Archiv für 10. Juli 2025

Schleswig-Holstein: Antisemitische Vorfälle mehr als verdoppelt

Die Zahlen sind alarmierend: Antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein haben sich von rund 120 im Jahr 2023 auf 588 im Jahr 2024 vervierfacht. Viele Jüdinnen und Juden trauen sich aus Angst nicht mehr, ihre Identität offen zu zeigen. Der Beauftragte für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus des Landes Schleswig-Holstein, Gerhard Ulrich, beschreibt im Podcast Conny&Kurt Antisemitismus als ein „hartes“ und „immer zunehmendes“ Problem. Er definiert Antisemitismus gemäß der von der Bundesregierung anerkannten Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) als eine Form von Hass, der sich gegen Juden richtet, weil sie Juden sind. Dieser Hass äußert sich vielfältig, von körperlichen Übergriffen, Beleidigungen und Verschwörungserzählungen bis zu konkreten Aktionen wie dem Angeben von Adressen jüdischer Mitbürger.

Ulrich differenziert zwischen „linkem“ Antisemitismus (der Israel-Kritik mit der Verantwortlichmachung von Juden für israelische Regierungsentscheidungen verbindet), „rechts außen“ (der alte Vorurteile bestätigt) und „importiertem“ Antisemitismus (der aus Ländern kommt, in denen das Existenzrecht Israels geleugnet wird).

Das Wiederaufleben uralter Vorurteile erklärt er mit der zunehmenden Komplexität der Welt und der Suche nach Sündenböcken. Insbesondere die Corona-Pandemie (mit Verschwörungsmythen wie „Weltjudentum“) und der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 haben antisemitische Vorfälle verstärkt. Jüdische Bürger in Schleswig-Holstein leiden darunter, für Israels Handlungen verantwortlich gemacht zu werden, wobei der ursprüngliche Hamas-Terror oft ausgeblendet wird. Ulrich betont, dass nicht jede Kritik am Staat Israel antisemitisch ist; eine Grenze sei jedoch überschritten, wenn Israels Existenz- oder Selbstverteidigungsrecht geleugnet oder Juden insgesamt dämonisiert werden. Die hier lebenden Juden seien nicht für die Politik Israels verantwortlich. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem geurteilt, dass Antisemitismus nicht unter Meinungsfreiheit fällt.

Als primäre Gegenmaßnahmen nennt Ulrich Bildung und Begegnung. Schulen und Kindergärten müssen Demokratiebildung und den Abbau von Vorurteilen fördern. Positive Beispiele sind die langjährige christlich-jüdische Zusammenarbeit der Kirchen und Sportverbände, die Austauschprogramme mit Israel unterhalten. Ulrich fordert verpflichtende Gedenkstättenbesuche für Schülerinnen und Schüler, um die Erinnerungsarbeit zu stärken.

Auch das Bewusstsein für gemeinsame kulturelle und religiöse Wurzeln, etwa in Sprache und Musik, soll geschärft werden. Gemeinsame Feste wie das Aufstellen eines Hanukkah-Leuchters neben dem Weihnachtsbaum können jüdisches Leben sichtbarer machen und Vorurteile abbauen. Der Kampf gegen Antisemitismus erfordert ständige Anstrengungen und viel Unterstützung.

Zur Person:

Landesbischof em. Dr. h.c. Gerhard Ulrich ist seit 2022 Schleswig-Holsteins Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus