Gottvertrauen

Pfarrerin Marion Eimuth

10.11.1996

Predigt, 1. Thess.5,1-6

Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr

Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

Immer wieder tauchen die alten quälenden Fragen auf: Wer bin ich? Woran soll ich glauben? Was ist richtig und falsch? Was soll ich tun? Woher komme ich und wohin gehe ich? Es sind die Fragen nach dem Sinn des Lebens. Die Antworten darauf werden von den Kirchen erwartet.

Antworten der gleichen Art wurden auch von Paulus erwartet, der in Thessalonich eine Gemeinde gegründet hatte und zwar schon recht früh. Nachdem Paulus in Philippi große Mißhandlungen erlitten hatte, hat er den Mut in Thessalonich die frohe Botschaft weiter zu predigen. Zur Gemeinde zählten gottesfürchtige Griechen, vor allem auch vornehme Damen der Stadt.

Paulus hatte den Thessalonichern das bevorstehende Kommen Christi verkündigt. Nun, da Paulus weitergereist ist erwarten sie die Wiederkunft Jesu noch zu ihren Lebzeiten. Aber schon einige Jahre waren vergangen und etliche Gemeindeglieder bereits gestorben.

Die Sorge der Thessalonicher mußte brieflich verhandelt werden. Sie fragen Paulus:

Wann kommt Jesus denn nun? Unsere lieben Verstorbenen haben seine Wiederkunft nicht erlebt – sind sie dann von dem Heil, das Jesus uns bringen wird, ausgeschlossen? Und werden wir ihn empfangen können, oder sind auch wir von der Seligkeit ausgeschlossen, wenn wir vorher sterben?

Auf diese Fragen anwortet Paulus:

1. Thess. 5, 1-6

Über Zeit und Stunde, Brüder und Schwestern, brauche ich euch nicht zu schreiben. Ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Heern kommt wie ein Dieb in der Nacht. Während die Menschen sagen: Friede und Sicherheit! kommt plötzlich Verderben über sie wie die Wehen über eine schwangere Frau, und es gibt kein Entrinnen. Ihr aber, Brüder und Schwestern, lebt nich im Finstern, so daß euch der Tag nicht wie ein Dieb überraschen kann. Ihr alle seid Söhne und Töchter des Lichts und Söhne und Töchter des Tages. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis. Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein.

Das Entscheidende sind nicht Zeit und Stunde.

Entscheidend ist der Glaube, zu dem ihr gekommen seid, und die Hoffnung auf Gott. Mit Liebe beantwortet er die Fragen seiner Gemeinde: Ihr seid zu dem Glauben an Christus gekommen, das ist eine Hoffnung, die über Zeiten und Stunden hinausgeht.

Ihr habt den Glauben, daß Christus gestorben und auferstanden ist. In diesem Glauben sind eure Angehörigen gestorben.

Dieser Glaube macht euch und eure verstorbenen Angehörigen unverbrüchlich zu Kindern des Lichts. Die Auferstehung Christi ist grenzenlos, sie umfaßt auch eure Toten. In diesem Glauben bleibt, lebt darin, festigt euch darin. Dann kann Jesus wiederkommen, wann er will und wie er will – ihr seid immer schon mit ihm verbunden. Bleibt auf eurem Weg.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß die Fragen der Thessalonicher uns nicht mehr betreffen. Wem macht es das Herz schwer, daß er Jesus zu seinen Lebzeiten vielleicht nicht mehr begegenen wird? Doch diese Fragen und die Antwort des Paulus beinhalten ein menschliches Grundthema, ein christliches Grundthema, das auch uns betrifft.

Da hat etwas begonnen, z.B. die Arbeit für das Reich Gottes, aber das Reich Gottes ist unendlich fern. Wir leben und arbeiten für Ziele, aus unserem Glauben heraus, auf Gottes Wort hin, aber die Erfüllung, der „Erfolg“ bleibt aus. Unsere Fragen könnten vielleicht so lauten:

Wann endlich verändert sich denn etwas hin zu Friede und Gerechtigkeit? Wann fruchtet unsere Arbeit mit den Kindern- und Jugendlichen. Wann gelingt es uns, die Ohren für die Probleme der Obdachlosen zu öffnen – anstatt wie hier in Frankfurt eine „Gefahrenabwehrverordnung“ zu erlassen.

