Margot Käßmann über Geschwister in der Bibel

von Kurt-Helmuth Eimuth 12. Juli 2019

Mit ihrem neuen Buch ist Margot Käßmann ein ungewöhnlicher Blick auf die Heilige Schrift gelungen: Von Geschwisterbeziehungen auszugehen eröffnet eine Perspektive, die wir tagtäglich erleben und gerade deshalb kaum wahrnehmen.

Margot Käßmann: Geschwister der Bibel. Geschichten über Zwist und Liebe. Herder Verlag 2019, 176 Seiten, 16 Euro.
Margot Käßmann: Geschwister der Bibel. Geschichten über Zwist und Liebe. Herder Verlag 2019, 176 Seiten, 16 Euro.

Beziehungen sind für Menschen überlebensnotwendig. Freundinnen und Freunde kommen und gehen, Partner und Partnerinnen auch, und in der Regel überleben Kinder ihre Eltern. Die Beziehung, die im Verlauf des Lebens am Längsten besteht, ist die zu den Geschwistern.

„Da gibt es große Liebe zueinander und große Konkurrenz, Solidarität und Abgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Auseinandersetzung“, schreibt Margot Käßmann in ihrem Vorwort. Offenbar war dies auch schon zu biblischen Zeiten so.

Allerdings waren damals die gesellschaftlichen Umstände anders. Der Wert einer Frau wurde an der Zahl ihrer Geburten (von Jungen) gemessen, Intimsphäre kam im engen Zelt kaum auf. Käßmann erzählt die alten Geschichten spannend aus heutiger Perspektive. Zum Beispiel den Streit zwischen Jakob und Esau um das Erstgeburtsrecht. Die beiden waren Zwillinge. Was bedeutete es damals für ihre Mutter Rebekka, zwei Kinder gleichzeitig zu bekommen? Anders als heute konnte sie das ja vor der Geburt nicht wissen.

Und dann bevorzugt die Mutter einen der Brüder. Für Margot Käßmann ist das nicht nachvollziehbar: „Ein Kind zum Liebling zu erklären, wird immer den Familienfrieden stören.“ Und dann eines Tages begegnen sich die Brüder wieder. Käßmann, die selbst Mutter von Zwillingen ist, vermutet, dass die Bindung der Brüder trotz allem stark war. Sie hätten gewiss oft aneinander gedacht oder voneinander geträumt. Obgleich Jakob Esau betrogen hat, liegen sie sich in den Armen. „Was für eine wunderbare Geschichte von Versöhnung ohne viel Worte, von Versöhnung, die es in Familien nach aller Auseinandersetzung und allem Streit eben auch geben kann.“

In vielen der auf wenigen Seiten beschriebenen Geschwisterbeziehungen werden Verhältnisse deutlich, die uns zunächst fremd zu sein scheinen. Doch auf dem zweiten Blick kennen wir die Probleme auch: Leihmutterschaft, die Sehnsucht nach „eigenen“ Kindern, sexuelle Gewalt. In der Bibel werden diese Probleme häufig sehr direkt, geradezu brutal erzählt. Etwa wenn Lot seine sexuell noch unerfahrenen Töchter an einen Männermob herausgeben will. Später machen dieselben Töchter ihren Vater betrunken und bringen ihn dazu, sie zu schwängern.

Margot Kässmann ist überzeugt, dass hier in Wahrheit ein klassischer Fall von häuslicher Vergewaltigung erzählt wird. „Inzest galt auch in jenen Zeiten als Tabu. Also wird erklärt: Sie haben den armen betrunkenen Vater verführt.“ Für Käßmann ist das einzig Tröstliche an dieser furchtbaren Geschichte, dass die Schwestern nicht alleine sind. Sie haben einander, und sie hatten die Kraft, ihre Söhne groß zu ziehen.

Das Buch lässt die biblischen Familienbanden, die Verzwickungen und Verflechtungen, die Abhängigkeiten und die Zuneigungen, die Sanftheit und Brutalität biblischer Geschichten vor den Augen des Lesers und der Leserin entstehen. Es liest sich Spannend wie ein Krimi, und man bekommt Lust, mehr zu erfahren. Eine empfehlenswerte Lektüre, die einen neuen Blick auf die biblische Überlieferung eröffnet.

Margot Käßmann in der Paulskirche am 3. September 2019 Foto: Kurt-Helmuth Eimuth

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