschränkt gefeiert werden. „Da bricht viel Sinn weg.“

Klar wurde an diesem Tag, wie wichtig die Unterstützung von Familien in ihren Quartieren ist. Auch wenn der Personaleinsatz unter Corona-Bedingungen höher ist. Dezernentin Weber versicherte, dass der Frankfurter Magistrat sich des Problems bewusst sei und sieht, was auf Familien in diesem Herbst und Winter zukommt. Man habe Themen wie Not, Armut und Arbeitslosigkeit im Blick. „Aufgabe der Politik ist es, ein Leben mit Corona zu gestalten.“

Weitere Informationen zu dem Familienkongress und dem Frankfurter Bündnis für Familien gibt es unter www.frankfurter-buendnis-fuer-familien.de. Die Passagen des evangelischen Stadtdekans sind bei der Video-Aufzeichnung ab 1:17 zu finden..

kurt-Helmuth Eimuth

Herrnhuter Sterne leuchten seit über 120 Jahren

Claudia Reuter verkauft in ihrer Buchhandlung auch Herrnhuter Sterne. | Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

Es gibt sie in zahlreichen Farben und Größen: Herrnhuter Sterne, meist von innen beleuchtet und mit zahlreichen Zacken, im Original sind es genau 25 Zacken unterschiedlicher Länge. In Frankfurt kann man sie unter anderem in der christlichen Buchhandlung Alpha im Oeder Weg 43 kaufen.

Die typischen, inzwischen weltberühmten Sterne werden seit 1897 im Auftrag der Herrnhuter Brüdergemeine hergestellt. Herrnhut ist ein Ort in der sächsischen Oberlausitz, den Glaubensflüchtlinge aus Mähren und Böhmen Anfang des 18. Jahrhunderts gründeten, um ein neues christliches Gemeinwesen zu gründen – im Habsburger Reich wurden protestantische Gemeinden im Zuge der Gegenreformation verfolgt.

Erfunden wurde der Stern im Internat der Brüdergemeine. Der dortige Mathematiklehrer ließ die Schülerinnen und Schüler Sterne aus verschiedenen Formen bauen, um ihr geometrisches Verständnis zu fördern. Später wurden die Sterne in den Räumen des Internats aufgehängt. Fortan bastelten die Kinder jedes Jahr ihre Sterne – eine Tradition war geboren.

Der Stern symbolisiert den Stern von Bethlehem, der laut Weihnachtsgeschichte den drei Sternforschern den Weg zu Jesus wies. In vielen Kirchen hängen die Sterne in der Advents- und Weihnachtszeit, immerhin haben die größten einen Durchmesser von 130 Zentimetern. Allerdings muss man die größeren Exemplare selbst zusammenstecken.

Einfacher für den Hausgebrauch sind die kleinen, fertigen Sterne, die mit LED-Beleuchtung bestückt werden können. Inzwischen gibt es auch Winzlinge, die nur acht Zentimeter groß sind. Bis heute geschieht die Produktion immer noch im Auftrag der Brüdergemeine, die hierfür eigens ein Unternehmen gegründet hat.

Die Filialleiterin der Alpha-Buchhandlung, Claudia Reuter, erwartet, dass auch in diesem Jahr wieder über 600 Herrnhuter Sterne in ihrem Geschäft über den Tresen gehen. Es ist eine von vier Verkaufsstellen von Herrnhuter Sternen in Frankfurt und Offenbach.

Die klassische Gemeinde ist ein Auslaufmodell

Eine Kirche in jedem Dorf? Vielleicht nicht mehr lange. Hier ein Blick auf die Jakobskirche in Frankfurt-Bockenheim. Foto: Rui Camilo

Die klassische Kirchengemeinde wird es vielleicht bald nicht mehr geben. Ein Zukunftspapier in elf Leitsätzen schlägt stattdessen mobile, NGO-artige Strukturen vor.

„Wie kommen wir aus der Defensive des Rückzugs, des Lockdowns, der sozialen Distanzierung heraus in die Offensive einer verantwortlichen und zugleich zuversichtlich gestaltenden Perspektive kirchlicher Gemeinschaft?“ Diese Frage aus einem aktuellen Zukunftspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland bewegt gerade die Gemüter.

Mancher Vorschlag aus den „elf Leitsätzen“ der EKD könnte auch in der Expertise einer Unternehmensberatung stehen: Konzentration auf das Kerngeschäft (Gottesdienst und Kasualien wie Taufe oder Beerdigung), Kundenwünsche ernst nehmen (Gottesdienste zu unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlicher Prägung), Kundenbindung erhalten (temporäre Absenkung der Kirchensteuer), neue Kundenkreise erschließen (Kooperationen).

Vieles daran ist richtig und schon lange überfällig, zum Beispiel die geforderte Entbürokratisierung und das Entschlacken der Gremienarbeit. Die institutionelle Gestalt der Kirche soll eine Mischung aus Institution, Organisation und Bewegung werden. Neben den Ortsgemeinden sollen andere Formen von Kirche an Bedeutung gewinnen, so eine Art Bewegung „zu schnellem, flexiblem, NGO-ähnlichem Vorgehen“.

Das bedeutet aber eine radikale Abkehr von der heutigen, an den Wohnort gebundenen Zuordnung zu einer Kirchengemeinde, Parochie genannt. „Parochiale Strukturen werden sich wandeln weg von flächendeckendem Handeln hin zu einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergänzung.“ Das Gottesdienstangebot soll kleiner und vielfältiger werden, eine Tendenz, die in Frankfurt und Offenbach bereits sichtbar wird.

„Die ‚Kirche im Dorf‘ und die Gemeinde im städtischen ‚Quartier‘ werden sich wandeln. Parochiale Strukturen werden ihre dominierende Stellung als kirchliches Organisationsprinzip verlieren.“ In Hessen-Nassau denkt man ebenfalls in diese Richtung: „In Zukunft sind Ortsgemeinden – darin durchaus den Gemeinden in der frühen Christenheit vergleichbar – stärker als bisher in regionalen Netzen miteinander verbunden.“

Der eine Pfarrer, die Pfarrerin vor Ort, die für alles zuständig sind, sind passé. Für die Vermittlung von religiösem Glauben braucht es allerdings persönliche Begegnung und Bindung. Und der Glaube an Gott unterscheidet schließlich die Kirche von humanistischen Initiativen und NGOs.

Es ist gerade eine Stärke der Kirche, dass sie noch in den Stadtteilen präsent ist, also dort, wo sich Metzger und Sparkasse längst zurückgezogen haben. Trotz des Sparzwangs muss es gelingen, einen Spagat aus „Vereinskirche“ und moderner Bewegung hinzubekommen. Denn weder darf die Kirche eine profillose Institution werden noch eine sektenhafte Glaubensgemeinschaft.

Kurt-Helmuth Eimuth

Die elf Leitsätze der EKD im Internet.