Wann kommt Gottes Reich? Wie kann es gelingen, daraufhin zu leben angesichts ausbleibender „Erfolge“, ausbleibender Veränderungen?

Das Reich Gottes ist kaum wahrnehmbar, leben wir Christinnen und Christen wirklich in einer begründeten Hoffnung?

Gerade zur Jahrtausendwende macht sich wieder eine Angst vor dem Weltuntergang breit. Da kommen eine Vielzahl von neuen religiösen Gruppen auf, die sich dieser Endzeitstimmung bemächtigen. Versprechen das Heil und Überleben nur in ihrer jeweiligen Gruppe und nutzten die Ängste der Menschen schamlos aus.

Doch bereits Tausend Jahre zuvor gab es das auch schon einmal. Damals hat man Zeichen des nahen Endes gesammelt und das eigene Leben im Licht dieser Endzeichen gedeutet. In der damaligen Frömmigkeit drückte sich die Endzeitfurcht auch dadurch aus, daß man möglichst viele gute Werke tun wollte: Höchste Aktivität und baldige Erwartung des Jüngsten Tages schließen sich nicht aus.

„Über Zeit und Stunde brauche ich euch nicht zu schreiben“, so Paulus.

Das ist manchmal ganz schön schwer, so völlig auf sein Gottvertrauen und auf die Hoffnung verwiesen zu sein, eine Hoffnung, die nicht sieht, die unabhängig ist von „Erfolg“, von sichtbarer Erfüllung.

„Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht“. Völlig überraschend, unberechenbar.

Manchmal ist der Tag Gottes heute. Heute, wenn Mauern fallen. Heute, wenn Versöhnung gelingt. Heute, wenn ein Mensch endlich aus seiner Trauer heraustritt. Heute, wenn ein Durchbruch gelingt, plitisch, seelisch, gesundheitlich…

Heute ist Gottes Tag, wo wir hier Gottesdienst feiern, sichtbares Zeichen der Gegenwart Gottes in dieser Welt. Und wie gering auch immer unser Christsein gegenüber der Finsternis dieser Welt sein mag: es ist doch Gottes Anwesenheit in dieser Welt. Durch uns hindurch. Gott kommt, wann und wie er will. In kleinen Ereignissen, in großen Umwälzungen. In kleinen Leuten, seltener in großen Leuten. Wann Gottes Reich ganz und gar verwirklicht sein wird – da müssen wir uns dieselbe Antwort gefallen lassen wie die Thessalonicher. Ihr seid Kinder des Lichts. Bleibt auf eurem Weg. Festigt euren Glauben. Zeit und Stunde sind unwichtig. Ihr seid doch sowieso mit Gott verbunden.

Einer, der sich mit Gott auch in der Gefangenschaft im Konzentrationslager verbunden fühlte, war Dietrich Bonhoeffer.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle,

gelassen und heiter und fest

wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich,

was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das,

was ich selbst von mir weiß?

unruhig, sehnsüchtig, krank,

wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem,

als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen,

nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten,

nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür

und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde

in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken,

zum Schaffen,

matt und bereit,

von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser

und morgen ein anderer?

Bin ich beides zugleich?

Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst

ein verächtlich, wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist,

dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht

vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, du kennst mich,

Dein bin ich, O Gott!

Bonhoeffer hat diesen Text im Gefängnis und kurz vor seinem Tod geschrieben. Er ist fern von seinen Freunden und seiner Arbeit, zurückgeworfen auf die Frage Wer bin ich? Und Bonhoeffer antwortet: „Wer ich auch bin, du weißt es.“ Das ist Glaube und das ist die große Erwachsenheit diese Frage sich selber unbeantwortet zu lassen.

Und so stürzt Bonhoeffer sich im Gebet aus dieser Frage in den freien Fall: Dein bin ich, o Gott. Und er hofft, daß er nicht in eisige Abgründe fällt. Er hofft, daß sein Name aufgeschrieben ist im Buch des Lebens, auch wenn er ihn selber noch nicht kennt.

Das ist genau der Glaube, den Paulus sich wünschte. Paulus lehrt uns auch in ausweglosen Situationen Gottvertrauen zu haben. Bonhoeffer hatte es.

Amen.

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