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Anna Tardos: „Sie sind auf einem guten Weg“

Kurt-Helmuth Eimuth beim Fachtag am 16. November 2012 in der Frankfurter Heiliggeistkirche

Anna Tardos: „Sie sind auf einem guten Weg“
Fachtag
des Diakonischen Werks: Bildungs- und Lernprozesse

Über 500 Erzieherinnen kamen zum diesjährigen Fachtag des Arbeitsbereichs Kindertagesstätten des Diakonischen Werks für am Freitag, 16. November in die Heiliggeistkirche neben dem Dominikanerkloster. Sie wollten die Kinderpsychologin Anna Tardos, Budapest, hören. Tardos, Tochter der ungarisch-österreichischen Ärztin Emmi Pikler, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein revolutionäres Konzept für den Umgang mit Kleinkindern entwickelte, führt die Arbeit ihrer Mutter weiter und leitet das Budapester Pikler-Institut. Emmi Piklers Ansatz ist mittlerweile international anerkannt.

 

Das Diakonische Werk „hat sich diese grundsätzlichen Überlegungen schon sehr früh zu eigen gemacht“, sagte der Leiter des Bereiches Kindertagesstätten, Kurt-Helmuth Eimuth. Besonders mit der Eröffnung der ersten evangelischen Krabbelstube vor rund zehn Jahren seien sie „in den Fokus der Pädagogik gerückt.“ Die diakonischen U3-Einrichtungen orientieren sich inzwischen prinzipiell an Pikler: Achtsamkeit, Respekt, Vertrauen. Werte, die einen Bogen schlagen zu Religion, erläuterte Eimuth. „Für das kleine Kind sind die Eltern Gott. Sie können alles, sie machen alles.“ Grundlage für Urvertrauen. „Emmi Pikler hat uns einen Weg gezeigt, wie wir Kindern dieses Vertrauen mitgeben können. Ob beim Wickeln, Essen oder Schlafengehen, unsere Haltung zum Kind ist nicht nur pädagogisch begründet, sondern praktizierte Religionspädagogik.“ Aufwachsen ohne Religion? Kaum vorstellbar.

 

Diese „besondere Haltung“ ist es auch, die Eltern, gleich welchen weltanschaulichen Hintergrunds, von der evangelischen Kirche erwarten, so die Erfahrung der Leiterin der Krabbelstube Benjamin, Andrea Gottschalk. Ein Kamerateam und die Filmemacherin Heide Breitel haben die Einrichtung in Sachsenhausen besucht. Die Dokumentation „Schlüssel zum Leben“, die beim Fachtag vorgeführt wurde, vermittelt einen Eindruck vom Alltag und der Arbeitsweise in den Krabbelstuben. „Kommunikation ist das A und O. Wir reden unglaublich viel. Alles wird sprachlich begleitet“, erklärte Gottschalk. Freie Bewegung und freies Spielen, vorbereitete Umgebung, sehr sensibles Umgehen, Reinfühlen, Reindenken: alles wichtige Stichworte aus dem Pikler-Repertoire. „Die Bedürfnisse der Kinder werden ganz groß geschrieben.“

 

Anna Tardos war angetan von diesem Praxisbeispiel. „Meine Mutter hatte eine Vision. Das verwirklichen Sie hier in Frankfurt. Sie sind auf dem Weg.“ Emmi Piklers Schriften waren „kämpferisch“ und seien in ihrer Zeit, vor dem Zweiten Weltkrieg, als „provozierend“ empfunden worden. „Aber auch heute, 80 Jahre später, ist es noch Pionierarbeit.“ Die Gesellschaft, die Eltern forderten messbare, sichtbare Ergebnisse, sagt Tardos und stellt dagegen den programmatischen Buchtitel „Lass mir Zeit“. Man stellt das Kind nicht auf, wenn es von allein noch nicht sicher stehen kann. Man setzt es nicht hin, wenn es nicht sitzen kann. Man „bringt“ ihm das Laufen nicht „bei“. Das Kind wächst auf ohne Angst, in Frieden und Harmonie mit sich selbst und der Umwelt. Es ist die Vision von einem „neuen Typ Kind“. Das geht nur mit der entsprechenden Haltung, man möchte sagen Reife, von Eltern und Pädagogen: echtes menschliches Zusammensein, Wärme, Freude, zärtlicher Umgang und ehrliches Interesse anderen gegenüber. „In jedem Kind ist eine neue Persönlichkeit versteckt.“

 

Dann räumt Anna Tardos noch auf mit „einem der Missverständnisse, wenn man nach Pikler arbeitet“, nämlich: Kinder lernen nur aus sich selbst. Dritter Eckpfeiler neben „Begleiten“ und „Sicherheit geben“ sei die die „führende Verantwortung“. Es sei eine „Kunst“, Selbstständigkeit zu ermöglichen, die Entwicklungsstufe richtig einzuschätzen, nicht zu wenig und nicht zu viel zu erwarten. „Führende Verantwortung“ auch im sozialen Erlebnis, in der Begegnung. Das bedeutet, Grenzen setzen, in Konfliktsituationen nicht überzeugen wollen, nicht zu viel erklären, bestimmt Nein sagen, aber freundlich, nicht abwertend, liebevoll.

 

Anna Tardos fühlte sich wohl beim Diakonischen Werk in Frankfurt, in einer von Wertschätzung und Rücksichtnahme geprägten Atmosphäre. „Es ist so nett bei Ihnen“, sagte sie und prägte gleich ein neues Wort: „so piklerisch.“

Barbara Kernbach in Kita-aktuell Nov. 2012/Foto Oeser